Yaeko und der nachträglich entsandte Bote hatten die Bewohner des Pass-Weilers benachrichtigt und um eilige Hilfe gebeten. Diese beließen ihre zu erledigenden Arbeiten an Ort und Stelle und brachen sogleich auf, um noch vorhandene Zelte zu errichten und für ausreichend Verpflegung und Wasser zu sorgen. Verbandzeug lag in einem nach allen Seiten offen gehaltenen Zeltdach bereit, um Verletzte entsprechend versorgen zu können. Rufe hallten aus dem nahen Pass, als unmittelbar danach Vieh nebst Pferden in Neumark einliefen und sich verstreuten. Treiber versuchten eiligst ihre Tiere beisammenzuhalten und mittels den hinzueilenden Helfern des Pass-Weilers in notdürftige, mit Lederseilen abgegrenzte Koppeln zu führen.
Fuhrwerke und mitten unter ihnen verunsichert traten die ersten Leute mit ihren Familien ins Freie. Frauen fielen ihren Männern erleichtert und ausnahmslos erschöpft in die Arme und küssten ihre weinenden Kinder, die sie absetzten und laufen ließen. Die ersten Bewohner Neumarks traten heran und führten sie abseits des Passes, wo sie sich auf unbelegte Flächen einfach ins Gras setzten oder legten. Die warmen Sonnenstrahlen und fürsorgliche Umsorgung beruhigten die aufgeheizten Gemühter und vielerorts wurden kühles Wasser und frisches Brot gereicht.
In der Eile der Hatz waren einige leicht bis schwer gestürzt und zogen sich Schürfwunden oder Blessuren zu, die von helfenden Händen gereinigt und versorgt wurden. Immer mehr Karren drängten in die Mark und unzählige Menschen – Männer, Frauen und Kinder bevölkerten das Umland.
»Treibt das Vieh hinüber zu den anderen, schafft sie aus diesem Chaos raus«, rief Angrol über die schiere Menge hinweg, wohl wissend, dass seine Leute unlängst ihr bestes gaben. Er wollte, nein er musste einfach etwas sagen, um seiner Verblüffung Lust zu geben. Die nachrückende Masse schien kein Ende nehmen zu wollen und so musste er einfach den Schein wahren und unnötige Anweisungen geben, die längst ausgeführt wurden.
Nach einer schieren endlosen Zeit nahm der Strom an Karren, Vieh und Menschen endlich ab. Nur noch vereinzelt rollte ein mit begleitenden Angehörigen durch die letzten Etappen des Passes, als Ben mit seinem Beritt den Schluss bildete.
»Versorgt eure Pferde! Tränkt sie und reibt sie ordentlich ab. Wir mussten sie heute beachtlich schinden, um unser Volk rechtzeitig zur Seite stehen zu können. Sie haben Ruhe verdient.«
»Ab hier verabschieden wir uns, Fürst. Ich meine Benjamin. Ich führe meine tapferen Naïns von hier aus direkt zu unserer Stadt und berichte meinem Vater.«
»Ich freue mich auf unser Wiedersehen, Aguschal.« Er ergriff die gebotene Hand seines neuen Verbündeten und schüttelten diese kraftvoll.
»Bis dahin.«
Die Naïns winkten und verabschiedeten sich lautstark, sie machten sich auf dem Weg.
»Reicht mir die Zügel, Herr. Ich werde mich um eure Stute kümmern«, bot sich einer der Umstehenden an. Ben reichte ihm diese und bedankte sich mit einem Schulterklopfen. Artemis ließ sich ohne das übliche Zicken abführen und trottete hinüber zur Tränke. Seine Männer griffen sich bereitgelegtes Heu und begannen ihre Pferde damit abzureiben. Ihre, durch den gnadenlosen Ritt aufgeheizten Leiber schwitzten stark und in der kühlen Brise, die durch den Pass wehte, könnten sie sich schnell erkälten.
