Ihr Kopf dröhnte.
Ein widerliches Pochen hatte sich bereits vor Stunden hinter ihren Schläfen eingenistet und wollte sie einfach nicht mehr in Frieden lassen.
Und mit jedem weiteren Piepen der Kasse wurde es schlimmer.
Aber sei‘s drum – lächeln! Immer schön lächeln.
Ihr einstudiertes, absolut nichtssagendes Arbeitslächeln begann ihr bereits in den Mundwinkeln wehzutun.
Das für sich allein genommen schon kopfschmerzerregende Geplapper der Massen, das Gekreische und Gequengel der Kinder an den Grabschwaren im Kassenbereich und das Schwadronieren ihrer Kollegen, die kurz vor Weihnachten selbst noch den billigsten Chinaschrott als Wunderwerk der Technik anpriesen, wurde tatsächlich noch von etwas anderem übertönt: Whams untoten Weihnachtsliedzombie Last Christmas, den schon vor mehr als dreißig Jahren niemand mehr hören wollte.
Sie warf einen schiefen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz nach halb acht. Nur noch eine halbe Stunde.
Entspanntes Weihnachtsshopping im Elektronikmarkt Ihres Vertrauens strahlte es ihr die Sprechblase, die über dem Werbeschild mit dem überdimensionierten, leuchtend roten Weihnachtsmann hing, in diversen Ausführungen entgegen.
Von wegen!
Mit Sicherheit nicht am 23.12. kurz vor Ladenschluss in dieser Ausgeburt der Hölle, dachte sie, als sie zum wiederholten Male technischen Kleinkram über den Scanner zog und schließlich mit einem breiten Lächeln zu ihrem Kunden aufsah.
„Das macht dann 239€ und 80 Cent. Wie möchten Sie zahlen?“
Ihr Lächeln wurde von dem gestresst wirkenden Mann im teuren Anzug nicht erwidert.
„Ja… ja, ich hab‘ sie, Schatz. Ja, natürlich. Ja, Schatz. Moment mal eben. - Wie kann das denn bitte sein?“
Verdutzt schlug sie die Augen auf, da sie sich im ersten Moment nicht sicher war, ob er jetzt mit ihr, oder mit „Schatz“ am anderen Ende des Smartphones sprach.
Sich das Handy genervt zwischen Kinn und die umständlich hochgezogene Schulter klemmend, sah er sie abwartend an.
„Naja, Sie haben ja ordentlich eingekauft“, witzelte sie verwirrt und besah sich das Sammelsurium aus DVDs, Amazon Fire-TV Stick, Funkfernbedienungen und diversen Waren vom Grabbeltisch. Verunsichert reichte sie dem Mann den Kassenbon über den Schalter, den er ihr gierig aus der Hand riss.
„Von wegen, Fräulein. Da vorne stehts doch. Direkt unter dem Weihnachtsmann: 20% auf alle Elektrokleinteile. Sie haben mir da aber absolut nichts abgezogen. Hier, schauen Sie!“
Er wedelte mit dem Kassenbon vor ihrer Nase herum, als wolle er sie damit hypnotisieren.
„Absolut nichts haben Sie mir abgezogen! Nichts!“
Die immer weiter anwachsende Schlange hinter dem Mann begann zu murren und zu stöhnen.
Sie brauchte jetzt ganz dringend eine Familienpackung Aspirin.
Die Schmerzen in ihren Mundwinkeln wurden immer schlimmer.
„Ja, aber dem Kleingedruckten unter dem Weihnachtsmann können Sie entnehmen, dass es sich dabei um bereits im Vorfeld reduzierte Ware aus einer unserer Gondeln handeln muss, sonst-“
„Das steht da nicht!“, fuhr er ihr barsch ins Wort und steckte nun endlich – obwohl es auf sie einen beinah bedrohlichen Eindruck machte – das Handy in die Anzugtasche und knallte ihr mit der flachen Hand den Kassenbon auf den Tresen.
„Wo steht das da bitte? Soll ich in das Bild reinkriechen, um das lesen zu können, oder wie? Gute Frau, ich will jetzt meinen Rabatt haben und zwar sofort!“
„Jetzt hören Sie mir doch bitte-“
„Geht es da vorne auch irgendwann mal weiter? Manche Leute wollen nach Hause!“, dröhnte eine tiefe Stimme aus dem hinteren Ende der Schlange zu ihnen herüber. Das Gemurre und Gemurmel der Masse wurde lauter.
Wie aus dem Nichts legte sich eine warme Hand von hinten auf ihre Schulter.
