Endlich, Schnee und Eis wichen und die ewig lang anhaltende Zeit der frostigen Winde neigte sich dem Ende. Wärmende Luftströme zogen ihre Bahnen und hauchten der schlafenden Natur Leben ein. Allerorts schmolz die weiße Pracht, die sich hartnäckig hielt und die Baustellen fast komplett zum Erliegen brachte. Arbeiter griffen erneut zu Werkzeugen und schüttelten ihre müden Knochen bedingt der auferlegten Zwangspause. Schneemassen wurden geschaufelt und der Einfachheit in den Sichelgraben befördert.
Vorhandene Fenster, die mit geschliffenem Kristall versehen – bevorzugt in der Burganlage – standen weit geöffnet, um frische Frühjahrsluft durch die Gänge wehen zu lassen. Die Übrigen waren mit geölten Häuten, zumeist aus der Blase des Hornviehs, auf Rahmen bespannt und herausgenommen. Lediglich feine Holzkeile verhinderten das Herausfallen jener Rahmen und so war es ein leichtes, die fensterlosen Öffnungen frei zu geben. Auch in privaten Wohn- und Handwerkshäusern hießen die Leute der warmen Luftströmung willkommen. Die Berittpferde und Rösser der Schwertmänner grasten vereinzelt mickrige Halme, die aus den geschmolzenen Grasflächen herauslugten und sich gen Himmel reckten. Die betrübte Laune der Bewohner Neumarks wich allgemeiner Heiterkeit und Betriebsamkeit.
Es klopfte an der Tür des Fürstens Amtsstube.
»Herein«, rief Ben, der vor der Landkarte Rongards stand und Eintragungen studierte. Diese war großzügig in den Ausmaßen aber an vielen Stellen noch grob gefertigt und wies nur in den bekanntesten Regionen, die typisch gewissenhaften Markierungen Thanhs auf. Die Tür öffnete sich und der oberste Schwertmann betrat den Raum. Er schloss sie hinter sich und gesellte sich zu seinem Freund.
»Was gibt es von den Bauabschnitten zu berichten, Jarik? Hat der Frost viele Schäden verursacht?«
»Durchweg Gutes. Der tiefe Frost konnte den liegen gebliebenen Baustellen kaum etwas anhaben. Verursachte Schäden sollten schnell behoben sein.«
»Das haben wir dann wohl den kleinen Herren zu verdanken.«
»Das und noch vieles mehr.«
Ben nickte und begab sich zu einem der beiden offenstehenden Fenster und blickte hinaus. »Wie ich sehe, hat Goram abermals Wort gehalten und seine fleißigen Handwerker geschickt.«
»Sie kamen vor etwa einem Zehnteltag und gingen sogleich ans Werk.« Er trat hinüber zu dem Tisch und griff zu den Zustandsmeldungen der Baustellen. Er überflog Notizen wie Zahlen. »Wie groß soll die Stadt eigentlich mal werden?«
Ben drehte sich zu ihm herum und lehnte sich hinterrücks auf seine Handflächen, die auf dem Mauerwerk ruhten. »Ich weiß es nicht. Viele der Bewohner werden bald nahe dem Sichelgraben beginnen ihre Wohn- und Werkstätten zu bauen. Auch wenn einst alle Gebäude gebaut sein werden, ist die Fläche noch riesig und bietet Platz für zahllose weitere.«
»Eben, das meine ich«, antwortete Jarik und nickte. »Wenn die gesamte Fläche bebaut sein wird, dürften wir hier an diesem Flecken, über geschätzt drei bis vier Tausend Köpfe beherbergen. Und ich meine, auf einer deiner Zeichnungen zwei Stadtmauern gesehen zu haben. Somit wird meine Schätzung noch um einiges untertrieben sein.«
Ben drückte sich vor, ging zum Tisch und setzte sich auf die vordere Kante. Er wühlte in einem Stapel Unterlagen und fischte ein zusammengefaltetes Papier hervor. Offen legte er es aus. »Du meinst diese hier?«
Eine Zeichnung, samt Burganlage, Sichelgraben und zwei hintereinander platzierte Stadtbereiche mitsamt Mauern umgeben waren darauf zu erkennen.
»Ja, genau die.«
»Mhm, wenn die Zeit gekommen ist, kann deine Annahme durchaus zutreffen. Tiron erzählte mir einmal, dass in Middellande viele vereinzelte Siedlungen umherstehen und in einer jeden, zwischen einhundert bis eintausend Menschen, ihr Dasein fristen.«
»Ja, das ist richtig, Benjamin.« Jarik runzelte die Stirn und hob die rechte an die Stirn. »Du meinst ...«
»Genau das.«
»Oje.« Jarik schluckte und setzte sich auf den Linken der beiden Stühle, die vor dem Tisch standen. »Bedenke aber, dass wir die übrigen Marken dann vielerorts schwächen.«
»Ja, das tun wir. Jedoch nur so lange, bis sie sich erholt, benötigtes Handwerk erlernt und sich zur Wehr setzen können. Viele von ihnen, die noch kommen werden, werden auch wieder in ihre Heimatmarken zurückkehren wollen.«
Jarik massierte sich das Kinn und nickte, verhielt sich aber zurückhaltend.