»Du bist wütend über den Verlauf«, stellte Jarik nüchtern fest und gesellte sich an seine Seite, um den Männern bei ihren Arbeiten zuzusehen. Ben blieb ihm jedoch eine Antwort schuldig und blickte zurück in die Richtung, aus der sie kamen.
»Sie werden sich solch eine Katastrophe nicht noch einmal zumuten, darin können wir uns mehr als sicher sein.«
»Die Frage ist nur, ob diese verfluchte Brut diesen zweiten vernichtenden Schlag nicht als Anreiz nimmt, abermals gegen Rongard vorzugehen. Unser Volk ist zwar groß, aber in alle Winde verstreut und leider alles andere als wehrhaft.«
»Mhm, ich weiß. Und unsere Mark ist noch lange nicht so weit, die Äußeren zu unterstützen, geschweige denn zu einem befreienden Schlag auszuholen.«
»Unser Weg wird steinig und sehr lang.«
Die letzten des Nachschubtrosses waren in Neumark angekommen und schauten sich mit Tränen in den Augen um. Begrüßt wurden sie mit einem gefüllten Becher kühlen Wassers und einer dicken Scheibe Brot. Die meisten der Nachgerückten waren ohne Verletzungen geblieben und deutlich ausgeruhter als die ersten der Ankömmlinge. Sie hatten die Sicherheit und Gewissheit der zur Hilfe ausgerittenen Jäger.
Die mitgeführten Pferde, Hornvieh, Schafe, Ziegen und Hühner wurden abseits in provisorischen Koppeln beisammengehalten. Bewohner aus dem Pass-Weiler kümmerten sich um Verängstigte und Verwundete. Die Reiter des Berittes ließen die Zügel frei und ihre Pferde laufen. Sie waren gut ausgebildet und entfernten sich nicht weiter als Rufweite von ihrem Reiter. Die Jäger griffen ebenso dankbar zu dem gereichten Wasser wie die Leute aus dem Nachschub und erkundigten sich bei einzelnen über deren Wohlbefinden.
Einige der berittenen Jäger bestiegen ihre Pferde und ritten, ohne sich zu verabschieden in Richtung See davon. Jarik sah ihnen mit verzogenen Brauen hinterher, blickte zurück zu Ben und warf diesem einen fragenden Blick zu.
»Entbinde den Beritt. Ich möchte so schnell wie möglich zur Normalität übergehen. Wir haben glücklicherweise nur zwei Tote zu verzeichnen. Konntest du in Erfahrung bringen, wer sie waren und ob sie Familie hinterließen?«
»Habe ich. Wir müssen jedoch niemanden über ihr Ableben informieren. Sie folgten uns ohne Anhang.«
»Mhm, wo steckt Yaeko?«
»Ist bereits auf dem Weg zum See. Er informiert die Siedler und beschafft uns weitere Verpflegung und Unterstützung, sowie Karren um den Leuten weiteren Fußmarsch zu ersparen.«
Zustimmend der Idee, klopfte er seinem Freund auf die Schulter und erteilte Befehl, die mitgeführten Zelte des Nachschubes aufzurichten. Berichten zur Folge waren die Verletzungen bei niemandem so schwer, dass Nachhaltiges zu befürchten war und kein Verwundeter länger als zwei bis drei Tageswenden ausfiel.
»Wo steckt dieser Hüter - Elm‘emo«, fragte Ben einen der Wachestehenden.
»Er sitzt dort drüben, Herr.« Mit dem Arm wies er die Richtung und zeigte auf einen abseitsstehenden Karrenzug, an dem etliche Menschen umhertummelten und Neugierige fernhielten.
Einige von ihnen waren bewaffnet und schienen Wachen zu sein. »Sie lassen niemanden von uns in die Nähe des Zuges und verraten auch nicht, was sie mit sich führen. Der kleinere Mann dort neben dem Hüter scheint ihr Sprecher zu sein.«
»Danke, ich schaue nach dem Rechten.«