Den ganzen Abend verbrachte ich mit Hausaufgaben. Zumindest versuchte ich es, doch das Bild von Tiger mit der Sahne an der Lippe wollte nicht vor meinem geistigen Auge verschwinden und so gab ich auf. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und ergab mich meinem Kopfkino.
Als meine Mutter mich zum Abendessen rief, war ich außer Atem und verlegen angesichts dessen, womit ich die letzte halbe Stunde verbracht hatte. Ich verschwand in meinem Badezimmer und wusch mir die Hände, bevor ich nach unten ging.
Mein Vater verbarg sein brummiges Gesicht in der Zeitung und meine Schwester zappelte bereits, weil sie mal wieder hungrig wie ein Bär zu sein schien. Ich half meiner Mutter, die letzten Schüsseln auf dem Tisch abzustellen und schweigend aßen wir. Das war bei uns so üblich. Erst wurde in Ruhe gegessen und zum Dessert unterhielten wir uns für üblich miteinander.
»Was machen denn eure Austauschschüler, Benny?«, fragte meine Mutter und schob mir die Vanillesoße für meine Grütze rüber.
»Ihr Deutsch wird immer besser und unser Englisch auch.«
»Und sonst? Haben sie sich eingelebt? Ist bestimmt schwierig, so weit weg von zuhause.«
»Hmhm.«
»Lilli sagt, du hast dich mit dem Jungen... angefreundet?«
Ich bekam einen roten Kopf, ganz ähnlich meiner roten Grütze und verschluckte mich hustend. Es war klar, dass dieses Thema zur Sprache kommen würde. Lilli grinste hämisch und wartete, was nun weiter geschehen würde.
»Jaaah... aber nicht so, Mama. Er ist nicht mein Freund, egal, was Lilli euch erzählt hat. Also ich meine, ich bin nicht mit ihm zusammen.«
Meine Mutter lächelte und ich konnte sehen, dass meine Schwester erneut nicht zufrieden war. Anscheinend hatte sie gedacht, dass meine Mutter, wenn schon nicht mein Vater, an die Decke gehen würde. Aber meine Mutter war ein viel milderer Mensch als mein alter Herr.
»Ok, aber stimmt es denn? Du... magst lieber Jungs?«
Mir wurde warm bei der Erinnerung, was ich bei dem Gedanken an Tiger getan hatte und nickte schließlich zögernd.
»Ich... weiß noch nicht genau, aber ich glaube schon, ja. Tut mir leid...« Ich hielt den Blick gesenkt.
»Tja Dirk... dann werden wir von Benny schon mal keine Enkelkinder bekommen.«, hörte ich meine Mutter sagen und mein Vater lachte brummend.
»Umso besser, dann wird es nicht so teuer, andauernd Geschenke für die Kleinen zu kaufen.«
Sie lachten beide und ich hob überrascht den Kopf. Ich hatte mich gerade vor meiner Familie geoutet und sie steckten das einfach so weg? Naja, von Lilli mal abgesehen, die sich mehr Tumult gewünscht hätte. Ich lächelte und fühlte mich erleichtert. Meine Schwester erhob sich und funkelte mich an.
»Das ist alles? Ist das euer Ernst? Benny hat gerade gesagt, dass er eine Schwuchtel ist und ihr... sagt nichts?«
Es stieß mir bitter auf, dass Lilli so abfällig davon zu denken schien und auch meine Eltern sahen sie erstaunt an.
»Lilli, Schatz, das ist etwas, was Benny nicht beeinflussen kann und da nützt es auch nichts, sich darüber aufzuregen. Es würde ihm alles nur noch schwerer machen.«, versuchte meine Mutter, sie zu beruhigen, doch sie schob ihren Stuhl nach hinten und stürmte aus dem Zimmer.
»Mein Bruder ist ein Popobumser und alle finden das toll! Super. Wo bin ich hier, Alter?!«, motzte sie durch den Flur, bevor ihre Zimmertür zuschlug. Meine Eltern und ich blieben wie vom Donner gerührt sitzen, bis mein Vater seufzte und meine Mutter ihre Hand auf meine legte.
»Ich dachte, wir hätten euch beide tolerant erzogen, aber scheinbar ist der Einfluss ihrer Freunde doch stärker. Mach dir nichts draus, Benny, sie wird sich damit abfinden. Immerhin musst du damit leben und nicht sie.«
Ich nickte und räumte mein Geschirr in den Spüler. Im Grunde war es mir egal, was Lilli darüber dachte. Sollte sie sich doch wie eine unreife kleine Göre benehmen. Vielleicht hatte sie nur Schiss, dass sie durch mich nun noch mehr Konkurrenz bekommen hatte oder was auch immer in ihrem Rosa-Fluff-Hirn so vor sich ging. Meine Mutter hatte Recht. Ich musste damit leben, nicht auf Frauen zu stehen, nicht sie. Sollten ihre unterbelichteten Freunde doch über mich herziehen. Sowas war ich auch gewöhnt.
