Es klopfte an meiner Tür und ich konnte dumpf die Stimme meiner Mutter hören. Ich verstand sie nicht und zog mir die Bettdecke vom Kopf.
»... nicht doch wenigstens ein bisschen was essen?«, hörte ich gerade noch und seufzte.
Ich war nicht zum Abendessen gegangen.
Überhaupt hatte ich mich, seit wir vom Flughafen zurückgekommen waren, in meinem Zimmer verkrochen, abgeschlossen und mit Kopfhörern Musik gehört, den Rest der Welt einfach ausgesperrt.
Verkatert setzte ich mich auf und schloss die Tür auf.
»Benny, Schatz. Ich hab dir etwas vom Abendessen aufgehoben. Du musst doch Hunger haben.«
Den hatte ich tatsächlich. Zumindest war es das, was mein Magen mir zu verstehen geben wollte, indem er fortwährend knurrte. Doch ich hatte keinen Appetit. Allein die Vorstellung, etwas zu essen, schnürte mir den Hals zu.
»Ich kann nichts essen, Mama.«, murmelte ich deswegen. Sie schüttelte rigoros den Kopf und stellte die Schüssel mit der köstlich duftenden Suppe und das frische Brot auf meinem Nachttisch ab.
»Der Appetit kommt mit dem Essen. Hat er sich denn inzwischen gemeldet?«
Womit wir bei der Ursache meiner schlechten Laune wären. Es waren Stunden vergangen seit seinem Abflug. Von uns aus flog man vielleicht 2 einhalb Stunden bis nach London, doch jetzt war es bereits nach 9 Uhr abends. Er musste schon längst angekommen sein, doch warum meldete er sich nicht? Er hatte es versprochen.
Etliche Male war ich schon davor, von mir aus anzurufen und zu fragen, ob er gut angekommen war, doch irgendetwas hielt mich zurück.
Vielleicht das Versprechen, das er gegeben hatte. Sich bei mir zu melden. Ich wollte nicht rüberkommen wie jemand, der kontrollsüchtig war. Außerdem fürchtete ich, dass die Kosten für einen Auslandsanruf mein Guthaben auffressen würden, bevor ich überhaupt mit ihm gesprochen hatte.
Nein, ich wollte ihm vertrauen, dass er sich meldete. Er hatte mir sein Wort gegeben und ich glaube ihm, dass er es halten würde.
»Das wird schon, Mama. Vielleicht hat er es in der Aufregung nur verdrängt. Er hat seinem Vater so viel zu erzählen.«
Ich merkte selbst, wie ich mir selbst Mut zu machen versuchte, doch es funktionierte nicht. Zumindest bei mir nicht. Meine Mutter nickte, lächelte und ließ mich mit der Suppe allein, die ich zögernd schließlich doch aß.
Die Ferien tickten dahin, zäh wie Kaugummi, und während meine Schwester und Emily sich jeden Tag zum Girlie-Talk in unserem Haus trafen, Popmusik durch die Räume hallte und die beiden Unmengen Spaß hatten, wurden meine Tage immer düsterer.
Tiger hatte sich nicht gemeldet. Nicht ein einziges Mal und als ich es nicht mehr aushielt und ihn meinerseits anrief, verkündete mir die aalglatte Computerstimme, dass der gewünschte Teilnehmer nicht zu erreichen war.
War es das?
War ich ein unbedeutender Flirt in der Kartei des großen Tiger Hastings, dem Herzensbrecher von London? War ich eine Trophäe, von denen er seinen Freunden erzählen konnte? Eine weitere Jungfrau, die er erobert und verführt hatte? Die er glauben gemacht hatte, er würde sie lieben, um sie dann fallenzulassen?
Alles in mir sperrte sich dagegen, so von ihm zu denken. Ich suchte nach allerhand Erklärungen, doch ich fand keine andere als diese. Es war ein Spaß für ihn und er hatte mir die ganze Zeit etwas vorgemacht.
Doch anstatt wütend zu sein, war ich traurig. Um nicht zu sagen, ich wurde depressiv. Ich schlief kaum, aß nichts, vergaß sogar zu trinken und lag nur rum, an die Decke starrend und an nichts denkend.
