Zu tiefst bedrückt, dass einer seiner Freunde, den er vom ersten Tag an kannte, nicht mehr unter ihnen weilte, schmerzte ihm das Herz. Mit einem Becher in der Hand, stand er am Geschichtspfahl des Weilers gelehnt und hielt die Augen geschlossen. Sonnenstrahlen beschienen sein markantes Gesicht und zauberte ihm trotz des Kummers ein Lächeln auf die Lippen. Eine einzelne Träne sammelte sich in seinem rechten Auge und kullerte die glatt rasierte Wange herab.
Eine junge Frau nährte sich dem Weilermittelpunkt und hielt auf den Geschichtspfahl zu. Attraktiv, umschreibt sie nicht richtig, verführerisch schön, trifft es bei Weitem besser. Grazil bewegte sie sich und verkörperte nebst Eleganz auch Stolz. Sie wusste ihre weiblichen Stärken dazulegen und verfolgte, das wusste so ziemlich jeder, ein Ziel. Seltsamerweise wurde jenes von allen Wissenden oder denen, die vorgaben es zu ahnen, wohlwollend bekundet. Nur das Ziel ihrer Begierde selbst hielt sich nach wie vor verschlossen.
Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und beobachtete lange seine unbewegte Pose. Wie gemeißelt stand er da und träumte – im Stehen. Lächelnd räusperte sie sich verhalten und dezent, aber er schien es nicht zu hören und so gab sie ein nüchternes Husten vor. Erschrocken zuckte er zusammen und der Becher glitt ihm aus der Hand, sodass er mehrfach akrobatisch nach diesem versuchte zu greifen, jedoch nicht mehr zu fassen bekam.
Leer polterte dieser vor seine Füße und blieb reglos liegen. Verstohlen kicherte sie, besann sich sogleich, nachdem er sich selbst verfluchte, und ihre Gesichtsfarbe verlegen einen roten Schimmer annahm.
»Hoah, verdammt.« Er blickte noch in gebückter Haltung auf und erkannte die kichernde. »Lerina?« Schlagartig änderte sich seine Klangfarbe.
»Entschuldigt, Herr«, beteuerte sie und machte einen höflichen Knicks.
Ben nutzte die gebeugte Haltung und hüpfte vom Mittelsockel und setzte sich auf die vorstehende Mauer. »Nicht doch. Ihr habt mich nur aus meinem Tagtraum geweckt. Ich sollte nicht im Stehen träumen, ich bin es, der sich zu entschuldigen hat.« Er schenkte ihr ein Herzhaftes und Ehrliches lächeln.
Lerina richtete ihren Blick immer noch unterwürfig zu Boden und so griff Ben vorsichtig mit der Rechten unter ihr Kinn und hob es sacht an. Beide sahen sich tief in die Augen, kein gesprochenes Wort überbrückt die entsehende Bande, die sich in diesem Moment zwischen ihnen begann zu knüpfen. Eine weitere Träne rann ihm aus dem Auge, die Lerina zügig mit ihrem linken Zeigefinger am Weiterrutschen hinderte und nach oben hin abhob. Eine Träne, als einzelner Tropfen lag so auf ihrem Finger, den sie mittig ihrer Gesichter hielt. Die Sonne zauberte farbliche Schlieren auf diesem und mit ein wenig Fantasie ließ sich ein Herz darin erkennen.
»Die Sonne kann einem so manches Mal reichlich blenden, mein Fürst. Aber diese hier entspringt bitterer Trauer.«
Ben blinzelte und entfloh dem magischen Moment, schüttelte beflissen den Kopf, beugte sich Rücklinks und stützte sich mit den Händen ab.
»Ich halte noch immer Fest, Lerina. Ich weiß, dass ich es nicht sollte. Aber ...« Ein aufgelegter Finger verschloss ihm die Lippen und so hielt er mitten im Satz inne.