»Wie steht es um den Zustand der Burganlage, wenn Du mich schon nicht berichtigst? Oder sollten wir das Thema wechseln?«
Jarik zuckte leicht, hob die Brauen und grinste. »Mit Verlaub, die süße Tochter des Hofschreiners hat dir ja gewaltig den Kopf verdreht.«
»Hat sie.« Ben faltete die Zeichnung zusammen und legte sie zurück zu den übrigen Unterlagen. »Aber noch ist nichts versprochen. Korian freut sich für uns und fragt sie immer wieder nach dem Befinden, aber ...« er hielt inne und holte tief Luft.
»Aber du kannst nicht von deinem alten Leben loslassen«, erwiderte sein Freund verständnisvoll.
»Das ist es nicht. Wir verbringen oder haben über die kalten Monde hinweg viel Zeit miteinander verbracht, ja. Wir mögen uns sehr, auch das. Ach verdammt, ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Wie soll ich ihr gestehen, was mein Körper ihr nicht schon gegeben hat?«
Jarik starrte nur mit verzogenem Blick und wusste darauf ebenfalls keine hilfreiche Antwort. »Indem du vielleicht einfach fragst?«
»Mhm«, brummt er nur.
»Nun gut, wie dem auch sei. Ich habe hier den Baubericht. Mir fällt es immer noch recht schwer, die Zeichen ordentlich zu setzen, aber es sollte lesbar sein.« Er legte eine Tafel vor, auf der Benennungen und Zustände notiert standen. Aus diesen ging hervor, dass trotz der winterlichen Launen, dennoch einiges an Arbeiten abgeschlossen waren.
Der Palas war bis auf die Dachebene fertig, der große Wehrturm verfügte über eine weitere Ebene, welche bereits bis oberhalb des Kopfes reichte und der Bergfried war nahezu gleichauf. Der Brunnen sollte zur kommenden Tageswende gerichtet und einsatzbereit sein. Die untere Ebene der Küchenanlage kam ihren Aufgaben nach und bekochte die stehende Wacht der Schwertmänner sowie die Bewohner der Burganlage. Das äußere Torhaus bedurfte lediglich noch der Brustwehr und den hinteren Aufbauten.
Ben und Jarik besprachen künftige Aufträge und welche Baustellen Vorrang genießen sollten. Berichten der ausgerittenen Scharen zur Folge, wurde am Weiler, nahe dem Klippenstieg, wieder gearbeitet und stand kurz vor der Vollendung. Der Steinbruch am Pass-Weiler hatte die ersten Lieferungen, verarbeiteten Steines, zur Palisade geschafft und legte dort eine Lagerstätte an. Mit diesen Materialien wollte Halis seine unsichere Stellung von Neuem festigen und mit dem Baubeginn einer wehrhaften Mauer beginnen, um die verpfuschte Befestigung gewissenhaft zu ersetzen.
Fünfhundert Umhänge für freie Lords und weitere einhundert für künftige Schwertmänner, standen zur Verfügung, die die Frauen in den kalten Tageswenden schneiderten und nähten. Ben ließ die patrouillierenden Scharen anweisen, auf Nachwuchs für die eigenen Reihen zu achten und in den Weilern diese zu werben.
»Es ist so weit. Noch bevor wir unsere Rösser in die Reihen der Feinde lenken und unsere Lanzen in ihre Leiber senken, wollen wir für eine Macht sorgen, die sie in Schrecken versetzt«, verkündete Ben während eines abendlichen Zusammenseins mit seinen Schwertmännern. Es war, wie es kommen musste. Die ausgerufenen einhundert Männer waren schnell gefunden und sollten sich in den kommenden fünf Tageswenden auf dem Burggelände einfinden. Zumeist junge kräftige Männer, die sich noch nicht gebunden hatten, waren dem Ruf gefolgt. Andere führten ihre Familien mit sich und bezogen vorrangig Gebäude, die im Namen des Fürsten frei gehalten oder sich im Baustadium befanden.
Jarik kümmerte sich um die Vorbereitungen zu den ersten gemeinsamen Wehrübungen und den bevorstehenden Übungen mit den werdenden Schwertmännern, die noch vereidigt und ausgerüstet werden mussten. Dank des gefundenen und von Goram gespendeten Naïneisens und den kundigen Händen von Halis und seinem Neffen waren alle Waffen und Ausrüstungen der hiesigen Schwertmänner ausgetauscht und die Waffenkammern ordentlich gefüllt.
Ben ließ die Umhänge weiterer Lords auf Karren verladen, um die Weiler nacheinander zu besuchen und wehrtaugliche Männer, die den Eid leisteten, das Symbol ihrer Zugehörigkeit, zu überreichen. Bevor er jedoch ausritt und nebst Fuhrwerke, Begleitung und zwei Scharen den Weg durch die Mark suchte, wurden nahezu einhundert Umhänge an Männern in der angehenden Stadt ausgehändigt.