Wie so oft stand Ly'an auf jenem kleinen Balkon, von welchem der gesamte Innenhof des Ratshauses einsehbar war. Von diesem beobachtete sie die Fortschritte ihres Sohnes, begonnen mit der bei den Wächtern nachträglich abgelegten Reifeprüfung und seinen steten Eifer den Schwerttanz der Lynken für seine Bedürfnisse zu vervollkommnen.
Seit Tageswenden jedoch starrte sie nur auf den leeren Hof. Keine vor Anstrengungen gellende Rufe und Luft schneidende Geräusche klangen in ihren Ohren.
Mindestens ebenso viel Zeit verbrachte sie im Hain des Urbaums und wartete auf Zeichen, die das Bestreben ihres Si'mons besiegelten. Das Grün des Baumes war sichtlich saftiger und greller als zuvor. Die zwei Blüten sprachen Bände, doch eines wurde ihr nicht zu teil. Erebor und Gaya hielten sich ihr gegenüber bedeckt.
»Herrin. Al'riel wünscht, mit euch reden zu dürfen.«
Ly'an nickte kaum merklich und schnaufte schwer. »Bitte, lass sie ein Ja'nis.« Sie trat von dem Balkon und begab sich erwartend hinter einem der Stühle - die Hände oben auf die gerundete Lehne aufgelegt.
»Mutter«, keuchte die Eintretende aufgebracht.
Ly'an neigte den Kopf besorgt zur Seite und verzog die Brauen. »Al'riel, mein Kind. Was ist mit dir?«
Das linke Bein leicht seitwärts geneigt, die Hüfte entgegen gerichtet stand sie mit verschränkten Armen vor ihr und schnaubte. »Wo ... ist ... Si'mon? Und bitte ... keine Ausflüchte. Nicht mehr.« Sie schüttelte beherzt den Kopf, um Gesagtes zu bekräftigen.
»Er ist ...«
»Nein, ist er nicht. Er ging mit Alanel, ja. Aber sicherlich nicht auf Kundschaft. Also bitte, wo ist er?« Die letzten drei Worte zog sie lauernd in die Länge und fixierte den Blick ihrer Mutter.
Ihre gespannte Körperhaltung verriet ihren Gefühlszustand, sie vermisste ihn mit jeder Faser ihres Seins. Ihre gesamte Haltung, wie sie so dastand, zeugte von jugendhaftem Trotz und ihre rot unterlaufenen Augen von seelischem Schmerz.
Ly'an trat heran und umarmte sie. Sie war sich dessen sicher, dass sie Verdacht hegte. Leise, beinahe flüsternd nährte sie sich ihrem linken Ohr. »Erzähl es mir.«
»Du verbirgst dich in deinem Kummer um ihn. Deinem Sohn und meinem Bruder. Ich bestand bereits vor zwei Tageswenden meine Reifeprüfung und du sahst nicht einmal zu.« Al'riels Blick beschrieb blanke Entrüstung. Sie wirkte gefasst, ihre unterdrücktes Schluchzen jedoch strafte jedes Wort der Lüge. »Kaum das ich die Prüfungen errang, kam dieser verzogene Trotz zu mir und verlangte nach meiner Hand. Mutter, er hat sie nicht erbeten, er hat sie gefordert. Ich spuckte vor ihm und meinte, dass in ihm eindeutig das falsche Blut pulsiere.« Den letzten Satz sprach sie lauter als bewusst und erregte Ja'nis Aufmerksamkeit.
Ihre Stimme senkte sich, dem weinen nah. »Er will mich zur Frau, ich gehöre zu ihm. Er will ein lebendes Bündnis zwischen Lynken und Lynkas erzwingen.«
Die Schatten nahe dem großen Kamin bewegten sich, eine bisher unbedachte Gestalt trat hervor und sprach betrübt. »Si'mon befindet sich bei seinem Volk. Jenem, deren sein Körper gleicht. Er tritt das Erbe seines Vaters an und befreit die Natur.«
Erschrocken weiteten sich Ly'ans Augen und mit quälendem Blick schüttelte sie sanft ihr Haupt.
»Nein Ly'an. Nicht dieses Mal.« Der Hinzugetretene legte schützend die Hände auf Al'riels Schultern und zog sie von ihr fort. »Wir beide wissen, dass die Geschichte jetzt ein Ende finden muss. Arion geht eindeutig zu weit und die Zwei dürfen sich nicht binden. Es ist nicht seine und ihre...« sein Blick neigte sich hinunter zu dem Mädchen. »Bestimmung.«
»Bitte Ma'rit, nicht so.«
»Mutter ...«
»Sie ist nicht deine Mutter und dein Geburtsname lautet auch nicht Al'riel«, stellte der Wachtmeister nüchtern und mit eiserner Stimme fest. Ihr kam nicht einmal für einen Bruchteil eines Herzschlages in den Sinn, an seinen Worten zu zweifeln und so sah sie erwartungsvoll drein.