»Schsch. Gebt nichts auf die Worte anderer. Euer Herz selbst, wird euch den passenden Moment verraten. Ich bin hier, um euch bescheid zu geben, dass euer oberster Schwertmann, die Vorbereitungen beendet hat. Viele Männer aus dem Umland sind eingetroffen und versammeln sich auf dem vorderen Anger.«
Noch bevor Ben in der Lage war sich zu besinnen, um ihr zu antworten, war sie auf den Beinen und lief davon. Er sah ihr hinterher, bis sie hinter den Wohnhäusern verschwand, erst dann bemerkte er seine ausgestreckte Hand und zog sie leer zurück. Die geschlossene Faust drückte er sich an die Stelle, wo sein schmerzendes Herz pochte und kniff fest die Augen zusammen.
Du erinnerst mich zu sehr an sie, aber ich kann meine Gefühle nicht weiter verbergen. Kann es tatsächlich Liebe sein?
Es dämmerte und die Sonne senke sich gen Horizont. Neben ihm hatte sich Jarik eingefunden und zusammen besprachen sie den Ablauf zur Ernennung weiterer Lordschaften. Hinter ihnen flatterte das Banner des Weilers. Die Briese führte kühle Luft mit sich und war der Vorbote bevorstehender Kälte.
Mit dem gewählten Sprecher des Naïnhof-Weilers hatten sie gleich nach der feierlichen Einweihung abgestimmt, dass die Ernennungen noch vor Einbruch der Dämmerung vollendet sein sollen. Bei den nächtlich herrschenden Temperaturen, sollten jene, die weitere Weg haben, entsprechend Möglichkeiten finden, rechtzeitig an den heimeligen Herd zu gelangen. Geladene wie Heimische, unterhielten sich vergnügt und Themenreich, als Ben vortrat und um die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Er hob die Arme mit offenen Handflächen nach oben. »Hört ihr braven Menschen Neumarks. Zusammen haben wir den neuesten Weiler eingeweiht und gemeinsam wollen wir jetzt zu einem weiteren Tagespunkt kommen. Alle, sind wir einen weiten Weg gegangen und haben viel Arbeit geleistet. Gleichviel liegt noch vor uns, aber auch das werden wir in Zusammenarbeit zu bewältigen wissen.«
Die Menge nickte anerkennend, dass ihr Fürst sie stets komplett als ein Gesamtes berücksichtigte und nie eigennützig formulierte.
»Einige unter den euren tragen bereits den Umhang mit Stolz, der sie als freien Lord unter denen, wie die Naïns so gern sagen, Pferdemenschen oder Pferdeherren symbolisiert. Dieser Umhang verbindet nicht nur irgendeinen Titel. Nein, er verkörpert auch eine Geschichte, die man euch gewaltsam entriss. Auch wenn wir viel geleistet haben und die Zeit stets knapp bemessen war, haben wir doch keine Mühen gescheut, hier und heute, weitere Getreuen im wehrhaften Alter, ein Stück dieser eurer Vergangenheit zurückzugeben.«
Hinter dem Fürsten und seinem obersten Schwertmann nahmen Frauen, darunter ebenfalls Lerina, Aufstellung. Sie waren beladen mit grünen Stoffen – die Umhänge der freien Lords.
Ben deutete hinter sich und erhob die Stimme. »Für genau zweihundert Lords hat die Zeit ausgereicht. Zweihundert Männer, die fortan das Grün unseres Landes tragen dürfen. Ich weiß, dass die Sprecher und Vorsteher der Weiler und Höfe, nur diejenigen zur Einweihung entsendet haben, die zu heutiger Tageswende, ihr Grün in empfang nehmen sollen. So schreitet nun voran und empfangt das Symbol der Freiheit und leistet euren Herzenseid. Der oberste Schwertmann wird einem jeden von euch, sofern von Nöten, eine Waffe freier Wahl überreichen. Bedenkt, dass in zwei Zehntagen die letzte gemeinsame Wehrübung für diese Jahreswende bevorsteht.«
Die Menge teilte sich und mittig blieben die wehrhaften Männer und Knaben stehen, die das Mindestalter von sechszehn Sommern zählten. Stolz und voller Erwartung empfingen sie die gereichten Umhänge, der zwischen ihnen umhergehenden Frauen. Um den Ablauf etwas zu beschleunigen, hatten die Anwesenden sich in fünf Reihen postiert. Jarik nickte, es war das vereinbarte Zeichen an die Männer. Sie legten sich die Umhänge um die Schulter, verschlossen diesen mit der angebrachten Spange, führten die geballte Rechte zum Herzen und intonierten den Eid.
