»Was hast du denn plötzlich? Ist dir nicht gut?«
»Alles gut«, murmelte Jella, zog ihre langen dunkelbraunen Haare unter dem bunten Tuch, das sie sich um den Hals geschlungen hatte, hervor und warf sie über die Schulter. Sie sah ihre Freundin entschuldigend an. »Ich weiß auch nicht, es ist nur … Vielleicht drehe ich einfach nur durch.«
Die kleinere, zierliche Frau lachte hell auf. »Allerdings, das unterschreibe ich sofort! Du bist einfach zu lange nicht mehr unter Menschen gekommen! Klar, dass du dich ständig beobachtet fühlst. Wer sonst nur Schreibtisch und seine Wände als Gesellschaft hat, muss doch bei mehr als drei Menschen die Krise bekommen!«
»Ja, vermutlich wird es das sein.«
Jella musterte die entgegenkommenden Menschen, sah sich unauffällig um, doch sie konnte nichts entdecken, nur den üblichen Trubel. Seit Tagen hatte sie immer wieder stechende Kopfschmerzen gehabt, aus dem Nichts heraus, dann waren sie plötzlich wieder weg gewesen.
Sie ließ den Kopf sachte kreisen. Seit diesem blöden Fahrradunfall vor bald zehn Tagen schien ihr Körper verrücktzuspielen. Natürlich war sie nicht zum Arzt gegangen, das tat sie nie. Die kleinen Verletzungen des täglichen Lebens vergingen einfach zu schnell bei ihr. Dieses Mal jedoch war sie von einem rechts abbiegenden Lkw eines Paketauslieferers an einer Ampel vom Fahrrad geholt worden. Der Helm hatte zwar ihren Schädel, aber natürlich nicht ihren Rücken geschützt und so hatte der Asphalt ihr tiefe, brennende Kratzer auf der linken Seite verpasst, die zwar verheilt waren, aber doch immer noch ziepten. Und nicht nur das – kurz nach dem Fahrradunfall hatte es begonnen, das, was einfach nicht sein durfte.
Zuerst war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie sich getäuscht und keine blassblauen Flammen gesehen hatte, die über ihre Unterarme gezüngelt waren. Wie oft sah man schließlich aus den Augenwinkeln ein Blitzen und stellte fest, dass es nichts zu bedeuten hatte? Doch sie waren da gewesen, erst winzige Blitze, dann waren es zwar kleine, aber doch ausgewachsenen Flammen geworden, die mit einem unangenehmen Hitzegefühl einhergingen. Mit ihnen hatte sich Unruhe in ihren Körper eingenistet, eine kaum greifbare Spannung, die sie schlecht schlafen und bei Nichtigkeiten gereizt reagieren ließ. Am Vortag hatte ein Arbeitskollege sie dermaßen erschreckt, dass sie gerade noch die Hitze bemerkt hatte, die ihr in Wangen und Glieder geschossen war. Sie hatte in den Waschräumen verschwinden können und hatte minutenlang Wasser über ihre Arme laufen lassen, damit bloß dieses tückische Brennen verschwand. Es war wie ein Fieber, ausgelöst von irgendetwas, das in ihr schlummerte, etwas, das sie nur mit bloßem Willen im Schach halten konnte, zumindest hatte sie es gekonnt – bis vor ein paar Tagen.
Jella rieb sich den Nasenrücken und seufzte tief. Sie würde dem nicht nachgeben, würde sich nicht dieser Glut hingeben, das durfte sie nicht, denn die Glut war böse, so hatte es ihr Vater beigebracht. Böse. Schlecht. Unnatürlich.
»Du musst mal wieder raus kommen!«, drang Sannes Stimme durch ihre Gedanken. »Dann kommst du auf andere Ideen!«
Vielleicht hatte sie Recht, überlegte Jella. Vielleicht musste sie ihre wirren Befürchtungen einfach nur mal mit einer gehörigen Portion Alkohol runterspülen? Nein, das würde sie die Kontrolle verlieren lassen. Ihr Fieber war da unerbittlich, wie ein flüsternder Dämon, der sie an ihre Grenzen treiben wollte. Wegtanzen würde sicher auch fürs Erste funktionieren.
»Immerhin habe ich ja meinen persönlichen Tarnumhang dabei!«, murmelte sie und grinste ihre Freundin versöhnlich an.
Was andere Frauen vielleicht als Albtraum empfanden, war ganz nach Jellas Geschmack: Sanne war eine ausgesprochen schöne Frau, die Sorte Frau, die bei Männern Sabbern hervorrief und Beschützerinstinkt und Jagdtrieb gleichzeitig weckte. Wenn sie mit ihr unterwegs war, schien sie selbst unsichtbar, was angesichts der zwanzig Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen beiden seltsam wirkte. Sanne war eine rotblonde, Einsfünfundsechzig kleine zierliche Elfe wie aus dem Bilderbuch und hatte blaue, leuchtende Augen, die vergnügt funkelten und sie mit tiefschwarz getuschten Wimpern anklimperten.
