Zügig nährte Sie sich dem Urbaum. Sie trug ein naturfarbenes Kleid in hellen freundlichen Farben, welches ihr betonend von der Schulter bis zu den Füßen reichte. Die ineinander verwobenen Fasern, für menschliche Begriffe ein Material auf Machart von Seide, vermischten sich Untereinader. Bei jedem ihrer Schritte bewirkten kleine Fältchen der Textilie unterschiedliche Muster, die sich eigenständig zu bewegen schienen. Von Grün nach Braun über Blau hin zu Flieder und vielen anderweitigen Farben, die ein waches Auge in der Natur wahrzunehmen in der Lage war, bildeten bewundernswerte Übergänge. So als ... würde das Kleid aus einer Unzahl an Schmetterlingen bestehen?
Einzig ein bis unter den Brustansatz, mit zierlichen Spangen gehaltener V-Ausschnitt, ließ einen unverhohlenen Blick auf ihre zarte Haut erkennen. Hände und Gesicht vermochten einiges auszusagen, aber Einblicke auf weibliche Formen, noch dazu auf das Dekolletee einer hübschen Frau regten Fantasien an. Langes brünettfarbenes Haar trug sie zu einem aufwändig geknüpften Zopf, der ihr bis weit den Rücken hinab reichte - bis hinunter zum Steiß. Ein in goldenen Fäden gesponnener Reif war zu je drei Strängen zu einem geflochten und verband sich vor der Stirn mit einem aus silbrig farbenem Material geformten Emblem. Dieses zeigte eine Stilisierung Erebors - dem Urbaum.
Aufmerksam sah sie sich um, darauf bedacht nicht von unliebsamen Augen beobachtet zu werden. Einst galt es als undenkbar, die Umgebung dieses Platzes zu meiden. Gar die Jüngsten der ihren, tollten um den Baum herum ... und nun? Zu jener Zeit war und blieb jegliche Nähe zum Hain strengstens untersagt. Ausschließlich dem Oberhaupt stand es frei, diesen zu betreten, wann immer es ihm oblag.
»Ly'an«, hauchte es verstohlen aus unerkennbarer Richtung.
»Ma'rit, komm hervor. Zeig dich.« Gelassen und mit herabhängenden Armen stand sie nahe des Baumes. Sie versuchte in den Schatten angrenzender Büsche, Hecken und Bäumchen Angesprochenen zu erspähen.
Sie zuckte erschrocken herum, als es neben ihrem Ohr wisperte. »Folge mir.«
Noch bevor der Klang seiner Worte verblasste, blieb einzig für den Bruchteil eines winzigen Momentes der umliegenden Natur angepassten Kleidung zu sehen, als er mit den Silhouetten des umstehenden Grüns verschmolz. Sie folgte ihm und von Atemzug zu Atemzug machte sich in ihrem inneren Unbehagen breit.
»Wir laufen direkt auf die Umgrenzung zu.«
»Ja.«
Verunsichert musterte sie spähende Blicke, ganz so, wie sie es seither kannte. Mit bedacht und Aufmerksamkeit gewahrte sie ihr Umfeld, als sie endlich hielten. »Was soll das?«
»Hier sind wir ungestört. Ly'an, bitte. Hör mir nur zu.«
Angesprochene atmete tief ein, blickte sich um und setzte sich nickend mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden.
»Die Späher, die Du und ... er schicktet, kehren nicht zurück.«
Er hob mahnend den rechten Zeigefinger, als sie sich erbot darauf zu antworten. Sodann fuhr er fort. »Wir ...«, er hielt ihrem quälend fordernden Ausdruck nicht länger stand. »Ly'an bitte. Verschone mich. Ja, ich bin und war hier in der Umgrenzung niemals allein. Nicht wie er es sich vorgestellt hat. In Ordnung? Ich konnte unsere Späher nicht einfach ins Verderben laufen lassen.«
»Was ...«
»Pssst«, begann er und hob wiederholt den rechten Zeigefinger. »Hör mir einfach nur zu.« Seine schmalen Brauen zogen sich fragend in die Höhe.
Sie nickte und entspannte sich schlussendlich. In seiner Obhut verspürte sie seither so etwas wie Geborgenheit und war sich vollends sicher, dass niemand ihr Leid antun würde. Ihre wieder unterschlagenen Beine berührten unverkrampft den Boden.
