Hoch oben in den Wipfeln der kräftigsten Bäume pflegten sie ihre Plattformen zu errichten, auf denen sie die längsten Zeiten ihres Lebens verbrachten, schliefen sowohl auch arbeiteten. Sie wollten die Verbundenheit zu ihren Wappentieren nicht nur zeigen, sie lebten sie.
Auf diesen aus Holz erbauten Ebenen schufen sie ihre eigenes Umfeld - ihre eigene heile Welt. Ginge es schlicht nach ihnen, würden sie keinen Fuß auf den Grundbesitz Gayas setzen. Natürlich entsprang dies reinstem Wunschdenken und einem jeden des Hauses der Schwingenreiter deutlichst bewusst; gewannen sie doch einen Großteil ihrer Nahrungsversorgung auf üblichen Äckern. Auch die genutzten Pferde würden niemals die hohen Höhen genießen können.
Einst wehten dünne Baldachine im lauen Wind und spendeten Ruhenden ausreichend Schatten. Sie errichteten weder Koppeln und noch Scheunen. All ihre Tiere blieben frei zu tun, wonach es ausschließlich ihnen belang.
Alanel kletterte einen jener kräftigen Bäume empor und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Kletterhandschuhe, die Si'mon ersann, leisteten imposante Ergebnisse. Vermochte er so nahezu einen astlosen Stamm erklimmen.
Sein Gefühl trog ihn nicht und befand sich kurzerhand unterhalb einer der gesuchten Plattformen. Er zog sich hinauf und musterte die Umgebung. Er stand inmitten einer heillos überfüllten Lagerstätte. Truhen, Kisten und Säcke. In Fässern lagerten ihre gefürchteten Pfeile.
Die Angehörigen dieses Hauses galten als berüchtigte Bogenschützen. Niemand vermochte einen Bogen so zu spannen, wie sie es taten. Die Besten unter ihnen trafen ein Ziel auf beinahe vier- bis fünf Hundertlängen.
Eine Rampe führte auf eine höher gelegene gewaltige Ebene, auf jener sich unzählige Leiber drängten. Grau und mit einer der Jahreswenden bedingten Staubschicht bedeckt, standen, saßen oder lagen sie bewegungslos da. Er orientierte sich, er wusste das von dieser, der größten Plattform aus, ein Weg zur obersten Ebene führen musste. Auf dieser würde sich El'arion, Oberhaupt des Hauses, aufhalten. Von dort würde er die Belange seiner Angehörigen und den Rückzug koordiniert haben.
Mit einem seiner letzten zwei Röhrchen in Händen fand er sich gegenüber des gesuchten Mannes. Mit aufgelegten Händen stand er vornübergebeugt vor einem, ein Mal ein Längen großen Tisch und schien etwas zu mustern. Sein Kopf war geneigt und sein Blick gerichtet auf die Tischplatte. Was auch immer sich dort vor vielen Jahreswenden befand, es war nicht mehr da.
Sein Gegenüber hielt seine rechte Hand, mit dem Zeigefinger voraus über einen fixen Punkt. Sein Mund stand leicht geöffnet, so als wolle er Berichten, als ihn die Lähmung übermannte. Er trug ein knielanges Wams, welches mit einem grünen Gürtel an der Taille zusammengehalten wurde.
Das Wappen zeigte trotz der Schmutzablagerungen einen Weißen Grund mit einem schwarzen Baum, dessen Krone nicht wie bei Erebor gerundet und ausladend, sondern weit und Flach. Alanel kannte diesen Mann. Es war kein Minderer als der Schwertführer Lynkas. Seine einst rechte Hand und engster Berater. Lynka selbst war es, der ihm befahl, das Volk wie auch seine Liebste in den Hain Erebors zu geleiten. Er musste sich anschließend mit Getreuen hierher begeben haben, um die äußeren Grenzen zu schützen. Er war nicht nur tapfer und gerecht, er verdanke ihm so manch ausgebliebene Schmach unter Delavar. Abermals dieser Name und niederträchtige Gedankengänge.
