Ich erwachte früh am ersten Ferientag, denn ich hatte schlecht geschlafen. Mein Bett war leer und kalt und das leise Atmen Tigers hatte mir gefehlt. Mit trüben Gedanken und einem dumpfen Druck im Magen lag ich bis zum Hals zugedeckt da und starrte an die Decke. Es war noch stockfinster, gerade kurz vor 6 Uhr morgens. Tigers Flug würde um 11 gehen und obwohl ich gesagt hatte, dass ich nicht zum Flughafen kommen würde, würde ich es trotzdem tun. Ich konnte ihn nicht gehen lassen, ohne ihn noch einmal zu sehen.
Mein Vater hatte mir schon zugesichert, mich zu fahren, immerhin lag der Flughafen in der nächstgrößeren Stadt. Mit der Bahn würde ich fast eine Stunde dahin brauchen, mit dem Auto nur 20 Minuten.
Tiger würde sicherlich bald aufstehen. Er hatte mir am vorigen Abend erzählt, dass das Boarding schon ziemlich früh beginnen würde und er deswegen bestimmt schon um 9 dort auf den Abflug warten würde.
Er hatte wie immer normal ausgesehen, gegrinst und sich nicht im Geringsten anmerken lassen, dass ihm die bevorstehende Trennung naheging, doch ich hatte bemerkt, wie häufig seine Hand nach dem Kaninchenanhänger um seinen Hals gegriffen hatte. Er würde sicherlich niemals soweit gehen und deswegen heulen. Dafür war er nicht der Typ, diesen Eindruck hatte ich von ihm gewinnen können. Ich hingegen war da ganz anders.
Als wir am Tag zuvor die Schule verlassen hatten, begleitete ich ihn zum ersten Mal zum Haus seiner Gasteltern, weil er seine Geschenke nicht mit sich herumtragen wollte. Ich konnte mir ein Pfeifen durch die Zähne nicht verkneifen, als ich das Haus sah. Es war riesig, schon fast eine Villa, mit einem gepflegten Garten. Offenbar verdiente man in der Kunstbranche nicht schlecht.
»Come in, nobody’s home now. Möchtest du was trinken?« Tiger hielt mir die Haustür auf und drinnen ging der gehobene Standard nahtlos weiter. Ich sah mich um, während Tiger mich eine Treppe in den ersten Stock hochzog und ich plötzlich in seinem Zimmer stand. Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit nun doch einmal dort zu sein. Es war ein Gästezimmer, wie es üblich war. Ein breites Bett, ein erlesenes und trotzdem kitschiges Bild an der Wand, ein Schrank, eine Kommode und hier und da Kleinigkeiten, die Tiger hinzugefügt hatte, um es sich heimeliger zu machen. Unter anderem ein Bild von mir, welches er mit seinem Handy gemacht haben musste. Verwundert betrachtete ich es. Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass ich mal in seine Kamera gelächelt hätte und doch tat ich es.
»I hope you don’t mind«, flüsterte Tiger mir ins Ohr, als er seine Arme von hinten um mich legte und wir beide auf das Bild blickten.
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»I took it the evening we ate cake with your parents...«
Zu diesem Zeitpunkt waren er und ich noch gar nicht zusammen. Hatte er es gemacht, um in den zwei Wochen Weihnachtsferien mein Gesicht sehen zu können? Warum hatte ich nicht daran gedacht? Stattdessen hatte ich soziale Netzwerke gestalkt, auf denen ich selber gar nicht angemeldet war.
»Oh... I don’t have any pictures of you«, murmelte ich und hörte ihn schließlich kichern. Er drehte sich zu ihm um und sah ihn sein Handy zücken.
»So now... dann müssen wir das noch machen«, grinste er, zog mich an sich und betätigte den Auslöser. Die nächste Stunde verbrachten wir damit, Unmengen alberner Pärchen-Selfies zu machen und lachten ohne Ende. Die besten schickte er mir auf mein Handy und ich fühlte, dass ich zumindest die Sorge, dass ich sein Gesicht vergessen könnte, nun begraben konnte.
