So ein schöner Tag. Der Herbst beginnt, die ersten Blätter werden rot und orange und ein leiser Wind geht durch die Baumkronen. Ganz leise, als wenn er fast gar nicht da wäre, so wie ich ... Diese Gedanken quälen Tim schon seid er denken kann. Ob es als Kind auch schon so bei ihm war? Oft hatte er versucht das Gespräch mit seiner Mutter zu führen, doch mit ihr konnte man nicht über ernsthafte Themen reden. Sie stand dann auf, ging im Raum umher bis sie etwas fand, worauf sie das Gespräch lenken konnte. Vielleicht fand er den Herbst auch deswegen so schön weil er seiner Mutter so gefallen hatte. Doch gleichzeitig rief es wieder dieses "Verloren sein" Gefühl in ihm hoch, weil er immer nur im Herbst seine Mutter fragte, wie er denn so als Kind gewesen sei, sie das Gespräch nicht führen konnte und dann fragte, ob sie nicht spazieren gehen wollten. Irgendwann gab er es auf mit ihr darüber reden zu wollen und beschloss es bei seinem Vater zu versuchen.
Es graute ihm davor, denn sein Vater war ein starker Charakter, im kompletten Gegenteil zu ihm selbst! Sein Vater war ein groß gewachsener Mann, breites Kreuz und wenn er den Raum betrat, schauten alle nach ihm. Die Frauen fingen an ihn anzuschmachten und die Männer blickten ihn entweder voller erfurcht an oder der neid funkelte in den Augen.
Wenn er, Tim, einen Raum betrat, viel er nie auf. Keiner schaute nach ihm. Er hatte es einmal versucht und hatte sich in einem Café an einen Tisch voller fremder Menschen gesetzt, erst nach einer geschlagenen halben Stunde fiel jemandem auf, dass keiner am Tisch ihn kannte. Tim stand stumm auf und verließ das Café. So verloren, glaube er damals, könnte es nicht schlimmer werden. Er war wie ein Geist, der er nie sein wollte.
Als er zu seinem Vater ging und ihn fragte, mit zittriger Stimme und auf seine Fußspitzen schauend: "Vater, wie war ich als Kind? Konnte ich mich schnell mit anderen Kindern anfreunden?" Da lachte dieser nur höhnisch und schallend auf, schüttelte den Kopf und erwiderte: "Du und anfreunden? Hast du jemals in deinem Leben schon einmal Freunde besessen? Du bist ein nichts! Hast dich schon als Hosenscheißer immer nur am Rockzipfel deiner Mutter versteckt und kein anderen angeschaut. Ich habe ihr gesagt, sie soll härter zu dir sein, dich nicht so verhätscheln und auch mal eine tracht prügel wäre sinnvoll, nur so würdest du es lernen. Aber deine Mutter dachte ja sie weiß besser wie sie damit umgehen sollte. Sie nahm dich aus dem Kindergarten raus und zog dich zu Hause groß. Du wärst schüchtern, du bräuchtest noch Zeit. Du wärst noch nicht soweit, bla bla bla. Das waren ihre ausreden!! Lächerlich!! Aus dir wird nie etwas werden, bedank dich bei deiner Nutzlosen Mutter!"
Tim war Fassungslos und nicht im Stande irgendetwas zu erwidern. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging. Das verächtliche Lachen seines Vaters im Rücken.
Nun sitzt er hier am Fenster, die Sonne steht hoch am Himmel und er fragt sich, was er in diesem Leben eigentlich zu suchen hatte? Keiner kennt ihn oder würde ihn gar vermissen, nun da seine Mutter verstorben war. Sein Vater hatte nach der Beerdigung allen Kontakt abgebrochen mit den Worten "Endlich kann ich ein neues Leben, ohne euch Versager anfangen." Und in diesem Moment wurde Tim klar, dass nun der Punkt gekommen war, an dem es nicht mehr schlimmer werden konnte. Er lebte in einer Stadt in der niemand seinen Namen kannte oder gar wusste das er überhaupt existierte. Bei seinem Job im Callcenter, hatte er nur Kontakt mit den Menschen die am Telefon waren. Und selbst diese legten meist sofort auf, nachdem er den Firmennamen und sein Anliegen eine Umfragen machen zu wollen, ausgesprochen hatte.
Was sollte er tun? In seinem Innern herrschte eine große tiefe Einsamkeit. Er konnte nicht mehr weinen, die Tränen waren versiegt und es breitet sich ein schmerz in seiner Brust aus, der sich in seinen Magen zog und seine Fingerspitzen kribbeln lies. Er schlang die Arme um sich selbst um sich Geborgenheit vorzuspielen, es wehrte nur sehr kurz. Es war kalt, er schaute auf die Heizung neben der er saß, sie war auf fünf aufgedreht, aber er fror. Er fror tief aus seinem inneren.
Einem Impuls folgen zog er sich seine Schuhe an, nahm Jacke und Schlüssel und ging hinaus. Er zog den Kragen hoch und ging blind links durch die Straßen. Die Sonnenstrahlen wärmten ein wenig sein Gesicht und er genoss für einen Augenblick das Gefühl der wärme. Dann ging er weiter und weiter bis er so durchgefroren war und nach einem Café ausschau hielt. In das nächstbeste trat er ein und setzte sich an einen leeren Tisch. Die Bedienung bemerkte ihn erst nach zwanzig Minuten, obwohl er mehrfach die Hand in ihre Richtung hob. Er bestellte sich eine heiße Schokolade ohne Sahne und wartet geduldig bis sie kam.
Nun saß er dort und dachte über das Leben nach. Sollte er es wagen wieder einen Neuanfang in einer anderen Stadt zu wagen? Er könnte direkt auf die Menschen dort zugehen, sie ansprechen und sich mit ihnen nach Feierabend treffen, was hatte er schon zu verlieren? Doch insgeheim wusste er, er machte sich was vor. Er war einfach nicht wie die anderen und würde es nie sein. Diese Traurigkeit übermannte ihn erneut und er spürte Tränen in seinen Augen brennen. Er lies sie laufen, wofür sollte er sich schämen, es nahm doch sowieso keiner wahr.... Und da war er wieder, dieser Gedanken der seinem Leben endlich ein Ende setzten wollte. Dann wäre die Leere, die Einsamkeit, die Traurigkeit und die Frustrationen endlich weg und er könnte glücklich werden...
Er weiß nicht, wie lang er nun schon so da saß, über seine heiße Schokolade gebeugt die er nach und nach mit seinen Tränen versalzte, als plötzlich in seinem Blickfeld eine Hand mit einem Taschentuch auftauchte. Er hob nicht den Blick sondern starrte dieses Tuch an. Eine leise Stimme erklang: "Nehmen Sie ruhig, ich habe noch mehr." Langsam hob er den Blick, eine Frau saß ihm gegenüber, wann sie gekommen und sich gesetzt hatte, konnte er nicht sagen. Erneut sprach sie ganz leise: "Entschuldigen Sie, falls ich sie erschreckt haben sollte, es war kein andere Platz mehr frei und ich bin es gewohnt nicht wahrgenommen zu werden. Also dachte ich, es würde nicht auffallen ... So wie immer." Sie lies den Blick sinken und er nahm ihr das Taschentuch ab, bedankte sich murmelt und fügte etwas lauter hinzu: "Nun sind wir hier, zwei Unsichtbare und verlassene Seelen und versuchen in der Welt zu bestehen..." Sie hob den Blick, sie schauten sich an und das erste mal in Tim´s Leben spürte er wärme in seinem inneren. Ein kleiner Funke, aber er war da...