Der Prinz stand im Stall und ging nochmals seine Liste durch, ob er auch nichts vergessen hatte. Da er allein mit seinem Knappen Sero und zwei Pferden reisen würde, konnten sie nicht allzu viel an Gepäck mitnehmen. Decken, um sich nachts warmzuhalten, konnte man leicht zusammenrollen, für Kleidung hatte Rowan einen Sack zum Umhängen. In den Taschen, die an Seros Sattel befestigt werden würden, waren ein Zelt verstaut und Kochutensilien. Proviant würden sie nur das Nötigste mit sich führen. Es war leicht, sich frische Nahrung zu jagen oder etwas Brot von Bauern oder Händlern zu kaufen. Rowan würde genügend Gold dabei haben, in verschiedenen Verstecken in Seros und seinen Taschen und auch an seinem Körper. Außerdem würden sie beide Waffen mit sich tragen, da auch ein Prinz auf der Landstraße nicht vor Banditen sicher war.
Seine Mutter hätte es gern gesehen, wenn ihr Sohn mit einer Kutsche und einem zusätzlichen Diener gereist wäre, doch er hatte abgelehnt. Es hätte zu lange gedauert. Auf dem Rücken eines Pferdes war man schneller und da es im westlichen Windschatten der trallischen Berge notwendig war, den großen Strom Caystros zu überqueren, hätte es einen ganzen Tag gedauert, eine Kutsche mit der Fähre zu überführen, geschweige denn diese durch die große Schlucht Hiatus zu befördern, die Annwyn von Trallien trennte. Rowan fühlte sich schon jetzt unwohl, wenn er an den Fluss dachte, weil er Gewässer hasste.
Er hörte nicht, dass jemand den Stall betrat. Erst als Agrippa, der schneeweiße Hengst, zu schnauben begann, konnte Rowan das feine Streichen langen Stoffes auf dem heubestäubten Boden hören.
»Wie kommen deine Vorbereitungen voran?« Ana stand hinter ihm, im Gang vor der Pferdebox und lächelte milde.
Es waren drei Tage vergangen, seit Rowan seinen Vater in seinen Entschluss, sie zu heiraten, eingeweiht hatte. Ana wusste um den Auftrag, den der Prinz erhalten hatte und auch, dass der König im besten Fall wünschte, dass Rowan die trallische Prinzessin zur Frau nahm. Dass sie selbst, Ana, nur die Notlösung war.
Sie machte Rowan keinen Vorwurf. Sie wusste, dass er ohne den Auftrag des Monarchen nicht nach Trallien aufbrechen würde, dass sie nun, nachdem er sich entschlossen hatte, für ihn die erste Wahl war. Aber er wollte und konnte seinen Vater nicht enttäuschen. So war das als Thronfolger. Man hatte zu gehorchen.
Rowan blickte über seine Schulter und lächelte leicht. »Ich werde entweder verhungern, erfrieren oder im Caystros ertrinken ...«, sagte er düster. »Und Sero wird mir keine große Hilfe sein, fürchte sich.« Er lächelte etwas breiter. »Wir reiten mit leichtem Gepäck, kein königlicher Schnickschnack für mich. Ich schlafe auf dem Boden, wie jeder andere auch. Solange ich eine Decke habe und etwas Brot und Käse ...«
»Und dich nicht verletzt, dir eine Entzündung einfängst oder wirklich stirbst.«
Rowan grinste. »Wir haben Arzneien dabei. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
»Nicht mal unbedingt deswegen. Ich weiß, dass du dich verteidigen kannst und eine Kondition wie ein Ochse hast … aber in Tralliens Bergen und Wäldern soll es Drachen geben. Was, wenn ihr auf einen trefft?«
»Dann werden wir womöglich schleunigst die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen. Ana, es wir alles gut werden.«
Die junge Frau seufzte. »Wenn alles gut wird, wirst du eine Person heiraten, die du nicht kennst. Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, es würde nicht gelingen.«
»Du willst also nicht, dass ich in einem Stück zurückkomme?« Rowan grinste breit und Ana schüttelte den Kopf.«
»Natürlich will ich das! Aber … ich denke, vielleicht wäre es besser, wenn diese Prinzessin nur eine Legende ist. Vielleicht ist das Kind nach der Geburt gestorben und man hat es nie offiziell verkündet, um eine mysteriöse Geschichte vorweisen zu können. Oder weil man sich geschämt hat.« Ana senkte den Blick. Rowan konnte ihre Gefühle verstehen. Wenn die Mission gelang, musste er womöglich die geheimnisvolle, trallische Prinzessin ehelichen und sie, Ana, würde nach wie vor ledig bleiben. Es würde sie sehr schmerzen, Rowan mit einer anderen Frau zu sehen.