»Wenn deine schönen Ozeanaugen nicht jedes männliche Wesen, das sich dir in friedlicher, spendierfreudiger Laune nähert, mit Laserstrahlen zu Staub zerfallen lassen würden, würdest du merken, dass ich als Tarnumhang eine Niete bin!« Sanne schürzte die Lippen und blieb an den Auslagen eines Gemüseladens stehen, die den halben Fußweg einnahmen. »Warte, ich brauch noch Tomaten und Avocados.«
»Hast du vor, deine Pfirsichhaut mit Avocadomatsch einzuschmieren, bevor du zu der Party heut Abend aufbrichst?«
»Nein, Jella. Ich werde deine Pfirsichhaut mit Avocadomatsch einschmieren, bevor ich dich auf diese Party schleppe!« Sanne warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Wir suchen dir heute Abend einen Kerl. Und mir auch. Dann haben wir Spaß mit den Auserwählten und morgen Mittag haben wir ausreichend Stoff zum Lästern. Keine Widerrede!« Sie hob einen ihrer überreichlich beringten Finger. »Wenigstens einen zum Knutschen!« Jella schnaufte nur, als sie Sannes gespielt strengen Blick über sich hinweggleiten fühlte.
»Du weißt, wie neidisch ich auf deine Stempelkissenlippen bin? Also, sieh zu, dass du sie dazu benutzt, wofür sie gemacht sind!«
»Hmpf!«, stieß sie aus und wusste, dass Sanne es nur gut meinte. Doch im Moment war ihr Job in der Uni-Bibliothek, der Job in der Agentur und auch noch ihr größenwahnsinniges Unterfangen, jetzt doch noch einen Master hinterherzuschieben, einfach mehr als genug, ganz zu schweigen von dieser Unruhe, die ihre Nerven kribbeln ließ. Sie hätte durchaus nichts gegen ein bisschen Entspannung gehabt.
»Eines Tages male ich dich!«, murmelte Sanne, ohne sie anzusehen und hatte sich endlich für ein paar Früchte entschieden, »ich male deine Lippen in Öl, pinsel deine Handynummer drunter und stelle das Bild aus. Du wirst dich vor Verehrern nicht retten können.«
»Ich habe keine Zeit für so was!«, wehrte Jella ab. Sie wühlte in ihren Manteltaschen nach einem Kaugummi und stopfte sich eins in den Mund. »Ein halbes Jahr noch, dann …«
»Verschieb dein Leben nicht auf später!«, mahnte ihre Freundin sie altklug und packte Lauch und Zwiebeln in den Einkaufskorb. »Hast du gesehen, wie dich der Kerl vorhin im Café angestarrt hat?«
Jella zuckte mit den Schultern. »Nö. Welcher Kerl?«
»Dieser große Dunkelhaarige? Der hat dich mit Blicken ausgezogen, Fräulein, das kann ich dir aber sagen!«
»Du hast eine blühende Phantasie.«
»Die hatte er auch!«, gab Sanne ungerührt zurück. »Das war vielleicht der Vater deiner zukünftigen Kinder, Schätzchen!«
»Und ich werde ihn niemals wieder sehen. Zu tragisch!«, knurrte Jella und folgte Sanne in den Laden hinein. Eigentlich konnte sie sich ganz gut an den Mann erinnern, oder zumindest an diese dunklen Augen, die kurz, kaum länger als einen Herzschlag lang, ihren Blick festgehalten hatten. Ihr Herz hatte danach heftig geklopft, und noch während sie auf dem Weg zu den Toiletten gewesen war, hatte sie beschlossen, mit Sanne aus dem Café zu verschwinden. Irgendwie … hatte sie nicht mehr stillsitzen können.
»Ehrlich, Sanne, auf so eine Party habe ich wirklich keine Lust!«
»Doch, hast du. Ich habe mein Auto nicht zufällig bei dir an der Wohnung geparkt. Es hat ewig gebraucht, bis ich einen Parkplatz gefunden hatte, und das alles nur, weil ich Unmengen an Sekt im Kofferraum habe, Sekt, den wir zwei Hübschen uns nachher fröhlich hinter die Binde gießen werden, klar?« Sanne tippte ihr gegen die Brust. »Du, ich, heute Abend, verstanden? Du hast mich schon die letzten drei Mal vertröstet!«
Jella starrte das Keksregal, vor dem sie stehen geblieben waren, verzweifelt an und suchte in ihren Hirnwindungen nach einleuchtenden Ausreden oder gar echten Gründen. Doch Sanne würde ein Irgendwie fühle ich mich so seltsam die letzten Tage zum einen mit Tarotkartenlegen behandeln und abgesehen davon auch nicht gelten lassen. »Na schön!«, seufzte sie ergeben. »Ich bin dabei.«
Ihre Freundin strahlte sie an. »Dann kannst du endlich dieses tolle schwarze Kleid tragen, das du dir letztes Jahr gekauft hast! Und die blaugrüne Perlmuttkette! Und – «
»Sanne – ruhig Blut.« Jella hob die Hände. »Wir gucken, was mein Kleiderschrank hergibt, und dann … mal sehen, in Ordnung?«
»Hauptsache, du lässt dein undiplomatisches Wesen heute Abend zuhause! Ich habe reihenweise Typen Reißaus nehmen sehen, weil du sie – «
»Ja, ich weiß.« Jella rollte mit den Augen. »Ich guck mal, was ich einrichten kann«, brummte sie. »Lass uns wenigstens was Ordentliches essen, bevor wir deinen Kofferraum plündern!«, murmelte sie und schnappte sich zwei Tüten Chips aus dem obersten Regal.
»Das ist nichts Ordent- «
»Sanne – das ist Nervennahrung. Ich esse beide Tüten ganz allein, wenn du willst, denn bei meinen Kurven fällt das eh nicht mehr auf.«
Sanne schnaubte. »Und ich habe ein langes, flatterndes Kleid. Da kann ich mir ein bisschen Bauch drin erlauben.«