Tausend Menschen, die auf ihren Zug warten um zum Ziel zu kommen.
Das war eine Lüge, eigentlich muss es heißen:
Millionen Seelen, die auf ihren Zug warten, um zu ihrem Ziel zu kommen.
Menschen, die sich dort treffen, und sich in die Arme fallen – vielleicht das Ziel.
Menschen, die auf der Anzeigetafel das Ziel sehen – vielleicht der Weg zum Ziel.
Menschen, die die Zeit des Wartens mit Rauchen verbringen – vielleicht ein Weg zum Ziel.
Menschen, die warten. Warten. Warten – vielleicht das Ziel.
Ich stehe auch am Gleis.
Es ist ja auch immer wichtig, zu erwähnen, wo man genau am Bahnhof steht.
Es gibt Menschen, die direkt vor der Linie stehen. Die Sicherheitsbedürftigen.
Und die Menschen, die hinter der Linie stehen. Die Risikobedürftigen.
Die Menschen, mit Kaffee in der Hand. Die Beschäftigungssuchenden.
Die Menschen, die Rauchen. Sonst zittern sie vielleicht zu sehr.
Die Menschen, die sich mit anderen unterhalten. Carpe diem, sie nutzen den Moment.
Und natürlich die Generation Smartphone – damit lässt sich die Zeit am besten überbrücken, sie zählen zu den introvertierten Menschen. Ob beschäftigt oder nicht, sie sind introvertiert.
Man sieht also – Millionen Seelen, mit Millionen von Intentionen, und Millionen von Zielen.
Ich stehe sehr gerne weiter vor der Linie, und oute mich somit als Sicherheitsbedürftig.
Nicht, dass ein Zug meinen Leib mitzieht, wo ich garnicht hin will.
Nicht, dass ich im Weg stehe, wenn jemand das Risiko ausreizen will.
Nicht, dass ich den vorrangig Sicherheitsbedürftigen im Weg stehe.
Nicht, dass ich im Weg stehe.
Ich schaue mir dann sehr gerne die Menschen an. Die Sicherheitsbedürftigen, Risikobedürftigen, die Kaffeetrinker, die Raucher, die Extrovertierten und auch die Introvertierten.
Und ich stehe sehr oft am Bahnhof, aber ich fahre nicht mit dem Zug, dem schnellen Zug, der Bimmelbahn, oder dem Zug, der weder lange noch kurz zu seinem Ziel fährt.
Warum?
Ich habe mein Ziel schon gefunden!
Ich stehe jeden Tag an diesem Bahnhof.
Und an jedem Tag steht mir dort ein Mensch am gegenüberliegenden Bahnsteig.
Und wir beide stehen weiter vor der Sicherheitslinie.
Und wir beide fahren nicht mit dem Transportmittel zum Ziel.
Und wir beide beobachten gerne Menschen.
Aber am liebsten beobachte ich ihn.
Er ist ein hübscher Mann, er müsste so um die 25 sein, also ein wenig älter als ich.
Er hat goldbraune Haare, ein kantiges Gesicht, und eine sportliche Statur.
Aber was mich am meisten an ihn interessiert – sein Gesicht ist gekennzeichnet.
Und das sehe ich auch ohne eine gefurchte Stirn, zusammengepresste Lippen, eine vor Ekel gerümpfte Nase, hervortretenden Wangenknochen, und leeren Augen.
Er scheint viel durchzumachen, aber er lacht trotzdem.
Und jedesmal lacht er mich auch an.
Etwas, wozu ich leider nicht im Stande war.
Er ist ein sehr begehrenswerter Mann, ich wette, dass da wo er herkommt, die Menschen sich an seinem Erscheinen sehr erfreuen. Wie auch immer sie das dann ausführen.
Ich erfreue mich jedes mal an seiner Anwesenheit. Und das ist mein persönliches Ziel.
Wir haben noch nie ein Wort gewechselt.
Aber dennoch sind wir eine Konstante.
Die Menschen kommen und gehen, und jedes Mal ist der Funke Risiko der uns verbindet vorhanden, dass einer von uns auch geht.
Aber das tuen wir witzigerweise nicht.
Jeden Tag treffen wir uns, ohne jemals ein Wort miteinander gesprochen zu haben.
Das erfüllt mich mit Glück.
Ich möchte seine Geschichte wissen, wissen, warum er so gekennzeichnet ist, und warum er das so distanziert, aber vorhanden, nach außen trägt. Möchte wissen, warum er mich ständig anlächelt. Möchte wissen, wer er ist. Und möchte wissen, ob er mich mag.
Wenn man einen Menschen lange genug beobachtet, und dessen bin ich mir sicher, kann man ihn auch ohne ein gesprochenes Wort lieben.
Man liebt dann nicht das, was man sieht, man sieht in den Menschen hinein.
Man ist nicht auf wesentlich unwichtigere Dinge angewiesen, das hat man alles schon erlesen.