Er wusste darauf nicht wirklich etwas zu antworten. Er hatte Ana wirklich lieb und der Gedanke, sie zur Frau zu nehmen, fühlte sich gut für ihn an, doch er hatte insgeheim die Hoffnung, in der geheimnisvollen Prinzessin, von der man nicht einmal den Namen kannte, vielleicht seine wahre Seelenverwandte zu finden, die wahre Liebe, das, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hatte. Doch das würde er Ana nicht sagen, es würde sie verletzen.
»Ich weiß nicht einmal, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Wo fängt man an zu suchen, wenn niemand etwas weiß? Ich kann ja nicht einfach nach Thalea zu König Thedosio gehen und fragen, wo er glaubt, dass seine Tochter hin verschwunden ist. Dann wäre sie kaum verschollen.«
»Nein. Wenn er es wüsste, hätte er sie gesucht. Oder es war ihm egal.« Ana lehnte sich an die Pferdebox und streichelte Agrippas samtene Nase, der sich neugierig genähert hatte.
»Vater sagt, Töchter bedeuten dem trallischen Königshaus wenig, da man, wenn man sie verheiratet, immer damit rechnen muss, dass zu viel fremdes Blut in die Familie kommt und zu viel fremder Einfluss. Die trallischen Prinzen heiraten nur Frauen und Prinzessinnen ihres Volkes. Oder erinnerst du dich an eine einzige Prinzessin in der Geschichte, die aus Trallien kam?«
Ana schüttelte den Kopf. »Nein. Du wärst der erste, wenn es dir gelingt.«
»Wenn Thedosio mich nicht vorher umbringen lässt oder mir Steine zwischen die Beine wirft. Oder wir von einem Drachen gefressen werden. Ich gebe zu, ich wünschte, ich könnte hier bleiben. Aber anderseits hat Vater Recht. Ich habe noch nichts von der Welt gesehen außer Annwyn und das bisschen, was ich von den Reisen zu den Solem-Festen kenne. Und ich war noch nie in Trallien, auf das ich schon immer neugierig war.«
Die Prinzessin lächelte leicht. »Du freust dich auf die Reise, oder? Also zumindest ein kleines bisschen?«
»Es ist ein Abenteuer, das gebe ich zu.« Rowan grinste.
»Weil du halt ein Mann bist. Ich glaube, ich hätte Probleme damit. Nicht weil ich so pingelig bin mit meiner Kleidung, aber du kennst mich. Ich würde erfrieren. Oder ersticken.«
Rowan nickte. Ana fror wirklich schnell, das lag an ihrer früheren Erkrankung. Die Höhenluft in Trallien war außerdem dünner als hier im Tiefland und Ana, die seit ihrer Schwindsuchterkrankung an Asthma litt, könnte die Anstrengung nicht gut verkraften. Das wäre zu gefährlich.
Ana lächelte ihn wieder an. »Gut, ich lasse dir dein Abenteuer und hoffe, dass du heil zurückkommst. Mit oder ohne eine Prinzessin. Denn du weißt, dass ich damit leben könnte, wenn du eine andere heiratest, schwerlich, doch es ginge. Aber nicht, wenn du dein Leben verlierst.«
Rowan nickte und griff nach einer ihrer langen Haarsträhnen. Er zog sie an die Nase und schnupperte daran, was Ana kichern ließ.
»Wann wirst du aufbrechen?« Sie zog ihre Haare aus seinen Fingern und er griff stattdessen nach dem Stoff ihres Ärmels, was sie seufzen ließ.
»Morgen, wenn bis dahin alles gepackt ist.«
»Wird der König eine offizielle Ankündigung machen?«
»Nein. Ich gehe auf eine Reise, was sollte daran offiziell angekündigt werden? Aber es gibt heute Abend ein Abschiedsessen. Was nicht sein müsste, da eh nur die Familie teilnimmt.«
Ana nickte. Sie betrachtete den jungen Mann mit den schwarzen Haaren und dem ordentlichen Bart, der seinen Mund umrahmte, eingehend, während er Heu in Agrippas Box hievte und auseinander pflückte, damit das Tier fressen konnte. Das Spiel seiner Muskeln unter dem einfachen, weißen Hemd gefiel ihr. Rowan war ein schöner Mann und es wunderte die Prinzessin nicht, dass sich viele Frauen um ihn rissen. Auch auf dem Solem-Fest war er ständig aufgefordert worden. Oft hatte er aus Höflichkeit zugestimmt und musste so stundenlang tanzen. Sie wäre sehr traurig, wenn sie ihn nicht würde heiraten können. Doch solange er lebte, wäre er ihr bester, ältester und liebster Freund und das war alles, was sie wollte.
