Die Dämmerung schritt unaufhaltsam voran und jegliche Arbeiten waren eingestellt. Innerhalb der Zeltstadt flackerten Koch und Lagerfeuer im seichten Wind. Die Bewohner des Pass-Weilers feierten mit den Übrigen der Zeltstadt ausgelassen und sangen alte Lieder. Zufrieden erklärte Jarik, das die Bautrupps mit begleitenden Scharen ausgerückt und mittlerweile an ihren Zielen angekommen seien, wo sie sich einrichteten. Der ausgesandte Beritt war ebenfalls am See angelangt, ein Bote berichtete, dass sie ihr Lager aufgeschlagen und begannen, das Gelände von umherliegendem Gestein und Gestrüpp zu befreien.
»Läuft wie besprochen. Sobald die Grundarbeiten an den Gehöften erledigt sind, erfahren wir davon und können weitere Helfer ausschicken.«
Ben erhob sich von der Bank und legte seinem Freund dankend die rechte auf dessen Schulter. »Danke dir. Wir sind hier durch, und unsere Hilfe oder Anleitung wird nicht länger benötigt. Die Bewohner und Bauern des Pass-Weilers sollen von nun an eigenständig ihrem Tagwerk folgen. Für uns jedoch wird es Zeit.«
An Thanh gerichtet, mit einem Blick, der keine Widersprüche zuließ. »Ich habe mir deine Zeichnungen und Notizen angesehen und möchte, dass du daraus eine komplette Karte fertigst, ohne dass wir künftig auf mehreren zurückgreifen müssen. Und du hältst dich folglich vorerst von weiteren Patrouillen fern. Nach den groben Daten von Jarik zu urteilen, haben wir etwa die Hälfte der Mark bestreift und kartografiert. Sobald dein Werk vollendet ist, darfst du wieder mit ausreiten.«
Da keinerlei Einwände vorgebracht wurden, drehte er sich zum Zeltausgang und fügte kurz angebunden hinzu: »Macht euch reisefertig. Wir werden zur Morgendämmerung unser Lager abbrechen. Uns erwartet eine weitere Herausforderung. Ich geh und rede mit den Leuten.«
Sobald Ben außer Hörweite schien, zischte Thanh seinen angehaltenen Atem heraus und ließ seine Hände auf die Tischplatte sausen. »Was ist dem denn über die Leber gelaufen. Ich darf nicht mehr mit ausreiten?«
»Beruhig dich, er will doch nur, dass du aus dem Sammelsurium hier ein Ganzes machst. Wir verlieren sonst wohlmöglich den Überblick. Thanh, wir brauchen eine Karte mit allen Informationen auf einen Blick und nicht auf vielen Verschiedenen. Wir unterhalten die kommenden Zehntage drei Baustellen und du kannst während dieser Zeit eine wundervolle Karte fertigen. Nutze die Zeit, mein Freund. Ich geh und packe meinen Kram zusammen, solltest du im Übrigen auch machen, bevor jemand das hier alles lieblos zusammenklaubt.«
Beschützend hetzte Thanh aus seiner sitzenden Stellung und breitete seine Arme über die auf dem Tisch verteilten Zeichnungen und Notizen. Beschwörend blickte er zu den sich bereits entfernenden Jarik, der ihm lediglich entgegenlächelte. »Nehmt bloß eure Finger von meinen Aufzeichnungen, ich packe das selber zusammen.«
Ben hatte von dem Ausbruch nichts mitbekommen, darum schlenderte er die Anhöhe zum Weiler hinauf und beobachtete die miteinander Feierenden. Einige von ihnen bemerkten seine Anwesenheit und wiesen ihre Sitznachbarn daraufhin, dass er womöglich etwas verkünden wolle. Die Menge verstummte nach und nach. Gesichter wanden sich im zu.
»Bewohner Neumarks.« Stille kehrte ein und er räusperte sich. »Wie sich bereits herumgesprochen hat, haben wir zwei flankierte Bautrupps ausgeschickt, um in den Seitentälern der Mark Gehöfte zu errichten. Wir wollen in dem einem Hornvieh und Ziegen züchten um uns mit Leder, Wolle, Fleisch und Milch zu versorgen. In dem Zweiten sollen Pferde für schwere Arbeiten, aber auch zum Beritt gezüchtet werden. Bis auf Ziegen haben wir in unserer Mark wilde Herden gesichtet, die uns hoffentlich ein stabiles Gezücht gewährleisten.«
»Was ist mit dem halben Beritt, der zu Sonnenhoch aufgebrochen ist?«, rief ein Neugieriger. Beschwichtigend bat Ben mit der rechten Hand auf- und abwedelnd um Ruhe. »Dieser, mein guter Herr, hat sich als Vorhut zum See begeben, um dort zu lagern. Beginnend mit der Morgendämmerung werden wir, die hier nicht beabsichtigen zu leben, weiterziehen, um einen zweiten Weiler zu gründen. Dieser soll nahe diesem See errichtet werden, der über hinreichende Fischgründe verfügt und für willkommene Abwechslung in unserer Verpflegung sorgen wird. Weiterhin soll sich unlängst davon auch ein Apfelhain befinden, den wir für uns nutzen wollen.«
Als er endete, tuschelten einige miteinander und fragende Blicke hefteten sich an den seinen. Korian schälte sich aus der Menge und krabbelte auf allen Vieren die Anhöhe direkt vor Ben empor und ließ sich von ihm mit gereichter Hand helfen. Er wischte sich die Hände an den Schenkeln ab und grinste.