Diese Art von Liebe ist mein Weg und mein Ziel, weil er in mir ließt, und er alles in mir ausfüllt.
Ich denke, dass das noch sehr lange so bleibt.
(2 Wochen später)
Etwas unfassbar fassbares ist geschehen.
Nachdem wir uns mittlerweile seit einem Monat für Stunden betrachteten,
war er an einem Tag nicht da.
An der Stelle, wo ich stand, war eine Grube eingelassen worden, und mein Name war eingeritzt.
Ich weiß nicht mehr, was für Menschen am Bahnhof stehen, ich schätze, es sind immernoch dieselben. Aber ich führe kein Buch mehr darüber.
Mein Buch ist in mir, und das führe ich über den schönen Mann.
Er war nicht gekommen.
Ich kam und ging immer nach Gefühl, von der Zeit haben wir uns nie leiten lassen.
Nur wusste ich dann irgendwann, dass es zu spät war, es war Zeit, nachhause zu gehen.
Aber ich hatte doch alles in ihm gesehen. Ich war bereit, die Nacht lang zu warten.
Ich saß auf einer Bank, die exakt zwei Meter hinter meiner Grube stand.
Irgendwann schlief ich, und wurde auch wieder wach. Er war immernoch nicht da.
Kein Wunder, es war ja auch mitten in der Nacht.
Aber gehen wollte ich nachwievor nicht. Wohin?..
Also saß ich schlaftrunken weiter auf meinem Aussichtspunkt.
Bis ich bemerkte, dass ich in einer Jacke saß.
Ich durchsuchte die Jacke, bereit, ein Zwischenziel zu haben – sie zu ihrem Besitzer zurück zu bringen.
Ich fand einen Zettel.
'' 5 ''
Toll. Was sollte das werden? Ich rollte mit den Augen.
Während man mit den Augen rollt, kann man gefühlt 180 Grad weit sehen, über den Horizont hinaus, sozsuagen.
Er hatte das Gleis gewechselt?!
Aber er war da. Ich atmete aus.
Er lachte, und winkte mich zu sich.
Mein Herz pochte. Nein, es pochte nicht nur, es sprang regelrecht gegen meine Rippen, kaum erwartend, dass ich auf ihn traf. War es soweit? War ICH bereit? Was auch immer kommen sollte. Ich war bereit.
Ich erhob mich, und starrte ihn an. Aber ich war frei, kein negativer Einwand oder Gedanke erfüllte mich. Ich war ich, die Quintessenz aus allen alltäglichen Einflüssen und Persönlichkeitsfacetten.
Wie von allein stieg ich die 85 Treppen hinunter, aber mein Herz ward schwer, und ich brauchte eine Pause.
Plötzlich tobten die Gedanken in mir, wie noch nie.
Wer ist er?
Ist er wer?
Was will er?
Will er was?
Wo kommt er her?
Kommt er wo her?
Was passiert jetzt?
Passiert jetzt was?
Wo gehen wir hin?
Gehen wir irgendwo hin?
Ich stieg die Treppen wieder hoch, in bitterem Kampf mit meinen Gedanken, die verschwinden sollten.
Ich erkannte seine Silhouette.
Ich stand auf einer Ebene mit ihm, wie die vielen Wochen zuvor auch.
Und ich sah in sein gekennzeichnetes Gesicht, und mein Kopf wurde leer und leerer.
Ich empfand.
Aber ich empfand soviel, ich wurde schwach obwohl ich im gleichen Moment wusste, dass ich gefestigt war.
Er lächelte. Oh, und wie er lächelte. Er hielt mir seine Hand hin.
Seine Hand hatte Furchen, viele Flecken, und einige Striche.
Ich legte meine ebengleiche hinein.
Und dann fiel ich.
Ich fiel.
Ich fiel.
Ich fiel.
Und ich fiel so leicht.
Und als ich wach wurde, waren wir in seiner Grube. Später erklärte er mir, dass meine zugeschüttet wurde, just in dem Moment als ich ging, und er selbst an Gleis 5 eine gemeinsame Grube errichtet hatte.
Und dort wohnen wir jetzt.
Und wir verbringen seit Jahren die Zeit damit, uns anzuschauen, wir stehen vom Boden auf, oder wir lassen uns sein.
Bis ich seine Schulter an meiner, seine Arme um mich, seine Lippen auf meinen, und auf anderen Stellen spüren konnte, verging eine lange Zeit.
Jedesmal, wenn er mich berührte, fiel ich in Ohnmacht, weil ich von meinen Gefühlen überwältigt war, und das ist die Essenz, die uns am Leben erhält.
Dieses Mal brauchte es nicht die drei Worte.
Oder den Ausspruch ''Sind wir jetzt zusammen?''
Wir waren es ab dem Moment, wo wir uns gesehen haben.
Und selbst wenn wir uns irgendwann trennen sollten, werde ich mein Leben lang an diesem Gleis warten.