Der Prinz schob sich seine Liste in die Tasche seiner Hose, putzte sich die Hände ab, um den Heustaub loszuwerden und trat aus der Box.
»So … es ist nahezu Mittag, richtig? Ich sollte mich waschen gehen, bevor ich zu Tisch gehe. Geh' doch schon einmal vor, ich komme gleich nach.«
Ana blickte ihn lange an, was er bemerkte und verwundert die Augenbrauen hochzog.
»Ist was?«
»Nein … ja … ich …« Die Prinzessin machte einen schnellen Schritt vor und presste ihre Lippen auf die Rowans. Dieser machte ein überraschtes Geräusch, entzog sich ihr allerdings auch nicht, sondern ging einen Schritt näher an sie heran. Ihre Lippen waren weich und warm und es fühlte sich angenehm an, sie zu küssen. Es war keine lodernde Leidenschaft darin, nichts entzündete ein Feuer in ihm, doch es war auch nicht abstoßend.
Sie machte sich nach einem Moment wieder von ihm los, sah ihn verlegen an und stotterte ohne Zusammenhang. Rowan lächelte nur.
»Wir haben das alles schon einmal durch, warum also so verlegen?«
»Ich weiß nicht … jetzt ist es irgendwie etwas anderes. Ich gehe schon einmal hinein.« Ana flüchtete beinahe aus dem Stall und ließ den Prinzen allein. Der verschloss Agrippas Box sorgfältig, kehrte die Heureste im Gang zusammen und machte sich dann daran, den Stallgeruch von sich zu waschen, bevor er zum Mittagessen mit der Familie ging.
Als er den Stall verließ und auf den Schlosshof trat, sah er seinen Knappen, den siebzehnjährigen Sero, an einer der Tränken sitzen und mit einem Mädchen schäkern. Der blonde Sohn eines annwynischen Fürsten war sehr lebhaft und überaus interessiert am anderen Geschlecht, was ihn gern mal seine Pflicht vergessen ließ. Rowan pfiff und der Junge hob den Kopf. Als er den Prinzen erblickte, straffte er sich sofort, schob das Mädchen von sich und erhob sich. Mit zügigen Schritten kam er auf Rowan zu und verbeugte sich.
»Königliche Hoheit.«
»Hast du deine Sachen beisammen? Ist alles gepackt? Ich möchte morgen früh zügig aufbrechen.«
Der Junge nickte. »Ja, mein Prinz. Es liegt alles bereit, die Satteltaschen sind gepackt, die Pferde sind frisch beschlagen und der Hafer steht auch bereit. Eure Waffen sind ebenfalls einsatzbereit.«
Rowan nickte. »Gut, dann lass deiner Familie eine Nachricht zukommen und mach dich bereit, morgen nach einem frühen Frühstück aufzubrechen.«
Sero nickte und wurde von Rowan entlassen, zu dem jungen Mädchen zurückzukehren, das noch immer auf ihn wartete.
Rowan selbst wandte sich dem Schloss zu, um die letzten Mahlzeiten vor seiner Reise noch einmal ausgiebig zu genießen.
Der Abend brach an und Rowan erhob sich von seiner Bettstatt, als Brigg, sein Leibdiener, den Raum betrat und sich verhalten räusperte.
»Gibt es etwas zu berichten?«, fragte der Prinz und ordnete seine Haare. Er war eingeschlafen und etwas aus der Ordnung geraten. Er drückte den Rücken durch, wodurch es hörbar knackte und glättete seine Kleidung.
»Das Abendessen ist angerichtet und die Familie erwartet Euch zu Eurem Abschiedsessen«, sprach der respektable Diener leise, doch der Prinz glaubte, noch etwas anderes in seiner Stimme zu hören.
»Sprich' dich bitte aus, Brigg. Sage, was du sagen möchtest.«
»Mein Prinz, ich bitte Euch, auf Eurer Reise auf Euch achtzugeben. Es bräche mir das Herz, wenn Ihr nicht gesund zu uns zurückkehren würdet.«
Rowan lächelte. Brigg war ihm sehr ergeben und er, Rowan, mochte den älteren Mann sehr gern. Er hatte sich bereits um sein Wohl gekümmert, als der Prinz noch ein Kind gewesen war, hatte mit ihm gespielt, wenn die Eltern keine Zeit gehabt hatten, hatte ihn stundenlang durch den Garten gejagt und ihn getröstet, wenn er sich wehgetan hatte. Brigg war Rowans Leibdiener, sein Lehrer, seine Kinderfrau.