»In Treue fest, dem Volke Gefahr bedroht, mein Pferd mich trägt zu dessen Not, soll Eile sein stets das Gebot. Im Dienste unseres Fürsten Benjamin.«
»Nun denn, ich, Benjamin, Fürst von Neumark erkenne eure tapferen Herzen und nehme euren Eid entgegen. Fortan sollt ihr den Titel der freien Lordschaft selbiger Mark und mit stolz den Umhang als Symbol dessen tragen.«
Beifallsrufe und Glückwünsche wurden Laut und nicht minder rollten Tränen des Stolzes. Jene, die keine Waffe ihr Eigen nannten, erhielten eine aus dem Besitz des fürstlichen Eigentums.
Nachdem die Umhänge gereicht, Eide geleistet und Waffen ausgegeben waren, nahm Jarik Bestand der Waffenkarren und schürzte die Lippen. Er zählte die einzelnen Waffen und Gattungen. Dadurch, dass Ben ihn verdonnert hatte, die Schriftzeichen lesen und schreiben zu lernen, notierte er akribisch deren Anzahl. Ben gesellte sich an seine Seite und sah ihm über die Schulter.
»Oh, der war mal voller, oder?«
»Das war er. Betonung liegt hierbei, eindeutig auf war. Viele haben ihr altes Heim verlassen, ohne alles Mitnehmen zu könne, oder hatten nie eine eigene Waffe besessen.«
»Du brauchst mir nicht erklären, wie es dazu kam. Glücklicherweise verfügen wir noch über ausreichend und sind in der glücklichen Lage, diese auch ausgeben zu können.«ein lauter schriller Schmerzensschrei zerriss die Luft und unterbrach ihr Gespräch. Der Stimme nach zu urteilen, eine Frau. Sofort zogen beide ihre Schwerter und eilten zum Weiler. Vor ihnen trat der Weilervorsteher beruhigend und mit erhobenen Armen in den Weg. Er lächelt. »Haltet ein, haltet ein. Es besteht keinerlei Gefahr, nur eine übliche Niederkunft.«
»Nieder was?«, schnaufte Ben, als er doch begriff. »Niederkunft, euer Weiler bekommt Nachwuchs? Heute?« Klang er erfreut und strahlte über beide Wangen hinaus.
»Ja, Herr.«
Ein letzter aufbäumender Schrei, bemitleidenswert und herzzerreißend, schallte dieser aus dem Gebäude links von Ihnen, dann bedrückende Stille. Keine zwei Atemzüge später schrillte erneut Geschrei, diesmal jedoch das eines Babys. Die Tür wurde von innen geöffnet und eine ältere Frau stand mit einem umwickelten Bündel in der Öffnung, hob es hoch in die kühle Luft und rief leidenschaftlich. »Ein Knabe, es ist ein Knabe.«
Hochrufe und freudvolles Gejohle säumte die Ansammlung.
»Die erste Geburt in unserer neuen Mark. Ein Kleinkind, geboren in Freiheit. Wir danken euch vom ganzen Herzen, Herr.«
»Wieso mir? Ich habe das Kind doch nicht ausgetragen.«
Als Dank erfuhr er freudiges Gelächter der Umstehenden und Jarik klopfte ihm auf den Rücken und lachte mit. »Dank dir, kann dieses Kind die Luft der Freiheit atmen, mein Freund.«
»So meinte ich es, ja.«
»Oh, habt dank«, äußerte Ben mit Schamesröte im Gesicht und nickte. Im Augenwinkel bemerkte er Lerina, die schräg Abseits von ihm stand und ihn beobachtete. Schelmisches grinsen begleitete ihre Züge und sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. Ohne es zu ahnen, faste Sie sich dabei mit der rechten zum Herzen.
Die Amme, die das Neugeborene in die Arme der Mutter zurückgelegt hatte, stand unerwartet vor ihm und Jarik. Sie gestikulierte mit den Händen.