»Leute, hört zu. Wir haben uns auf dieses Abenteuer eingelassen, wohl wissend, dass es anstrengend aber dennoch lohnenswert sein wird. Uns war von Anfang an klar, dass nur Wenige von uns hier im Pass-Weiler wohnen und leben werden. Die Zeit ist gekommen, dass wir unseren Landsleuten die Zügel reichen und uns auf dem Weg machen.« Korian schaute neben sich zu Ben und legte ihm freundschaftlich die Linke auf die Schulter. »Sobald sich unsere Leute hier eingelebt und offene Arbeiten abgeschlossen haben, können wir sicher sein, dass viele von ihnen uns bei der Errichtung eines weiteren Heimes unterstützen. Ich und meine Tochter jedenfalls werden bereit sein, sobald unser Herr Benjamin zum Aufbruch ruft.«
Ohne weitere Worte drückte er dessen Schulter und sprang von der Anhöhe zurück in die Menge und begab sich an die Seite seines Fleisch und Blutes. Lerina jedoch sah mit aufmunterndem Blick und leichtem Lächeln an diesem vorbei und suchte Augenkontakt, um damit die Worte ihres Vaters für ihre Person geltend zu bestätigen. Korian, der den nicht ihm geltenden Blick bemerkte, verfolgte dessen Richtung hinauf zu Ben und hob die Brauen. Er nickte ihr zustimmend zu und umarmte sie liebevoll, ohne jeglichen Kommentar zu verlieren.
»Leute, sie haben vollkommen recht. Wir alle wussten, was uns erwartet. Und überlegt doch, wieso sollte es uns besser gehen als unserem aufrechten Herrn Benjamin und den Jägern? Alle schlafen wie wir in Zelten. Ich ziehe definitiv mit und ihr solltet es auch tun, oder geht zurück in euer trübsinniges Middellande. Ich und meine Familie sind bereit eine eigene Zukunft zu gestalten«, brüstete sich einer der Holzfäller, der sich, um gesehen zu werden, auf einen der Baumstämme stellte.
»Wohlan.«
»So sei es.«
»Ein Hoch auf unseren Anführer«, schallte es unerwartet aus der Menge.
»Hoch, Hoch, Hoch. Herr Benjamin lebe Hoch!«, riefen sie aus lauten Mündern.
Die Hände weit gespreizt und nach oben gereckt versuchte dieser sich Gehör zu verschaffen. Ihm lief beklommen der kalte Schweiß aus den Poren. »Hey, hey. Nun mal halblang. Ich geleite euch, ich helfe euch – allen voran und in erster Linie mir selbst. Nur weil sich die Jäger hinter mich gestellt haben und meine Ideen unterstützen, bin ich noch lange kein Anführer. Schon gar nicht der eure.«
Aus der Menge drängte sich ein scheinbar übel gelaunter Jäger nach vorn, dieser hegte eine finstere Mine und fixierte Ben. Anstatt sich, wie erwartet, durch die Anwesenden zu schubsen, legte er jedem im Wegstehenden sacht die Hand auf die Schulter und schob sich so weiter vor. Angekommen auf geschätzt einer Länge Abstand und im direkten Augenkontakt hob dieser mahnend den rechten Zeigefinger, gerichtet auf Ben und brummte mit tiefer Bass tönender Stimme. »Herr. Ihr kamt in unser Land und bewiest euch von Anfang an als edelmütig.« Neben ihm Stehende und viele, die ihn hörten, nickten zustimmend. Andere hauchten verhalten ihre Meinung.
»Genau.«
»Stimmt.«
»Wohl gesprochen.«
»Ihr lehrtet uns, wieder aufzusehen. Ihr lehrtet uns, wie es sich anfühlt, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen. Ihr seid es auch gewesen, der uns mit Mut voran einen ernst zu nehmenden und echten Sieg schenkte.« Die Menge lies sich von diesen Worten inspirieren und johlten abermals Zustimmung.
»Ihr wart es ebenso, der es schaffte eine riesige Menschenmenge zu versammeln, um eine wirre Idee zu verwirklichen. Eine Idee, die den fast erloschenen Hoffnungsfunken eines jeden von uns zum Glimmen ermunterte.« Seine Tonlage veränderte sich ins dunklere, klang beinahe drohend. »Und Ihr wollt uns kein Anführer sein?«
»Ja, was wenn nicht ein Anführer?«, brüllte angeregt der Stimmung ein stämmiger zu dessen Rechten. Ben sah sich Hilfe suchend um und begegnete den Blick Lerinas, die ihm aufrichtig zulächelte und kaum merklich mit dem Kopf nickte. Das Blau ihrer Augen schien ihn einfangen zu wollen und spendete ihm Zuversicht. Er bezog Kraft aus diesen und spürte eine unerwartet innere Ruhe.
»Seht uns an, Herr. Wir, die Jäger, unterstehen euch längst. Den Treueeid gesprochen nach traditionellem Laut. Wieso sollen die Übrigen euch nicht auch folgen? Was unterscheidet sie von uns?«