»Ich werde in einem Stück zurückkehren, ich verspreche es.«
Der Diener nickte mit einem feinen Lächeln und hielt dem Prinzen seine Jacke hin, um sich für das Abendessen fertigzumachen. Dieser schlüpfte mit den Armen hinein und ließ sie von Brigg ordnen.
»Danke. Du kannst dich für heute Abend zurückziehen, wenn du möchtest.« Brigg bedankte sich mit einer feinen Verbeugung, öffnete dem Prinzen die Tür und wünschte ihm einen guten Appetit.
Als Rowan den Weg zum Speisesaal der Familie entlang ging, schweiften seine Augen nach rechts und links, als würde er sich all das, was er gewöhnt war, zu sehen, noch einmal genau einzuprägen versuchen. Dieses Gefühl war ihm unangenehm, denn es fühlte sich an, als würde er sich für immer von seinem Zuhause verabschieden. Es war wie ein schlechtes Omen. Und so schüttelte er den Kopf und beschleunigte seine Schritte.
Die Tür zum Familienesszimmer stand offen und er konnte den kleinen Prinz Jonah weinen hören. Die Stimme seiner Mutter versuchte, ihn zu beruhigen, aber er heulte nur noch lauter.
»Ist etwas passiert?«, fragte Rowan sofort, als er eintrat und betrachtete seinen kleinen Bruder genau. Hatte er sich verletzt?
»ROROOOOO!«, brüllte der Kleine und klammerte sich an Rowans Beine. »Ich will nicht, dass du weggehst. Wer spielt denn dann mit mir und geht mit mir reiten?« Die Tränen verschmierten sein süßes Gesichtchen und ließ den älteren Prinzen lächeln.
Königin Rabea seufzte. Sie hatte ihrem jüngsten Sohn schonend beibringen wollen, dass sein geliebter großer Bruder eine Weile verreisen würde. Sie hätte wissen müssen, dass Jonah das nicht gut aufnehmen würde. Er hing sehr an Rowan.
»Würdest du ihn trösten? Auf mich hört er nicht.«
»Ich merke es, Mutter«, antwortete der Kronprinz und nahm seinen kleinen Bruder auf den Arm. Der klammerte sich mit den Armen um seinen Hals und schluchzte.
»Hey, Jojo. Du bist doch schon ein großer Junge, warum weinst du denn so? Ich komme doch bald wieder.«
»Das ist mir egal. Ich will nicht, dass du weggehst. Und wenn, dann will ich mitkommen«, jammerte der kleine Prinz weiter. Seine Geschwister Eugena und Ferdic, die soeben den Saal betreten hatten, blickten einander verwundert an, weil sie mit solchem Theater nicht gerechnet hatten.
»Ja, Rowan. Nimm ihn mit und setze ihn aus bei den wilden Tralliern, die kleine Kinder fressen«, kicherte die Prinzessin frech, was Jonah noch mehr weinen ließ. Rowan warf seiner Schwester einen strengen Blick zu.
»Nicht lustig, Gena. Setz' ihm keinen Floh über die Trallier ins Ohr. Niemand frisst Kinder und ich werde ihn nicht mitnehmen!« Er setzte den kleinen Jungen auf einen Stuhl und ging vor ihm in die Knie.
»Jojo, hör' mal. Vater hat mich gebeten, nach Trallien zu reisen und etwas für ihn zu besorgen. Da kann ich doch nicht Nein sagen, oder? Ich verspreche dir, dass ich mich extra für dich sehr beeilen werde, um schnell wieder hier zu sein, einverstanden?«
Jonah hob den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Er hatte eine Rotznase und seine Wangen waren gerötet. Rowan zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte ihm über die Nase. Schließlich nickte der Junge, nahm seinem älteren Bruder das Tuch ab und schnäuzte sich.
Königin Rabea lächelte und auch Ana, die bereits im Saal war und das Schauspiel mitangesehen hatte, tat es. Rowan war ein liebevoller Mann im Umgang mit dem kleinen Jungen, was ihr zeigte, dass er sicher auch für seine zukünftigen Kinder ein großartiger Vater sein würde.
»Und … die Trallier werden dir auch wirklich nichts antun?«, fragte Jonah mit einem Seitenblick auf Eugena, die noch immer grinste wegen der Angst, die sie ihrem kleinen Bruder gemacht hatte.
