Wolff führte seinen Trupp in beschriebener Richtung. Ihr Ziel lag fernab der Garnison, allen voran Senkenthal.
Einst, so wusste er, gab es auf ihrem beschrittenen Weg zwei Pfade. Einen Wildpfad, den überwiegend Jagdgesellschaften nutzten, um nicht nur Fleisch von gezüchteten Tieren auf den Tellern zu bekommen. Der Zweite war jener, der auf Umwegen über eine schmale Brücke hinüber in den Moorwald führte.
Dieses Bauwerk war und blieb etwas Besonderes. Nicht einmal die Lynken wussten oder fanden Rückschlüsse in ihrer umfangreichen Bibliothek, wer sie einst errichtete geschweige denn, wie sie ihre Stabilität aufrecht hielt. Weder Säule noch Pfeiler stützte den bogenartigen Übergang. Beinahe schmächtig und für ein Pferd nur erschwert zu beschreiten überspannte diese den ausladenden Fluss, der keinen eigenen Namen trug. Im Leumund jedoch benannte man diesen den reißenden Strom.
Der Moorwald dahinter galt für viele als tabu und nicht zu durchqueren, noch zu betreten. Wolff hingegen wusste, dass in diesem morastigen Forst ebenfalls Lynken lebten und nichts Gegenteiliges behaupteten, dem Gerücht entgegen zu wirken. Der Wald galt noch vor Jahreswenden als Grenzverlauf und unüberwindbares Hindernis der einfallenden Horden - weit gefehlt. Sie fühlten sich dort drinnen sicher und unterlagen ihrer Ignoranz.
Nahe jener Brücke soll sich einer dieser unsäglichen Baumstümpfe befinden, die für die Pein des Landes und deren Völker Verantwortung trug. Um den Feind möglichst überrascht und rasch zu vernichten, beschränkte sich Wolff auf seine berittenen Truppen. Keine angriffstarke Taktik schwelgte in seinem Kopf, noch verschwendete er einen Gedanken daran, wie er seine Männer würde aufstellen. Einbrechen, erschlagen und wieder raus, so und nicht anders wollte er es halten.
Die der Garnison unterstellten Fußtruppen teilten sich notwendige Angelegenheiten. Umliegende Flächen wie auch die Wege zwischen Senkenthal und bekannter Niederlassungen sollten weitflächig vom lähmenden Grau befreit und in Stand gesetzt werden. Wolff teilte hierfür seine übrigen, mit Blut befüllten Röhrchen auf.
Fünf Zehnen begleiteten ihn, um Vergeltung in die Reihen des Feindes zu tragen. Rache für einen ungewollten Schlaf, der seit Jahreswenden anhielt und einem Krieg, der vielen von ihnen die Liebsten nahm.
Sie fühlten sich nicht länger nur als Verteidiger oder Flüchtende. Dank Si'mon und seinem angetretenen Erbe entflammte in ihren Herzen entschiedener Mut. Sie waren es, die jüngst ungeahnte Angriffe führten und mit ihrem noch jungen König wohlmöglich zu einer ernst nehmenden Gefahr heranwuchsen.
Die allgegenwärtig graue Farbe wurde Intensiver und dunkler. Um so kurz vor ihrem Ziel bei Kräften zu bleiben, bedienten sie sich immer häufiger Si'mons Blut. Anders als bisher konnten sie in der Nähe des beschriebenen Baumstumpfes beobachten, wie sich hinter ihnen die geschlagene Bresche wieder aufeinander zu bewegte. Der vom Bann befreite Bereich begann zuvor an seinen Grenzen zu fasern und eben jene wanden sich in gierigen züngelnden Bahnen ins Innere.
Es galt sich zu beeilen, wollten sie nicht Gefahr laufen, abermals zu erstarren. Nicht nur die Zeit war ihr aktueller Feind und richtete sich eindeutig gegen jegliche Befreiungsversuche.
Sogleich als Wolff ihr Ziel erspähte, gab er rasche Handzeichen, die Fremde nicht als das hätten deuten können, was diese seinen Begleitern aussagten. Ab jenem Moment, in welchem er als Kommandant der Garnison eingesetzt wurde und Spionage seine ärgsten Ängste schürten, ersann er mit Vertrauten eine für eingeweihte einfach zu verstehende Zeichensprache, die eine ausführliche Befehlskette ersetzte. Kundige blieben so unabhängig von Lauten und konnten sich auf visueller Art aussagekräftig verständigen.
Jeweils ein Unterführer zu seiner Linken und seiner Rechten führte drei Scharen, die seitwärts ausscherten und die Flanken bestürmten. Der Rest des Trupps folgte seinen Anweisungen und formierte sich zu einem Keil. Zwei auf Pfeilen gebundene Tonröhrchen sausten voraus und gruben sich zielsicher in wahllos ausgewählte Gegner.