Ich hing fest in einer gedanklichen Dauerschleife der schönsten Erinnerungen mit Tiger. Immer wieder spulte es die Nächte vor meinem geistigen Auge ab, die er und ich geteilt hatten, unser abenteuerliches erstes Zusammenfinden in der Toilette der Schule, die Nachmittage in dem kleinen Café, den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, der erste gestohlene Kuss.
Ich wurde lethargisch und teilnahmslos und ich heulte. Immer im Wechsel. Mal fühlte ich nichts und mal wollte ich aus dem Fenster springen, damit der Schmerz endlich aufhörte.
Meine Eltern ließen mich in Ruhe. Sie waren der Meinung, dass es meinem Liebeskummer nicht helfen würde, wenn sie mich auch noch vollquatschen würden und sie hatten Recht. Vermutlich würde ich sie anschreien oder dergleichen.
Es reichte mir schon, dass meine Schwester keine Rücksicht darauf nahm, wie ich mich fühlte.
Wann immer sich die Gelegenheit bot, mich zu foppen, tat sie es. Sie weidete sich daran, dass ich immer mehr zu einem Gespenst wurde, das man nur noch spät abends sah, wenn es denn mal an den Kühlschrank ging.
»Du ziehst eine Fresse, als wäre jemand gestorben. Geh halt raus und such dir nen neuen Stecher. Ihr Homos habt doch eh nur Vögeln im Kopf.«
Solche und ähnlich qualitativen Kommentare sorgten dafür, dass ich mein Zimmer kaum noch verließ. Ich wollte es Lilli nicht merken lassen, aber es tat mir extrem weh, dass meine eigene Schwester noch immer der Meinung war, dass, was ich für Tiger empfand, war nur rein körperlich.
Es mochte stimmen, dass wir gerade mal 2 Monate ein Paar waren, doch ich wusste definitiv, das da mehr war. Zumindest von meiner Seite aus. Ich konnte mir nach über einer Woche, die ich nichts von Tiger gehört hatte nach seiner Abreise, nicht mehr sicher sein, dass es auch von ihm aus mehr als Sex war.
Doch ich war mir meiner sicher. Ich hätte mit dem Sex warten können, wenn ich einfach nur Tiger hätte haben können. Es waren die Umstände der zeitlichen Begrenzung, die dafür gesorgt hatten, dass es diesbezüglich etwas schneller ging.
Doch bereuen tat ich das nicht. Egal was meine Schwester sagte oder dachte. Irgendwann nach einigen Tagen war es normal, dass ich weder zum Mittagessen noch zum Abendessen ging. Ich wurde zu einem Phantom in meinem eigenen Haus und es machte mir nichts aus.
Ich fürchtete mich, was werden würde, wenn die Schule wieder losging und ich das Haus wieder verlassen musste. Mir graute vor meinen Mitschülern, die mich sicher fragen würden, ob Tiger und ich noch zusammen wären.
Was sollte ich sagen? Nein, ich hab mich in ihm getäuscht, es ging nur um Sex?
Benny, der Nerd, lässt grüßen und nichts hätte sich geändert.
»Benny!« Ich hörte meine Mutter rufen und öffnete gelangweilt die Tür.
»Was?«
»Dein Vater und ich sind heute Abend eingeladen. Gib ein bisschen auf das Haus auf. Und pass auf, dass Lilliana hier keine Party feiert.« Meine Eltern waren schick gemacht, würde wohl länger dauern. Mir war es recht.
»Du hast es gehört, Whopper. Mach keinen Ärger und lass mich in Ruhe!«, brummte ich Lilli zu und knallte die Tür wieder zu.
Wenige Minuten später hörte ich den Wagen vom Grundstück fahren und blickte in die Dunkelheit.
Es machte sich bemerkbar, dass ich nichts zum Mittag hatte und ich folgte dem Knurren meines Magens, um mir ein Sandwich zu machen. Lilli, die vor dem Fernseher hockte und irgendeine dumme Castingshow anguckte, wandte den Kopf um und blickte mich durch den Wohnzimmerzugang an.