Er schüttelte sich, trieb die nagenden Erinnerungen beiseite und warf das Röhrchen kraftvoll zu Boden.
Die Wirkung blieb nicht lange aus und er spürte das bereits bekannte Kribbeln in den Beinen. Er vernahm heiseres Krächzen und qualvolles Stöhnen. Die Züge El'arions verzogen sich, beinahe schmerzerfüllt sahen sie aus. Der anhaftende Staub löste sich und rosige Haut wechselte mit der zuvor fahlen seinen Platz.
Aus heiserem Seufzen wurde lautstarkes Schreien. Leben kehrte in jene zurück die seit Jahreswenden stur und unbewegt, Statuen gleich, umherstanden. Warmes Blut begann in den Adern ihrer Körper zu pulsieren, sobald der lähmende Bann seine Klauen von ihnen nahm. Ungelenke Bewegungen zeugten von schmerzhaftem Kribbeln, ganz so als wache einem ein tauber Fuß auf.
El'arion blickte hinab auf seine Hände und hob diese ungläubig vor die Augen. Ein Lächeln stahl sich auf seine verhemmten Züge. »Was passiert hier«, verlangte er von seinem gegenüber zu wissen. Dieser jedoch blieb ihm eine Antwort schuldig und dreht sich herum.
»Fragen wir ihn.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Der junge Jagdspäher von meinem Gegenspieler.«
Alanel sank abrupt auf ein Knie und senkte sein Haupt. »Ja, eben dieser. Herr El'arion, Herr Kenhan. Ich bin gekommen, um den Verbleib des Hauses der Schwingenreiter zu ergründen.«
Eine Hand legte sich locker auf die Schulter Alanels. »Steh auf Alanel. Dem Anschein nach verdanken wir es dir, wieder frei zu atmen und bewegen zu dürfen. Du hast uns viel zu berichten. Wie bist du hierher gekommen, wie steht es um den Krieg, was ist mit dem Hain Erebors und sind weitere Flüchtlinge Lynkas entkommen?«
»Langsam mein Freund. Lass ihn in Ruhe erzählen, ich kann spüren, dass mehr Zeiten vergingen, als uns Lieb sein sollte. Main Haus ist noch nicht frei.«
Alanel erhob sich dankend und berichtete den beiden von dem, was er wusste und vor allem vermutete.
Nachdem Alanel seinen ausführlichen Bericht beendete, begaben sich die Drei zum Ableger Erebors - dem Baum, der das Haus begründete. Dort übergab Alanel sein letztes Röhrchen an El'arion, der es bedächtig in der Hand rollte.
»Das ist es also, was uns allen den Frieden schenken wird?«
Er entfernte die Versiegelung, löste den Korken und hielt inne. Tief holte er Luft und nickte beim Senken seines Armes.
Rote sämige Flüssigkeit. Si'mon Blut rann heraus und ergoss sich am Stamm des Baumes.
Ein einzelnes Wiehern drang an ihre Ohren und sie spürten, wie das ungute Gefühl, diese allgegenwärtige Beklemmung, aus ihren Gliedern verdrängt wurde.
Das Grau wich nicht zurück, es löste sich auf. Erebors Schutz verhinderte bereits ein Ein- und Ausdringen und so blieb nur die Zersetzung. Schwingen in verschiedensten Größen trillerten und krächzten ihre erneute Freiheit heraus.
Rufe und gellende befehle zeugten von Rückkehr des Lebens.
»Wir werden Reiter entsenden, die bei der Garnison der Menschen nach dem Rechten sehen. Ebenso werden sie König Kilians Kommandanten unterstützen ›Tiefwald‹ zu befreien. Dies liegt in unser aller Interesse, befindet sich doch ein weiteres Haus unserer Brüder und Schwestern im ›Moorwald‹.«
»Lasst mich und meine Leute mit euch in den Hain Erebors reiten. Ly'an und Ma'rit werden Hilfe nötig haben. Stimmt auch nur die Hälfte von dem, was Alanel zu berichte wusste.«