Der eine vibrierte im Rücken eines Nordnomaden nach, der noch nicht einmal begriff, dass ihn der Tod ereilte. Wie gebannt stand er da und kippte langsam zur Seite. Wolff stellte sich bildlich vor, wie sich seine Augen verdrehten.
Das zweite Opfer traf es ähnlich schnell wie unerwartet. Der Pfeil durchbohrte dessen Augapfel und brach auf der gegenüberliegenden Schädeldecke hindurch. Si'mons Lebenssaft vermengte sich mit dem des Toten und viel in dicken sämigen Strängen zu Boden. Sogleich entsand in den Reihen des Feindes ein heilloses Durcheinader. Die Nomaden brüllten und griffen zu ihren Waffen. Drei massige Trolle haderten unschlüssig an dem gesuchten Stumpf und standen eindeutig unter einem Bann derer sie sich zu widersetzen versuchten, jetzt wo ihre Häscher sich abwendeten. Von Si'mon wusste Wolff, dass die Gefahr vorrangig von Menschen mit seltsamen Spinnenamuletten ausging.
»Haltet euch an diese Tätowierten. Wenn sie fallen, ist der Wald unser«, rief er lauthals und mit vorgerecktem Schwert. Er ließ sein Pferd schneller voranpreschen und führte seine Leute voran.
Der Angriff schien eindeutig zu Gunsten der Reiterei, als sich unerwartet drei weitere Trolle aus den Schatten der Bäume schälten und wutbrüllend sich ins Geschehen mischten. Sie hieben mit blanken Händen und Fäusten um sich, jedoch aufseiten des Feindes. Erschreckend war die brachiale Gewalt, mit der sie vorgingen.
In vollem Lauf warfen sie sich in die heranpreschenden Pferde, umfingen sie mit ihren muskulösen Armen und brachen sie wortwörtlich in zwei. Grausiege Schmerzenslaute echoten durch den Wald bis ein endliches ›knack‹ und erlösendes Röcheln erklang. Sie schienen keinerlei Notiz davon zu nehmen, ob ihnen ein panischer Reiter ins Ohr schrie oder mit seiner Klinge wild sie einhackte.
Wolff gab abermals stumme Zeichen und die rechte Flanke wich aus. Sie scherten aus, um in vollem Galopp die ungeschützte Rückseite der Hünen zu erreichen. Jene, die die Rücken ihrer Pferde verließen bekämpften jeweils zu zweit gegen die wie Berserker vorgehenden Nomaden.
Nach einer schier endlos wirkenden Zeit vielen endlich zwei dieser Spinnenträger wie auch einer der Trolle unter dem rückwärtigen Ansturm erschlagen zu Boden.
Matthies führte die rechte Flanke und gewahrte hinter den noch immer gebannt dastehenden Kolossen weitere Veränderungen. Die Schatten selbst schienen sich zu bewegen. Er schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und schollt sich. Der Kamp, die Gefallenen, diese graue Lähmung und die verlorenen Zeiten. Sinnestäuschungen, das musste es sein.
Der Trupp war nach einem erneuten Ausscheren noch nicht gänzlich wieder in direkte Kampfhandlungen verwickelt, als einer der Trolle begann, sich zu winden. Seine Arme und Beine zitterten eindeutig vor Anstrengung. Sein bulliger Kopf reckte sich seitlich und gegen Himmel. Guttural stieß er einen tiefen bass monotonen Laut aus. Schmerz und Wut wogten darin.
Es schien alles zu gleich zu geschehen. Der muskulöse Körper des Trolls schwang herum und hielt auf die näher kommenden Schatten zu. Sie bewegten sich eindeutig und es waren auch keine Schatten, nicht einmal Sinnestäuschen. Reiter. Mit unsäglicher Geschwindigkeit nahten sie heran. Matthies konnte nicht glauben, was er sah. Er wollte es weder glauben noch wahrhaben. Demnach zögerte er und eben dies kostete ihn beinahe den linken Arm, als er in jene Richtung wies.
Achtbeinige Wesen rannten durch den dicht bewachsenen Wald und hielten unaufhaltsam auf sie zu. Auf ihnen, nein aus ihren Leibern wuchsen menschliche Oberkörper. Anstatt Arme und Hände bedienten sie sich spitz zulaufender behaarter Glieder, dem Beißwerkzeug von Spinnen gleich.
Mit eintreffen der neuen Gefahr schien das Siegesglück aufseiten der Besatzer.
Mit gespreizten Beinen baute sich der Troll vor den nahenden auf und brüllte ihnen seine Wut aus Leibeskräften entgegen. Trolle schienen eine angeborene Abneigung gegenüber Spinnen zu haben.
Einem Schwarm gleich drängten sich die Spinnenmänner in die kämpfenden Reihen und entfachten den übrig gebliebenen Nordnomaden neuerlichen Eifer wie Angriffslust.