Ein leises Rascheln von außen weckte ihn, aber sein Pferd schien nicht beunruhigt. Jemand nährte sich und versuchte sich unberuhigend geräuschlos bewegen zu wollen. Elm‘emo richtet sich sitzend auf und griff zu seinem Wanderstab, den er sich vor langer zeit aus einer Eibe schnitzte. Kürzer als eine Länge und weitestgehend gerade gewachsen, lag dieser beachtlich ausgewogen in der Hand, sodass seine Daumen die Zeigefinger nur knapp überschnitten. Am oberen Ende des Stabes teilte dieser sich vierästig und ließ vermuten, dass dort einst oder künftig etwas gehalten werden sollte. Das Ende, welches er zu Boden hielt, verdickte sich zu einem faustdicken Ei.
»Herr Dario?«, flüsterte eine frauliche Stimme. »Pssst, seid ihr wach?«
»Ja, in der Tat. Kommt näher und lasst euch sehen«, antwortete Elm‘emo ebenso leise, aber fordernd.
Eine zierliche, verschmutzte Hand schob sich vorsichtig durch die Zeltbahn und teilte diese. Ein jugendlich aussehendes Gesicht drängte sich ins Innere und schaute ihm mit bemerkenswert aufrichtigen grünen Augen entgegen. Ihre Stimme war jedoch brüchig und angsterfüllt. Sie sah dem Hüter an, dass dieser über den nächtlichen Besuch alles andere als erbaut war. »Ihr müsst uns helfen, bitte. Ihr seid der einzig Fremde seit vielen Zehntagen, der zu uns kommt. Grausames geht in der Stadt vor, Herr. Bitte helft.«
»Schhh.« Elm‘emo hob seinen linken Zeigefinger vor den Mund und legte seinen Stab griffbereit zur Seite. »Erzählt mir, was hier vorgeht. Ich fühle Ähnliches und sah Verletzte, die ich nicht versorgen darf.«
Die junge Frau erkundete seine Augen auf Aufrichtigkeit und versuchte abzuwägen, was sie ihm erzählen und was lieber verschweigen solle. Sie rückte näher ins Zelt und kniete sich vor ihm nieder. Sie berichtete von der letzten einrückenden Patrouille und dem verschwinden vieler junger kräftiger Leute. Seit dieser Tageswende habe sich auch das Oberhaupt der Stadt verändert und verhielt sich äußerst seltsam. Elm‘emo erfuhr von Verletzten und Alten, die seitdem unermesslich litten.
Einige der Bewohner der Stadt und des Umlandes haben sich daraufhin in den Nächten verstohlen aus dem Staub gemacht, um dem Zugriff des Anführers zu entfliehen. Sie sei die Mittelsperson, um weitere Menschen aus der Stadt zu führen, denen man noch vertrauen konnte. Einen gefühlten Zehnteltag berichtete die junge Frau, die ihren Namen nicht verriet, von den Situationen und Gegebenheiten der Mark sowie den bereits Geflohenen.
Elm‘emo fasste ihr behutsam mit beiden Händen an die tränenüberströmte Wange und wischte ihr eine davon mit dem Daumen fort. Aber die Träne wegzuwischen war nicht sein Ziel. Er leitete unbemerkt etwas seiner Gabe in sie hinein und versuchte den Wahrheitsgehalt ihrer Erklärungen zu erkunden. Keine Lüge behaftete das jugendliche Antlitz, atmete entspannend aus und nickte lächelnd.
»Mädchen, wie viele zählt ihr? Haben sich euch Kämpfer, Handwerker oder gar ganze Familien angeschlossen?«
»Wir zählen in etwa zweihundert, aber nicht alle von ihnen stammen aus Korint. Von allen Siedlungen in der Nähe kommen sie zusammen. Sie wollen nördlich in den Schutz der Berge ziehen. Wir haben eure Ankunft beobachtet, konnten euch aber nicht rechtzeitig warnen«, gestand sie ihm schluchzend.
Elm‘emo nickte verstehend und blickte auf. Er hob ihr Kinn auf Augenhöhe. »Ich danke dir für die Warnung, kann aber für die Verletzten und Alten hier nichts tun. Wie du selber berichtest, können wir niemandem trauen. Geh und führe deine Leute bis zur nordöstlichsten Grenze, nahe Middellande.« Die junge Frau setzte zum Widerspruch an, aber Elm‘emo legte ihr den Zeigefinger auf den Mund und ließ sie verstummen, noch bevor sie in der Lage war ihre Lippen zu öffnen. »Dort im Wald, auf einer Lichtung, werdet ihr weitere aus eurem Volke antreffen. Ebenso wie sie, werdet auch ihr auf einen Reiter mit grünem Wimpel warten.«
»Was soll dieser Reiter sein oder tun?«
»Dieser Reiter ist ein Bote. Ein Bote eines Unterfangens, welches sich beginnt zu erfüllen. Er wird euch zu einem Ort führen, an dem ihr mit alten Werten konfrontiert werdet. Fragt nicht weiter, die Zeit hält gegen euch – uns.«
»Kommt ihr mit uns?«
»Nein. Ich muss mein Ziel erreichen. Aber wir sehen uns wieder. Versprochen.«
»Gut. Ich vertraue euch, obwohl ich nicht weis wieso. Ich werde meinen Leuten berichten.«
»Wenn wir uns wiedersehen, junge Frau.« Elm‘emo richtete mahnend den rechten Zeigefinger in die Höhe. »Werdet ihr mir verraten, welchen Namen eure Mutter euch gab.«
Als Antwort erhielt er ein schlichtes Kopfnicken, als sie sich rückwärts aus dem Zelt bewegte. Leises Rascheln der nahe wachsenden Büsche und bedrückende Stille kehrte zurück. Der Hüter ergriff seinen Stab und schlüpfte behänden aus seiner Unterkunft. Nur wenige Feuer brannten und noch weniger Menschen schienen auf den Beinen. Vorsichtig und behutsam tastete er zu den losen Zügeln seines Pferdes, das leise schnaubte. Da er davon ausgehen musste, beobachtet zu werden oder zumindest nicht unentdeckt die Stadt verlassen zu können, beschloss er kurzerhand die schnellste Art der Flucht zu wählen – sitzend im Sattel.
Er preschte den genommenen Weg hinab und führte sein Pferd durch das marode Tor. Warnrufe hallten laut durch die Nacht, als man ihn erblickte. Fackeln wurden entzündet und mancherorts traten Bewaffnete in Türöffnungen in Sichtweite. Er war schon auf der alten Handelsstraße eingekehrt und hielt in westliche Richtung, als die ersten Verfolger zu Fuß angerannt kamen. Doch entfernte er sich zügig von ihnen und hoffte, dass sie über keine nennenswerten Beritte verfügten, um nach ihm zu trachten.