»Möchtest du etwas unternehmen? Was essen gehen?«, murmelte Tiger, als wir nebeneinander auf dem Bett lagen und eine Weile nur die Decke angestarrt hatten. Ich wollte nicht unter Menschen gehen. Ich wollte allein mit ihm sein, solange ich es noch konnte. Wollte mir keine Gedanken darum machen, mich benehmen zu müssen, weil andere zugegen waren. Und so schüttelte ich den Kopf.
»Nein... wir könnten uns einen Film auf deinem Laptop ansehen oder so...?« Er hatte seinen Computer aus England mitgebracht und Zugang zum WLAN des Hauses erhalten. Tiger nickte, stand auf und nahm das Macbook vom Schreibtisch.
»Something special? Ich habe einige Filme auf der Festplatte...«
»Etwas Lustiges.«
»Oh... Do you like “Alice in Wonderland”?«
Ich setzte mich auf und nickte, während er den Film startete, den Laptop auf den Nachttisch stellte und wieder zu mir auf das Bett kam. Aneinandergekuschelt genossen wir Tim Burton’s meisterhafte Neuverfilmung und merkten so gar nicht, wie die Zeit verstrich. Als es dunkel wurde, richtete ich mich wieder auf und zog meine Schuhe an.
»Ich denke, ich gehe lieber, oder? Nicht das du wegen mir noch Ärger mit deinen Gasteltern bekommst?«
Tiger lachte spitzbübisch.
»Oh Bunny. I’ll go home tomorrow... was sollte mir Ärger jetzt noch ausmachen?«
Ich nickte. Da hatte er auch wieder Recht. Morgen würde er von hier abreisen und diese Menschen wahrscheinlich niemals wieder sehen, von daher konnte es ihm wirklich egal sein, ob er am letzten Abend noch einen Anschiss bekommen würde.
»Don’t look at me so sadly. Come on, Ich bringe dich nach Hause.« Tiger schlüpfte in seine Boots und geleitete mich nach unten. Wir waren gerade auf dem Gehweg angekommen, als ein Wagen vor dem Tor hielt und eine Frau Mitte Dreißig ausstieg und uns bemerkte.
»Hallo ihr zwei«, kam sie uns entgegen.
»Du musst Benny sein. Tiger hat oft von dir erzählt.« Sie reichte mir die Hand und ich merkte, dass meine Wangen warm wurden. Er hatte von mir erzählt? Sogar seinen Gasteltern? Denn sie konnte nur seine Gastmutter sein.
»Ja, das bin ich.«
»Es ist schön, das Tiger in der kurzen Zeit ein paar Freunde hier gefunden hat. Es tut mir leid für euch, dass morgen schon wieder alles vorbei ist.«
Ohne es zu wollen, spürte ich, dass meine Augen nass wurden, entschuldigte mich und ging ein paar Schritte voraus. Ich hörte, dass Tiger ihr die Situation zu erklären schien und ein bedauerndes Geräusch von ihr.
Es war so ungerecht! Warum konnte Tiger nicht ein Typ aus dieser Stadt sein, wie ich auch und alles könnte so bleiben, wie es jetzt war? Schön, gemütlich, aufregend.
»You’re ok? Kathrin sagt Entschuldigung. Sie wollte dich nicht traurig machen.«
Ich schüttelte nur den Kopf, nahm seine Hand und gemeinsam traten wir den Weg zu mir nach Hause an. Es war kalt und seine warme Hand drückte meine kalte fest, als wolle er mich nie wieder loslassen.
Vor dem Haus angekommen wollte ich nicht hineingehen. Würde ich das tun, war es unumstößlich so, dass er gehen würde und ich wollte unseren letzten Moment so lange hinauszögern, wie ich es konnte. Ich war zu dem Zeitpunkt noch fest entschlossen, nicht zum Flughafen zu fahren, weil ich nicht zusehen wollte, wie das Flugzeug abhob und ihn mir wegnahm. Und so war für mich dieser Moment vor der Haustür der letzte gemeinsame mit ihm.
»I don’t want to go«, murmelte er und zog mich an sich. Ich zitterte, fror und meine Beine taten weh, doch das nahm ich in Kauf. Ich wollte, dass die Zeit stehen blieb, wollte sterben, wollte versuchen, den Moment in meinen Fingern festzuhalten wie Wasser, nur um zu merken, dass es nicht ging.