»Ich geh wieder hoch, ich muss noch was für nächste Woche tun... ach und ist es ok, wenn ich morgen auf den Weihnachtsmarkt gehe... mit Tiger?«
Meine Mutter lächelte nur und mein Vater brummte zustimmend hinter seinem Sportteil.
»Stell ihn uns doch mal vor. Ich wollte schon immer mal einen echten Engländer sprechen hören. Die sollen doch so einen hübschen Akzent haben.«
Ich musste schmunzeln, denn einen süßen Akzent hatte Tiger wirklich. Nickend versicherte ich meiner Mutter, ihn zum Kaffee einzuladen, warnte sie aber schon mal vor, dass er Süßes und Kuchen über alles liebte und Unmengen davon vernichten konnte.
»Das macht nichts, ich backe extra einen Kuchen, wenn er möchte. Kommt doch schon morgen, dann lohnt sich das Einkaufen gleich richtig.«
Ich nickte und trabte wieder die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Ich war pappsatt, mir war wohlig warm und ich fühlte mich um Tonnen von Gewicht erleichtert. Meine Eltern hatten kein Problem mit mir, meine Schwester konnte mir den Buckel runterrutschen und ich durfte Tiger morgen sehen und sogar mitbringen. Ich setzte mich auf mein Bett und starrte grinsend an meine Decke.
Energisch musste ich mich selbst daran erinnern, dass Tiger nur ein Freund war, nicht mein Freund. Denn ich wollte ihn nicht damit vertreiben. Ich wusste nicht, wie er zu Homosexuellen stand. Er machte immer einen so offenen Eindruck und ich hatte ihn bis jetzt auch nur so erlebt, aber es kam auch noch nie das Thema auf Homosexualität. Besorgt nagte ich an meiner Lippe.
Tiger hatte sicher nichts dagegen, morgen nach dem Weihnachtsmarkt mit zum Kaffee zu kommen, wenn er hörte, dass meine Mutter ihm extra einen Kuchen backen wollte. Doch ich hatte Sorge, dass Lilli ihre Klappe nicht würde halten können.
Die ganze Grübelei machte mich ungeheuer müde und so lag ich bereits um 21 Uhr unter meiner Bettdecke und schlief tief und fest.
Ich wartete am nächsten Tag auf Tiger und bewunderte den noch immer fallenden Schnee. 12 Uhr verstrich und ich tappte von einem auf den anderen Fuß, weil mir kalt wurde. Hatte er es vergessen? Oder mich versetzt? Ich spürte, wie mein Herz schwer wurde, doch es begann zu rasen, als ich hastige Schritte hörte und er im Schneegestöber sichtbar wurde. Sein Gesicht war rot und er hatte Eisblumen in seinen schwarzen Haaren, die zum Teil unter einer Mütze vorlugten. Schlitternd und rutschend kam er vor mir zum Stehen und stemmte sich schwer atmend auf seine Knie.
»I’m so sorry, I slept over«, röchelte er halb und lachte mir dann ins Gesicht. Ich musste lächeln.
»It’s ok.« Ich würde mich hüten, ihn wissen zu lassen, dass ich ungeduldig auf ihn gewartet hatte, denn ich wollte nicht wie ein verliebtes Hündchen wirken. Ich setzte mich in Bewegung, denn von uns aus war es nicht weit bis zu dem Platz, wo jedes Jahr der Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Ich hatte extra das Mittagessen ausfallen lassen, weil ich mich auf die Crèpes freute. Auch Tiger sah hungrig aus, denn wenn er verschlafen hatte, hatte er sicher nicht gefrühstückt. Er roch allerdings gut, also hatte er wohl eine hastige Dusche genommen.
»Meine Mutter möchte dich für nachher zum Kaffee einladen. Was sagst du? Sie backt einen Apfelkuchen.«
Tigers hellbraune Augen begannen zu funkeln und ich grinste, denn ich wusste, mit dem Kuchen hätte ich ihn in nicht mal einer Sekunde.
»Yes. Sehr gern. I really would like to meet your family«, nickte er und schob die Hände tief in seine Jackentaschen. Die Mütze auf seinem Kopf gab ihm etwas Bubenhaftes und ließ ihn noch frecher erscheinen. Ich zwang mich, ihn nicht zu lange anzustarren und schweigend stapften wir durch den Schnee, den die Räumdienste dusseligerweise halb auf die Gehwege geschoben hatten. Die engen Wege zwangen uns, teilweise etwas zusammenzurücken und so gingen wir meterweise Schulter an Schulter. Mein Herz tanzte in meiner Brust und ich hatte, ob wegen der Kälte oder deswegen, Schwierigkeiten, ruhig zu atmen.