»Na? Du wirst auch immer mehr zu einem Emo. Fehlt noch, dass du anfängst, dir den Namen deines Stechers irgendwo hinzuritzen. Du bist schlimmer als ein Mädchen, muss an dem Homokram liegen.«
»Halt deine Klappe von Dingen, von denen du nichts verstehst«, murmelte ich nur und versuchte, nicht zuzuhören. Um meine Nerven zu schonen.
Sie erhob sich ächzend aus dem Sessel und kam zu mir in die Küche.
»Guck dich doch an, du Trauerkloß. Kein Wunder, dass dein Schatzi sich nicht meldet, wenn du immer schon so rumgerannt bist. Voll wie der langweilige Streberspießer. Was der an dir gefunden hat...«
Ich spürte, wie meine Hand zu zittern anfing und als es klirrte, bemerkten Lilli und ich, dass ich das Messer hatte fallen lassen. Mein ganzer Körper zitterte und ich hatte entsetzliche Schmerzen im Gaumen und Hals, als würde ich jede Sekunde zu Weinen anfangen. Ich wollte nicht weinen vor meiner vorlauten und gefühllosen Schwester, doch sie hatte genau das ausgesprochen, was ich die ganze Zeit dachte.
Ich war nicht gut genug für Tiger und was sollte er schon ernsthaft an mir gefunden haben?
»Sei ruhig... sei bitte... einfach ruhig...«, presste ich durch meine verstopfte Nase hindurch und wandte das Gesicht ab, denn meine Augen wurden nass.
»Ist doch so... Du bist voll der Normalo-Langweiler. Aber ich sag’s ja, ihr Homos wollt alle nur ficken.«
Ich schluchzte auf, was Lilli tatsächlich zum Schweigen brachte. Sie kam um mich herum und starrte mir in das Gesicht. Meine Wangen waren nass und meine Schultern bebten. Alles tat mir weh und ich wollte schreien, um mich zu erleichtern, doch ich konnte nicht.
»Warum bist du nicht einfach still? Macht es dir Spaß, mich zu quälen? Mir aufzuzeigen, was ich alles nicht bin, um gut genug für ihn zu sein? Meinst du nicht, ich wüsste das alles? Ich wüsste nicht, dass ich nicht hübsch genug, nicht aufregend genug für ihn bin? Und dass ich in den vergangenen Wochen wahrscheinlich die ganze Zeit nicht mehr als ein Spielzeug für ihn war? Du glaubst, Homosexuelle hätten nur Sex und würden nichts dabei empfinden? Ich wünschte, ich würde nichts von all dem fühlen, was ich gerade fühle. Ich wünschte, ich hätte die letzte Woche nicht gelitten wie ein Hund. Aber du bemerkst sowas ja nicht. Du bist Lilliana und dein rosa Universum dreht sich um dich.«
Heulend und zitternd schob ich mich an ihr vorbei und schloss mich wieder in meinem Zimmer ein. Sie hatte mir noch den Rest gegeben.
Es verging einiges an Zeit, die ich verbrachte, ohne sagen zu können, was ich in dieser Zeit getan oder gedacht hätte, als es an der Tür klopfte.
Genervt brummte ich, schloss auf und Lilli kam herein. Kleinlaut stand sie an der Tür und nagte an ihrer Unterlippe.
»H-hör mal... dass ich dich zum Weinen gebracht habe... das tut mir leid. Und es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht. Ich steh nicht so drauf, dass du... so ein warmer Typ bist, aber ich schätze, dass es stimmt, wenn du sagst, du bist verliebt in Tiger. Und ich find’s scheiße, dass er dich so hängen lässt.«
Mit diesen Worten verzog sie sich wieder und ich schätzte, mehr konnte ich in Sachen Entschuldigung für ihr Verhalten nicht erwarten.
Ich schloss wieder ab, machte das Licht aus und bereitete mich auf eine erneute Nacht vor, in denen meine Träume mir etwas vorgaukelten, was ich verloren zu haben schien.