»Erinnerst du dich? Wir stürmten über riesige aufgefegte Berge. Hielten uns für unbesiegbare Helden.«
Kayden bückte sich und hob ein herbeigewehtes Blatt in die Höhe. Sonnenstrahlen brachen sich durch winzige Löcher. Wie die Flügel von Fledermäusen. Kleinstes Astwerk umspannt zu einem Ganzen. Wahrhaftig lag Magie in der Natur. Wie sollte man anders sonst die vielen Dinge benennen, die einen erfreuen konnten?
Der Sommer verabschiedete sich und machte Platz für seinen Winter ankündigenden Bruder. Es wurde spürbar kälter und die Pflanzenwelt schillerte in bunten Farben.
Bis auf die ganzjährig grünen Nadelbäume wandelte sich das Haupt der übrigen Arten und zauberte gelbe, rote wie braune Symphonien, die schlussendlich steife Brisen zu Boden schüttelten.
»Wir waren Kinder.«
Veyed gluckste und legte seine linke Hand auf die Schulter seines Bruders. »Ja, das waren wir. Ich frage mich, was hat es uns eingebracht, erwachsen zu werden?«
»Ich glaube, wir haben viel erlebt, du und ich.«
»Aber auch einiges verloren«, gab er kleinlaut obenauf.
Um das Thema zu wechseln, wendete sich Kayden zu Veyed und sah ihm tief in die Augen. Er wollte sich nicht in den Schmerz der Vergangenheit begeben, wachte er des Nachts oftmals schweißgebadet auf, weil ihn die Erinnerungen noch immer plagten. »Wir müssen etwas unternehmen. Es wird stetig schwieriger gefälschte Botschaften zu überbringen und mich beschleicht ein ungutes Gefühl.«
»Deine Empfindungen in allen Ehren, Kay. Sprechen da wieder die Sinne deines zweiten Ichs oder veränderst du dich Stück um Stück zu etwas ... anderem?«
»Weder noch. Ich habe erst kürzlich mit Kiraa über mein Verhalten geredet. Sie meinte sich erinnern zu können, dass es bei ihrem Volk ähnlich klingende Überlieferungen gäbe.«
Veyed stutzte und verzog ungläubig die Partien um die Augen herum. »Ah, was wiederum belegt, dass du ein verdammter Blaubluter bist. Ist richtig.«
»Sieh es doch einmal anders Veyed. Wer sagt uns denn, dass es nicht die Thulenen waren, die hier einst lebten und dies alles ...« Allumfassend weitete er seine Arme aus, um das gesamte Areal anzudeuten. »... erbauten. Es waren zweifelsfrei nicht unsere Leute, soviel steht fest. Die Erbauer wuchsen um mindestens einen Kopf größer als wir. Die reinblütigen Thules kommen den Beschreibungen nach auf dieses Maß.«
»Und?«
»Schau dir Serfem oder Kiraa an. Mehr noch Kiraa. Beide sind Mischlingsgeburten und im Laufe der Generationen ähneln sie mehr uns, als ihrem eigenen Volk.«
Veyed winkte ab, schülpte dabei die Lippen und hob die Brauen. »Ich glaube, du solltest die nächsten Trainings absagen. Du hast offensichtlich zu oft was vor den Kopf bekommen. Klar, wir sind, nein waren, einmal Thulenen oder so etwas in der Art.« Er drehte sich bereits zum Gehen und zeigte ihm einen Vogel. »Wie Pa' schon immer sagte ... du hast zu viel Fantasie.«
Kayden schnaubte, senkte den Blink und widersprach kopfschüttelnd. »Kylion bespricht sich mit Serfem und Ron. Sie haben die üblichen Wegstrecken zusammengetragen und beraten sich. Lass uns lieber dazustoßen.«
»Themenwechsel? Einverstanden.«
Der Hauptmann einer nahezu komplett gekauften Truppe unter Sold stürmte die Stufen zum Fried hinauf. Abermals, wie so oft in den vergangenen Monaten, fluchte er lautstark. »Verdammte Bastarde. Weinerliches Pack. Abschaum räudiger Hündinnen.«
Die Burg, einster Hauptsitz der Familie Berengar, diente nunmehr seit Jahren dem selbst ernannten Lord Bestlin. Dieser entriss dem durch die Invasion geschwächten Haus die Zügel. Mittels List, Betrug und falschem Zeugnis verschaffte er den einfallenden Massen Thules einen strategischen Vorteil. Diesen wussten die damaligen Hauptmänner zu nutzen und gewährten ihm als Anerkennung seiner Dienste lange Leine. Einzig den Obristen, direkte Untergebene der göttlichen Herrscherin selbst, hatte er sich zu unterwerfen und unterlag ihrer Gunst.
Seit dem Vorfall vor einigen Jahren, als Bestlin seinen abstoßenden Gelüsten nachgehen wollte, bestand ihre Stellung auf fragwürdigen Beinen. Die Söhne des Großbauern Klarichs verschwanden bei einer befohlenen Zuführung in die Rotte des Lords in diesem von Geistern heimgesuchten Wald.
Sie galten als tot, nichts und niemand entkam den Schatten der Bäume, und ihr Vater rang Bestlin teure Zugeständnisse ab. Die Obristen der beiden großen Städte Agreas bestimmten dem Ansinnen und schmälerten weithin Zugriffsrechte. Weiterhin mussten einige Scharen abgestellt werden, die die Wälle des neu aufgebauten Weilers zu bemannen hatten. Gleichfalls erhielt Bestlin Order, in regelmäßigen Abständen berittene Schwadrone das Umland durchstreifen zu lassen.
Der Lord stand wie so oft in letzter Zeit mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Sein Blick stur gerade aus. Was er von seinem Standort aus durch das große Fenster zum Innenhof hin betrachtete, konnte sich der Eintretende nur vorstellen.
»Eure Lordschaft.«
Tief atmete Angesprochener ein, hielt es hingegen nicht für nötig, sich dem Ankömmling zuzuwenden. Dieser blieb abrupt stehen.
»Schließt die Tür Hauptmann. Der Kamin brennt nicht, um die Gänge außerhalb dieses Raumes zu beheizen.«
»Gewiss mein Lord.«
»Was ist so wichtig, mich von meinem Gespräch mit einem Gesandten Holmfirth zu unterbrechen?«
»Lasst gut sein, Lord Bestlin. Wohlmöglich sind die Informationen ja auch für den Obristen von Interesse?«