Die Polizei untersuchte mit der Spurensicherung den Tatort. Zwar hatte Stephen mir Einweghandschuhe gegeben, aber wahrscheinlich war der Raum voll von unseren Spuren.
Das gab sicher noch mehr Ärger. Das kennt man ja aus den TV-Krimis. Keiner aus der Spurensicherung schätzte es, wenn der Tatort >konterminiert< würde. Schon gar nicht von irgendwelchen Laien. Am Ende würden wir noch des Mordes verdächtigt werden! Ruhig bleiben, befahl ich mir, soweit würde es sicher nicht kommen.
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Nachdem sie die anderen Räume durchsucht hatten, wurden die Mitglieder der Musik-AG noch ein Mal befragt. Wenn auch die Ergebnisse dieselben waren, die wir erzielt hatten. Jeder Befragte wurde auf sein Zimmer geschickt.
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Emil Schulz, Stephens Patenonkel, leitete fortan die Ermittlung im Ferienhaus. Der modisch gekleidete Mann, der sich beim BKA als Oberkommissar einen Namen gemacht hatte, war mir in der Bäckerstraße 21B häufiger begegnet gewesen. Seine dortige fröhliche und zuvorkommende Art, hatte er am Tatort bisher vermissen lassen. Und mir so einiges Unbehagen bereitet.
Ich ging in Stephens Zimmer auf und ab. Eingesperrt wie ein Tier im viel zu kleinen Käfig, schienen sich meine Gedanken wie meine Schritte im kleinsten Kreise zu drehen.
Stephen lag entspannt mit verschränkten Armen auf dem Bett. Es schien ihn wirklich nichts auszumachen von seinem Patenonkel so harsch angegangen zu sein.
Wir hatten einen Fehler gemacht, ganz klar. Ich hatte mich mitreißen lassen. Die Abmachung von der Stephen sprach, hatte es offensichtlich nie gegeben.
"Nein, du wirst sehen.", äußerte Stephen mit geschlossenen Augen. "Schulz wird in fünf Minuten hier hereinkommen und uns entgegenkommen, wie du es nicht erwarten würdest."
"Nicht sehr glaubhaft.", knurrte ich, "Woher willst du das wissen?"
"Gedulde dich."
Fünf Minuten waren vergangen, es klopfte an der Tür und Oberkommissar Schulz trat ein. "Ich ziehe dich gegebenenfalls zu einem Fall hinzu, du ermittelst aber nicht auf eigene Faust!", äußerte Schulz streng, als er die Tür hinter sich mit lautem Krach zuschlug.
"Sie haben die Tür geschlossen, wie ich höre.", erwiderte Stephen, der seine Augen erst jetzt wieder öffnete. "Dann können wir unser Theaterstück beenden und in die Krisenbesprechung gehen." Sich an mich wendend ergänzte er: "Schulz und ich haben seit einem Mordfall eine kleine Abmachung. Er macht mich zur Schnecke, wenn er mich an einem Tatort sieht, dafür darf ich bei der gesamten Ermittlung mitwirken. Es ist vielleicht am Rande der Legalität, aber unser Ermittlungserfolg gibt uns recht."
"Aber nur wenn ich ratlos bin.", knirschte Schulz, der wusste, dass ihm diese Geschichte irgendwann den Kragen kosten könnte.
"Was Sie gerade sind." Stephen hatte sich aufgerichtet, legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete sein Gegenüber. Vielleicht wie ein Krokodil, das auf seine Beute lauerte, oder war es der Blick eines Raubvogels? Eines Habichts vor dem Beutefang? Schulz verstand die Musterung, er kannte den Ausdruck seines Patenkinds nur zu gut.
"Du hast also schon herausgefunden, wie der Schlüssel wieder herein gelangt ist?"
"Ja. Haben Sie getan, was ich Ihnen empfohlen habe?"
"Natürlich. Wir haben Tinas Kassettenkoffer, Tobias Anglertasche und Sebastians Kulturbeutel vorerst sicher gestellt. Auch wenn ich noch nicht ganz..."
Schulz wurde unterbrochen, denn das Licht fiel plötzlich aus. Der Schnee hatte einen Strommast, welchen das Haus mit dem Stromnetz verband, beschädigt, sodass wir vorerst im Dunkeln saßen.
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Um fünf Uhr Abends war es schon, die Dunkelheit hatte auch dieses Mal das Haus in Beschlag genommen.
Dieser Detektiv hatte dieselben Fragen gestellt, wie die Polizei. Eigentlich hätten sie auch ihre Arbeit zusammenlegen können.
Sebastian saß in seinem Zimmer, als der Strom ausfiel...
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Der Himmel wollte es...