»Gute Frau, habt dank für die Hilfestellung bei dieser schweren Geburt.«
»Ach was, das ist meine Aufgabe als Amme. Ich soll eine Bitte der gewordenen Mutter vortragen.«
»Sprecht und haltet nicht vor.«
»Der Junge soll seinen Namen tragen und bittet um Zustimmung.«
»Welchen Namen soll ihm gegeben werden, der meine Zustimmung bedarf? Ihr macht mich neugierig.«
Sie antwortete nicht, kaute stattdessen auf ihrer Unterlippe und suchte scheinbar nach den rechten Worten. »Herr, sie möchte ihn Yaeko nennen. Ein tapferer Mann soll nicht in Vergessenheit geraten und sie kannte ihn seit vielen Jahren.«
Ben und Jarik sahen sich an und nickten gleichsam mit wissendem Lächeln.
»So soll es sein. Teilt der Mutter meinen Segen mit, sie soll ihren Jungen Yaeko nennen.«
Die Amme nickte und eilte davon.
Ben blieb mit seinem Gefolge über Nacht und feierte die Geburt mit den Bewohnern des Naïnhof-Weilers. Die Gesandten der anderen Weiler, der Höfe und der Burg samt Stadt hatten sich nach der Ausgabe der Waffen auf dem Heimweg begeben. Zu spät vorgeschrittener Zeit saßen Ben und Lerina, allein vor dem Letzten ausbrennendem Lagerfeuer, sich gegenüber.
»Es wird beträchtlich kalt«, stellte sie nüchtern fest, da sie das anhaltende Schweigen versuchte zu brechen.
»Ja, stimmt. Goram erzählte, dass der Winter in diesem, vom Gebirge umschlossenem, Gebiet kälter sei, als anders wo im Land.«
Lerina verzog missgünstig die linke Wange und schnaufte, da dies nicht die Antwort war, die sie erhoffte. Selbstbewusst erhob sie sich und setzte sich zu seiner Rechten. Er sah verlegen auf und bemerkte aus dem Augenwinkel ihr verschmitztes Lächeln. Er überwandt sich, löste die goldene Spange seines Umhanges und hob diesen über ihre schmalen Schultern, sodass sich beide unter dem wärmenden Überwurf befanden.
»Danke, Herr.«
»Gern doch.« Mit aufschlagenden Augen durchdrang sie seinen Blick und brach das eisige Gestürm, welches sein Herz umgab. Er lächelte und erzählte ihr, ohne dass sie darum bat, von Katrin. Wie er nach Rongard kam, sein erstes Treffen mit Jarik und den übrigen Freunden. Sie hörte ihm Einwandlos zu und nickte ab und an. Vorsichtig führte sie ihre Linke zu seiner Rechten, sobald er ihre Hand auf der seinen fühlte, stockt er kurz und umschloss die gebotene mit der seinen, um sogleich mit seiner Geschichte fortzufahren. Sein Daumen streichelt ihren Handrücken.
Im Gegenzuge erfuhr Ben etwas über ihr Leben und Neigungen. So gestand sie ihm, heimlich auf dem Feld der Bogenschützen zu üben und sei darin gewandter, als mancher seiner Schwertmänner.
Sie ist Katrin noch ähnlicher, als ich bisher anzunehmen vermochte. Ist das vielleicht doch ein Zeichen? Soll Jarik und dieser Hüter Recht behalten? Vielleicht sogar diese unheimliche Stimme des Windes?
»Beweise es mir, bei der anberaumten Wehrübung«, forderte er sie munter auf und sie schlug per Handschlag als geltende Abmachung ein. Da das Feuer letztendlich komplett ausbrannte und die eisige Luft ungemindert an ihren Leibern zerrte, begaben sie sich zu ihren Unterkünften und rollten sich in ihre Decken. Selbstverständlich getrennt, auch wenn Ben sich noch etwas Nähe gewünscht hätte. Gerade, weil er ihr seine Geschichte gebeichtet hatte und sie sich ihm liebevoll anschmiegte, um seine Körperwärme zu genießen. Er vermisste ihre Nähe schon jetzt und wünschte sich mehr davon.