»Today’s fucking cold, isn’t it?«, murmelte er in seinen Jackenkragen und ich nickte nur. Meine Nase fühlte sich an, als würde sie bei der ersten Berührung abfallen und ich spürte meine Finger nicht mehr. Als ich Tiger dies sagte, schob er seine Hand mit in meine Jackentasche. Seine Finger waren warm, fast heiß im Gegensatz zu meinen Eiskrallen und ich entspannte mich etwas, während mein Herz zu einer zweiten Runde Polka ansetzte. Er hielt meine Hand!!!
In dieser Haltung betraten wir den Weihnachtsmarkt und Tigers Augen strahlten wieder einmal.
»Oh, how beautiful«, hauchte er und lächelte mich an. Sie hatten sich dieses Jahr wirklich selbst übertroffen mit der Aufmachung des Marktes. Er war etwas kleiner als sonst, nicht so überlaufen und im Zentrum stand ein großer, leuchtender Baum, der von einem Ring aus weiteren Girlanden und Mistelzweigen gesäumt war.
»So... now we need to get you some wine or else to rescue your dying fingers. Come on.« Tiger umschloss meine Finger in der Jackentasche fester und zog mich mit sich, wobei unsere Hände aus der Tasche rutschten. Nun konnte jeder sehen, dass wir einander an den Händen hielten, was mich verlegen machte. Aber niemand achtete darauf. Wir waren einfach nur zwei Kumpels auf dem Weihnachtsmarkt, oder?
Er kaufte für uns jeweils einen Krug mit Glühwein und gleich etwas zu essen, damit der uns nicht besoffen machte. Das warme, würzige Getränk und die Bratwurst taten Wunder mit meinen eiskalten Fingern, meinem knurrenden Magen und meiner gesamten körperlichen Verfassung. Durch die Hitze im Magen fror ich gleich viel weniger und als wir weitergingen, war es nicht mehr nötig, dass Tiger meine Hände wärmte. Eine Tatsache, die ich eigentlich zutiefst bedauerte, denn es war schön.
»Lass uns sehen, wo wir Nussknacker kaufen können. Mein Vater sagte immer, er wollte einen deutschen Nussknacker. Oder eine ... äh... Kuckucksuhr. Aber die sind teuer, oder?«
Ich nickte. Wenn Tiger auf einem Weihnachtsmarkt eine Kuckucksuhr würde kaufen wollen, wäre sein komplettes Geld weg. Nussknacker waren da schon billiger. Wir fanden nach ein bisschen Suchen einen Stand und er kaufte einen niedlichen kleinen Holzmann, der locker für Haselnüsse groß genug war. Sicherlich würde sein Vater diesen aber nicht zum eigentlichen Zweck verwenden, sondern als Deko haben wollen.
»So, now... do you need something for your family?«
»Nein, ich hab schon alles zusammen.«, entgegnete ich und nahm auf einer Bank Platz, um meine Beine auszustrecken. Es war anstrengend, auf dem schneeigen Boden zu laufen, selbst wenn der mit Sägespänen rutschsicher gemacht wurde.
»Meine Beine tun weh.«, maulte ich leise und hörte Tiger nur lachen, der noch immer stand und sich umsah. Ich hockte auf einer Bank direkt vor dem großen Weihnachtsbaum und es schneite noch immer. Der graue Himmel hatte noch keinen Sonnenstrahl durchgelassen, was aber zu der Stimmung passte. Wegen mir hätte es noch ein bisschen dunkler sein können, um die Lichter etwas mehr zur Geltung zu bringen, aber insgesamt war es ein schöner Vorweihnachtstag.
»Oh...«, machte Tiger plötzlich und ich hörte ihn erneut kichern.
»Was ist?«, fragte ich, als er plötzlich vor mir stand, auf mich runterblickte, grinste und sich runterbeugte. Ehe ich mich versah, drückte er seine Lippen mit sanftem Druck auf meine und ich sah, wie er die Augen schloss. Eine nie gekannte Hitze wallte in mir hoch, als sich sein Duft in meiner Nase ausbreitete und ich senkte ebenfalls die Augenlider. Leider hielt er diesen Kuss nicht lange aufrecht und als ich ihn entgeistert, verwirrt, erhitzt anstarrte, grinste er nur und deutete auf etwas über meinem Kopf.
Ich sah nach oben und musste lachen. Dort hing ein verdammter Mistelzweig!