Es war bereits spät in der Nacht und lange Schatten des Gebirges verfinsterten die umliegende Gegend. Es schien ein geeigneter Platz und weit genug von den Ruhenden entfernt. Er griff nach seiner Gabe und erzeugte eine Illusion. Wabernde nebelhafte Schemen entstiegen dem Boden und deuteten rings um ihn schäbige Zeltbahnen an. Hinter ihm saßen vornübergebeugt drei plumpe Gestalten, die verschwommen den Gouwors ähnelten. Die Art der Verbindung zum Sprechstein war nicht gewiss und somit unklar, ob sie nur der verbalen Kommunikation diente, oder der Wartende über ausreichend Gabe verfügte, um eine Verbindung auch visuell zu schaffen. Vorsicht war geboten und so hüllte sich Elm‘emo zusätzlich in den Schleier der Sicht und veränderte sein Antlitz.
Er hielt den Stein in der ausgestreckten Linken, fingerte mit seiner Rechten über die glatte Form dessen und versuchte sich die Aussprache der Anrufung zu entsinnen. Die bläulichen Adern, die den Stein umgaben, gerieten in Bewegung und ein finsterer Schimmer umhüllte ihn, der sich weiter ausdehnte. Eine lähmende Starre ergriff von seinem Körper Besitz und durchdrang ihn vollends.
»Endlich!«
Elm‘emo schauderte, seine Tarnung schien unweigerlich durchbrochen.
»Ich habe dich gefunden! Wieso verweigerst du dich mir, du Wurm?«
Kein Ton entsprang seinen bebenden Lippen, weswegen der finstere Schimmer sich weiter ausdehnte und ihn zu ersticken drohte.
»Bist du so verängstigt, dass es dir die Stimme verschlagen hat? Ich erwarte Bericht!«
Die Verbindung war wahrlich nur rein verbal und nicht visuell, weswegen Elm‘emo seine Haltung lockerte und die kräftezehrende Illusion fallen ließ. Das Wesen konnte nur ein Brutmeister sein. Höherrangige seiner Art verfügten über immense Macht, sodass sie die Sprechsteine auch visuell nutzen konnten.
»Brutmeister. Wir haben uns verkalkuliert.«
Die Stimme verhielt sich ruhig, also erwartete er eine entsprechende Meldung und so nahm er diese neuerlich auf. »Wir fanden Spuren und die Späher lotsten uns östlich, hinaus aus den Wäldern. Sie haben uns alle in die Irre geführt, Meister. Nicht wie angenommen am Gebirge, sondern im Stumpfwald hatten sie ihr Lager aufgeschlagen.«
»Weiter.«
»Meister, sie hielten sich dort verbarrikadiert und feierten ihren Sieg. Wir sind über sie hinweg gebrandet. Keiner der Pferdemenschen blieb am Leben, aber auch wir mussten Verluste hinnehmen.«
»Du hast lange gebraucht und ich musste eine Verbindung suchen. Erkläre dich?«
»Meister, es galt, viel zu tun und durften euch nicht enttäuschen. Wir haben das Lager komplett vernichtet und nur eine Zehn der Zucht stand mir noch zur Seite. Die Pferdemenschen verhielten sich äußerst wehrhaft.«
»Werden weitere Jäger sich auflehnen?«
»Nein Meister. Ich schicke noch zum Grauen meine Verbliebenen zur Patrouille aus, um die Nachricht der völligen Vernichtung zu verbreiten. Wir werden mit keinem Aufstand mehr rechnen müssen.«
»Das hoffe ich, um deinetwillen. Kehre zurück nach Südfluss. Ich will, dass du Wurm im Tiefwald die Hügelgruppen bewachst. Noch werde ich dir keine erneute Obacht über eine der Bruthöhlen übertragen. Du hast mir gute Dienste geliefert, aber noch reicht es nicht zur Begnadigung.«
»Ja Meister, habt Dank, Meister.«
Der Schimmer erblasste und die Bewegungen im Stein wurden ruhiger. Elm‘emo sackte geschwächt zusammen und der Stein entrollte seiner Hand. Er saugte tief Luft in seine schmerzenden Lungen, krabbelte auf allen Vieren auf den Stein zu und verbarg diesen wieder in dem Ledersack des Naïns.
Es war spät in der Nacht, als sie eine Berührung spürte. Eine Hand glitt ihrem Körper entlang, obwohl sie sich absolut sicher war, allein zu sein. Wohlige Wärme stieg ihr empor, als sie seine Stimme vernahm.
»Katrin, Liebste. Ich vermisse dich sosehr. Ich höre deine Stimme im Wind, der meine Ohren umsäuselt. Wenn du doch nur bei mir wärest. Der Wind sagte mir, ich solle mich lösen, du gäbest mich frei.«
Eiskalter Schauder fuhr ihr den Rücken hinab.
Oh Gott, Ben. Das waren meine Worte, aber du kannst sie doch nicht ...
Sie stockte und zwang sich nicht so vehement an ihn zu denken. Der Verfasser des Buches hatte ausdrücklich davor gewarnt, da er vermute, dass ihre Wunsch- und innigsten Gedanken an ihrem Liebsten einen Weg zu seinem Gehör finden könnten. Sie knipste das Nachtlicht an und griff zu dem Buch, welches ihr die Kripo hat zukommen lassen, und schlug es auf.
Seltsamerweise wurde dieses stetig umfangreicher, wie auf geheimnisvolle Weise wurde die Geschichte des Protagonisten weitergeführt. Die Geschichte, in der ihr Ben involviert schien und seinen Weg beschrieb.
Ihre Hand lag zitternd auf der letzten ihr bekannten Seite und erblickte neue beschriebene Zeilen. Tief atmete Katrin ein und begann zu lesen.
Angst erfüllte ihren Körper, die Zeilen erzählten von einem erneuten Kampf mit vielen geschundenen Opfern, aber auch von eigenartigen Wesen, die ihnen zu Hilfe eilten.
Verdammt Ben, in was für einen Scheiß bist du nur geraten. Du und deine dämliche Fantasterei hat uns auseinander getrieben.
Sie erinnerte sich der ersten Worte des Bandes und strengte ihre Gedanken an, sie dachte an Ben, so stark sie nur konnte. Sie vermittelte ihm erneut, sich von ihr lösen zu müssen und seines Weges zu gehen. Auch wenn ihr bewusst war, dass sich Ben zu dieser anderen Frau, Lerina, hinziehen würde. Es war ihr egal, sie hoffte inständig, dass der Verfasser auch recht behalten und Ben zurückkehren würde.