Ma'rit musterte sie einige Herzschläge und quittierte ihre Haltung mit einem Lächeln. Grübchen gruben sich tief in seine Wangen. Es tat gut, ihn so zu sehen, beschloss sie. »Gut.«
Er berichtete, dass weitestgehend alle Späher, die sich außerhalb des schützenden Zauber Erebors befanden, nicht zurückkehren würden. Aufgrund ihrer Konstitution, so vermutete er, verblieb ihrem Körper etwa ein bis maximal zwei Tageswenden, bis die Lähmung diesem anheimviel. Die Verbannten, so nannten sich jene, die innerhalb der Umgrenzung lebten, fanden durch Versuchen heraus, dass der lähmende Bann brach, sobald man den Schutz Erebors betrat. Dieser sei nach wie vor Bestandteil ihrer Aller und sorgte für hinreichende Immunität. Die Macht des verbotenen Landes reichte mittlerweile sehr weit und dort wo diese nicht ausreichte, wurde diese mit unheilvollen Werkzeugen unterstützt.
»Entschuldige Ma'rit. Was bitte unterstützt den Bann und ...«
»Ly'an, erinnere Dich. Als unser Volk zu neuen Ufern aufbrach und unsere Zeit unausweichlich dem der Menschen wich, gehörten Zeugnisse aus urlängst vergangenen Zeitaltern mit zu den Beweggründen.«
Ein Hauch von Angst stahl sich auf ihre geschmeidigen Züge. Ihre Augen weiteten sich sichtlich und Ma'rit nickte zustimmend. »Es stimmt Schwester. Auch auf diesem Landflecken gab es einst Zeugnisse jener Zeiten. Diese Dinge pochen wie schlagende Herzen und sie strahlen immense Macht aus. Dunklheit zieht auf und wird einen jeden von uns überschatten. Jeder der sich zu nah heranwagt verkürzt seine verbleibende Zeit bis zur vollkommenden Lähmung.«
Ihr Augen zuckten unstet von rechts nach links. »Haben sie uns gefunden?«
»Nein. Ihre Patrouillen streifen nahe der Grenze, aber sie vermuten nichts. Auch wissen wir nicht, weshalb der Bann bei ihnen nicht wirkt. Unbestritten ist jedoch, dass man den Bereich des Bannes deutlich sehen kann.«
»Wie?« Ly'an wurde hellohrig und richtete sich auf.
»Es ist ... Grau.« Seine Brauen verzogen sich einem ›V‹ gleich, als er den Kopf leicht hob und sich erinnerte. Ich meine, alles ist farb- und leblos.«
»Leblos? Was ist mit der Natur, was ist mit Gaya?«
»Existiert dem Schein nach nur noch im Umfeld Erebors. Du weißt es besser als jeder von uns oder ihnen. Unsere ureigene Magie schwindet von Generation zu Generation. Die letzten bekannten Gayadisten verloren wir auf der Flucht. Nur die Sänger blieben uns erhalten.«
»Was ist mit den Übrigen?«
»Alle samt treue Seelen, auch jene aus der Linie Lynka.«
Ly'an atmete tief ein. »Ich muss zurück, sonst beginnt man mich zu suchen.« Sie nickte ihrem Bruder zu und viel ihm um den Hals. »Ich vermisse dich, Ma'rit.«
»Ich weiß Schwesterherz. Du konntest nicht anders handeln, wolltest Du Gefahr laufen, dass sich unsere Reihen bekriegen.«
Eine Träne tropfte heiß auf seinen Hals und er vernahm ein leises beinahe gehauchtes Schluchzen. Seine Umarmung wurde eine Spur inniger, er wollte sie nicht ziehen lassen. Er spürte Schmerz seinem Hals herabrinnen und versuchte diesen durch Schlucken zu verdrängen.
»Zu Sonnenhoch der kommenden Tageswende beginnen die Reifeprüfungen.«
»Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Si'mon wird sie meistern.«
»Hoffentlich. Er hat es schwerer, seid sein Körper sich dem des leiblichen Vaters beginnt zu ähneln.«
»Er ist kräftig und muskulös. Aber er ist Behänden wie einer der unsrigen.«
»Du beobachtest ihn auf Schritt und Tritt, nicht wahr?«
»Ja und nu geh. Ich bleibe stets in der Nähe. Es geschieht nichts, was ich nicht gutheißen würde.«