Überrascht sah sie auf und blickte in ein Paar ihr bekannter, brauner Augen, die ihr aufmunternd zuzwinkerten.
Ben.
„Ich kümmere mich um den Herrn“, sagte er mit der vertrauten, ruhigen Stimme, würdigte den Kunden jedoch zunächst keines Blickes.
„Würdest du dann einmal nach den elektronischen Haarbürsten sehen?“
Sie nickte langsam und erhob sich rasch von ihrem Platz.
Das Gekeife des Kunden wurde leise, je weiter sie sich entfernte. Bens beruhigende Stimme schien sie jedoch zu begleiten. Mit einer Engelsgeduld sprach er mit dem mittlerweile wild gestikulierenden Kerl. Sie grinste in sich hinein.
Elektronische Haarbürsten.
Das war ihr Codewort, wann immer die Kacke am Dampfen war.
Kein Mensch würde jemals elektronische Haarbürsten kaufen. Wobei… während sie den Blick durch den brechend vollen Laden schweifen ließ, vorbei an gestressten Müttern mit heulenden Kindern an den Händen, verwirrten Großeltern, die nicht wussten, welches von den komischen, neumodischen Dingern ihr Enkel denn jetzt explizit wollte und erwachsenen Männern, die sich beim Anblick der neuen Nintendo Switch gefühlt wieder ins Teenageralter zurückentwickelt hatten, war sie sich da auf einmal nicht mehr so sicher.
Und aus allen Lautsprechern plärrte nach wie vor mit einer nervtötenden Penetranz Last Christmas.
*
„Na? Wie stehts um die elektronischen Haarbürsten?“
Ben grinste breit, als er um kurz nach acht die wackelige Gittertreppe in den Hinterhof mit federnden Schritten hinabhüpfte und sich die Jacke enger um die Schultern zog. Weiße Schwaden kondensierten Atems quollen bei jedem seiner Worte aus seinem Mund und schwebten gen Himmel.
„Habe den Bestand gewissenhaft geprüft. Alles beim Alten“, grinste sie und kam aus ihrem Versteck zwischen den riesigen Müllcontainern hervor.
"Meine Güte hast du Augenringe. Die kriegen ja schon Junge."
Ben lachte, als er sich zu ihr neben den Müllcontainer stellte.
"Danke. Du bist auch sehr sexy."
Auffordernd hier sie ihm die angebrochene Schachtel Zigaretten entgegen. Ben nickte dankend und zupfte sich eine aus dem Päckchen.
„Was ein Wichser“, atmete er in den Rauch der frisch entflammten Zigarette und sie konnte nur beipflichtend nicken.
„Großer Wichser. Ganz großer.“
„Immerhin konnte ich ihn in meiner freundlichen Art davon überzeugen, dass ihm kein Rabatt auf die Waren zusteht. Er hat nichts von all dem Kram gekauft.“
Sie schnaubte verächtlich durch die Nase.
„Na, wenn „Schatz“ das man gut findet.“
Bens Lachen wurde lauter und er zog hektisch an der Zigarette. Sie konnte das dünne Papier knistern hören, wie die Glut es verbrannte. Sie zerdrückte ihren Zigarettenstummel unter ihrem Absatz und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Danke dir.“
Sie lächelte und diesmal tat es ihr nicht in den Mundwinkeln weh.
„Ohne deine Hilfe hätte das sehr unschön werden können“, stöhnte sie leise und lehnte sich hinterrücks gegen die Betonwand des Innenhofes. Sie spürte augenblicklich, wie die Kälte durch den dünnen Stoff ihrer Jacke kroch.
„Weißt du was?“, er sah sie mit großen Augen an, als er die Zigarette wegschnippte. „Ich lad dich zum Essen ein.“
„Was? Wann?“
Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch. Sie kannten sich seit Jahren. Vom ersten Tag an, als sie im Elekronikwunderland angefangen hatte und er hatte sie noch nie zum Essen eingeladen.
„Na jetzt. Komm, du hast doch sicher Hunger.“
„Und wo wollen wir hin?“
Ben zuckte mit den Achseln, ehe er den Arm um ihre Schultern legte. Augenblicklich wurde ihr ein wenig wärmer.
„Wo du hinmöchtest. Solange es dort keine großen Wichser gibt, bin ich mit allem einverstanden.“
Sie legte den Kopf schief, ehe sich ein breites Lächeln auf ihre Lippen schlich.
„Mir ist auch alles recht. Solange sie dort nicht Last Christmas spielen.“