Das Haus hatte sein Licht verloren.
Der Habicht sollte zuschlagen, jetzt!
Der Himmel wollte es...
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War da gerade ein Schatten vorbeigehuscht? Nein, das konnte nicht sein. Er sah schon Gespenster! Auf dem Balkon war niemand. Oder doch?
Sebastian blickte angestrengt aus dem Fenster. Die wild zuckenden Schneeflocken, hinter der beschlagenen Scheibe, nahmen ihm die Sicht.
Zwecklos. Er musste das Fenster wohl öffnen.
"Tobias? Tina? Wir sollten unser Zimmer nicht verlassen.", sagte er in die Dunkelheit. Das aufflackernde Polizeilicht hüllte eine Gestalt in schauriges Blau...
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Ein Schmerzensschrei ließ uns aufhorchen. Stephen und Schulz hatten den Raum bereits verlassen und eilten in Richtung Sebastians Zimmer. Sie rissen die Tür auf und fanden Sebastian am Boden liegen. An seinem Schulterblatt befand sich eine lange, gerade Schnittverletzung.
"Wer war das?"
"Der Rote Pferdeschwanz.", stöhnte der junge Mann.
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Stephen und Schulz inspizierten noch ein Mal die Räume von Tina und Tobias. Spuren von Schnee oder Indizien für eine mögliche Verkleidung, als Roter Pferdeschwanz, konnten sie nicht finden.
"Seltsam.", äußerte Schulz, "Ich war mir sicher, einer der beiden hätte Sebastian angegriffen. Aber es ist natürlich auch möglich, dass Sebastian einen Angriff vortäuschte um den Verdacht von sich abzulenken."
"Ausgeschlossen.", entgegnete Stephen. "Es war ein waagerechter, gerade Schnitt über das Schulterblatt. Das ist einfach nicht möglich."
"Aber wer war es dann?", fragte Schulz, der dem Schockgebrabbel der Zeugen von irgendwelchen mordenden Geistern keinen Glauben schenken wollte.
Stephen ging zum Fenster und schaute hinaus in das umher sausende Schneegestöber.
"Ostwind kommt auf, Schulz. Ein Wind wird auf uns zustürmen und wird versuchen uns mitzureißen. Wir sollten uns wappnen..."
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Wir hatten uns in Folge des Angriffs alle im Esszimmer eingefunden. Die wenigen Kerzen, die wir finden konnten, reichten ohne hin nur für die Ausleuchtung eines Zimmers. Ich verarztete die Schnittwunde von Sebastian. Ein sauberer Schnitt und glücklicherweise nicht sehr tief.
"Es wird gleich etwas brennen."
"In Ordnung.", erwiderte mein Patient.
Stephen richtete sich an Schulz, der ein Handygespräch gerade beendet hatte. "Der Strom ist also auch in drei anderen Ferienhäusern zusammen gebrochen?"
"Ja."
"Damit ist auszuschließen, dass der Angreifer den Stromausfall herbeigeführt hat. Er hat ihn schlichtweg genutzt."
"Ich habe vorhin von den Streichen hier gehört. Anders, als die anderen Einbrüche in der Gegend."
"Andere Einbrüche?", fragten Stephen und Tea.
"Ja. Jedes Jahr zu dieser Zeit wurden hier die Schlösser verschiedenster Ferienhäuser geknackt. Scheinbar wohnte jemand zeitweise darin. Der Rote Pferdeschwanz wird es aber nicht sein."
"Was, wieso?", entgegneten Tobias und Tina.
"Weil er schon gefunden wurde. Sein Skelett konnte ihm, mittels DNA-Untersuchung zugewiesen werden. Es schien schon einige Jahre in dem Tümpel, wo wir es fanden, zu liegen. Auch die Rubine seines letzten Raubzugs fanden sich dort. Eine Presse-Mitteilung sollte noch erscheinen."
"Wer hat dann Sebastian angegriffen? Sein Geist?"
Auf Tobias Reaktion verdrehte Stephen nur demonstrativ die Augen. Es war klar, dass sich jemand für den Roten Pferdeschwanz ausgegeben hatte.
Nur wer? Die Person, welche die Streiche spielte? Der Mörder von Ben? Oder eine ganz andere Person?
Allein Stephen schien es zu wissen.
"Wenn es wirklich ein Geist war? Wie sollen wir uns dagegen wehren?" Tina schien an ihrer Theorie des meuchelmordenden Geistes noch immer festzuhalten. Ein Luftzug ließ die Kerzen erlöschen. Es wurde Dunkel und schleichende Schatten griffen nach uns. Sie führte aus: "Gegen Geister kann man nichts machen! Wir müssen hier weg oder wir werden hier alle sterben!"
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