Die Erkenntnis, die eiskalte Gewissheit, dass unsere Zeit nun geschlagen hatte, traf mich so hart, dass ich zu weinen anfing und mich an seiner Jacke festklammerte.
»Hush, my Bunny, don’t you cry...«, summte er in mein Haar, während er mich einfach festhielt.
»Tut mir leid«, schniefte ich verrotzt und wischte mir die Augen an meinem Ärmel sauber. Tiger lächelte nur und legte den Kopf schief.
»You look nice.«
»Lügner.«
»I mean it. Even as a crybaby... you’re the sweetest.« Bestimmt und ohne mir Zeit für einen Protest zu lassen, drückte er seinen Mund auf meinen und ich klammerte mich wieder an seiner Jacke fest.
Es war der letzte Kuss, den ich bekommen sollte, so fühlte es sich an. Wie ein Abschied. Bittersüß und traurig.
»I have to go... Es ist spät und du bist schon ein Eiszapfen.«, murmelte Tiger an meinen Lippen, doch ich schüttelte den Kopf und zog ihn wieder an mich ran. Weitere quälende, wundervolle Minuten ließ er sich auf mich ein und ließ mir meinen Willen.
»Bunny... du wirst krank. Geh rein. Ich rufe dich an, sobald ich gelandet bin, ich verspreche es.«
Er ging ein paar Schritte nach hinten, während wir einander noch an den Händen hielten und ich hatte das Gefühl, die Kälte mit aller Macht zu spüren, als sich unsere Finger schließlich voneinander lösten.
»And remember... Ich lieb‘ dich, ja?« Mit diesen Worten und einem letzten Lächeln drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit des Abends, während ich dastand und ihm hinterher saß, bis er im Dunst nicht mehr zu sehen war.
Lange stand ich da, bis ich das Haus betrat. Drinnen wegen der Wärme aufatmend, legte ich meine Jacke ab, die nach Tiger duftete und versuchte, in mein Zimmer zu gelangen, ohne das jemand meine verweinten Augen sehen konnte. Alle wussten, dass es Tigers letzter Tag war und das ich mich hundeelend fühlen würde, doch ich wollte trotzdem nicht, dass dies jemand sah.
Doch das Schicksal meinte es nicht so gut mit mir, sodass ich direkt in meine Schwester reinrannte, die den schmalen Flur mit ihrer Masse versperrte.
»Hast du geheult wegen deinem Homo-Freund? Ist ja schwach, Alter«, machte sie mich mit einem gehässigen Lachen von der Seite an, als ich mich an ihr vorbeidrängen wollte.
»Lass mich in Ruhe.«
»Bloß gut, dann ist das Rumgevögele bei dir da oben endlich vorbei. Das war ja lästig.«
Es versetzte mir einen Stich, dass Tiger nun nicht mehr die Nächte bei mir verbringen würde und Lillis Worte machten mich gleichzeitig wütend.
»Halt deine dumme Klappe. Du verstehst rein gar nicht, wie es mir geht. Verzieh dich in deine rosarote Puppenwelt und rede erst wieder mit mir, wenn du erwachsen geworden bist. Du hast keinen Furz Ahnung davon, was es heißt, wirklich jemanden zu lieben.«
Ich schubste sie grob zur Seite, was bei ihrem Gewicht etwas an Kraft erforderte und kümmerte mich auch nicht darum, dass sie gegen die Kommode stieß und fluchte.
»Blöder Arsch«, fauchte sie, als ich schon oben an meiner Zimmertür angekommen war. Ich sah noch einmal zu ihr runter, öffnete die Tür und warf sie mit einem »Fahr zur Hölle!« hinter mir wieder zu.
Bis zum Abendessen lag ich mit Kopfhörern und lauter Musik in meinem Zimmer, die Türe abgeschlossen, niemanden sehen wollend, die Welt verfluchend. Ich weinte nicht mehr. Ich konnte es nicht. Ich war ausgebrannt. Und fasste den Entschluss, am morgigen Tag eben doch zum Flughafen zu fahren.