»Aber nein. Das sind ganz normale Menschen, wie du und ich auch. Die tun mir nichts, wenn ich ihnen nichts antue. Und warum sollte ich das?«
Jonah zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht wollen sie dich ausrauben.«
Rowan zerzauste seinem Bruder die Haare. »Nicht alle Menschen sind böse, Jojo. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin wieder da, bevor du mich vermissen kannst.«
Er nahm neben ihm Platz, als sein Vater in den Saal kam. »Kinder, ich habe vielleicht Hunger. Ist das Mittagessen wirklich schon so lange her?« Er küsste seine Gemahlin auf die Wange und nahm seinen Platz an der Tafel ein.
Er ließ ein Glöckchen erklingen und die Dienstboten begannen, das Essen für die Familie aufzutragen. Jonah blickte begehrlich auf die rote, glitzernde Götterspeise, während Rowan den saftigen Braten interessanter fand. Er würde das gute Essen seines Elternhauses vermissen. Es war nicht so, dass er nicht jagen und aus der Beute Nahrung zubereiten konnte, doch es war natürlich nicht mit den gut gewürzten, fein zubereiteten Speisen zu vergleichen.
»Der Abreise morgen steht nichts im Wege, Rowan?«, fragte König Marek, nachdem jeder den ersten Appetit gestillt hatte.
»Nun, vielleicht steht Seros unstillbarer Hunger nach weiblicher Gesellschaft seiner Pünktlichkeit im Weg, aber abgesehen davon ist alles geplant und bereit. Nach dem Essen werde ich zu Bett gehen, damit ich ausgeruht bin. Es wird ein drei-Tages-Ritt bis zur Fährstation am Caystros und weitere zwei Tage bis zum Hiatus. In Trallien angekommen, kann ich ohnehin nichts vorhersagen.«
König Marek nickte. »Ich empfehle dir, zuerst nach Thalea zu reiten. Möglicherweise ist es gut, Thedosio deine Aufwartung zu machen. Nicht dass er deinen Aufenthalt in seinem Land als einen Affront ansieht, das gilt es zu vermeiden ….«
»Weil ich sonst eventuell doch im Kerker lande?«
Der Monarch schmunzelte und nickte. »Das wollen wir nicht. Wir brauchen dich hier in einem Stück zurück.«
»Brauche ich da nicht ein besonderes Gastgeschenk?« Es galt als höfliche Selbstverständlichkeit, beim ersten Besuch eines Königs eine kostbare Kleinigkeit mitzubringen.
»Aber ja. Ich habe bereits ein besonders schönes Stück annwynischer Webkunst für dich einpacken lassen. Brigg hat es in deinen Gemächern hinterlegt. Nimm es mit.«
Rowan nickte.
Der Rest des Abends verlief in ausgelassener Heiterkeit. Eugena erzählte amüsante Geschichten, die sogar am Ende den kleinen, untröstlich anmutenden Prinz Jonah wieder zum Lachen brachten. Rowan hatte lange nicht mehr so gelacht und war sich bewusst, dass die nächsten Wochen einsam werden würden ohne seine Familie. Andererseits war er ebenso gespannt auf die Reise, darauf, etwas Neues zu erleben, neue Landschaften zu sehen, ein ihm vollkommen fremdes Volk kennenzulernen.
Er wusste nur vom Hörensagen, was das trallische Volk für ein Menschenschlag war und war interessiert, was davon Realität und was Vorurteil war. Und er wollte das Land in den Bergen kennenlernen, wo auf den Berghängen immer Schnee lag, selbst wenn man in Annwyn unter der Sommerhitze ächzte.
Als Jonah über seinem Nachtischteller einschlief und halb vom Stuhl rutschte, nahm Rowan dies als Anlass, selbst ins Bett zu gehen. Er nahm den kleinen Jungen rittlings auf den Arm, der schlafend mit der Wange an seiner Schulter liegenblieb.
»Ich bringe ihn ins Bett und ziehe mich dann selbst zurück. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht.«
Das Königspaar nickte und schickte gleichzeitig auch ihre beiden anderen Kinder Eugena und Ferdic ins Bett, die ebenfalls bereits müde aussahen. Ana legte ihre Serviette auf den Teller, erhob sich und verbeugte sich leicht vor ihrem Onkel und ihrer Tante.
»Ich werde Rowan mit Prinz Jonah helfen. Ich wünsche Euch gute Nacht.«
Eugena und Ferdic murrten zwar, weil sie wie Kinder zu Bett geschickt wurden, gingen aber voran und Rowan wartete auf Ana, bevor sie sich auf den Weg zu Jonahs Gemach machten.
»Du wirst einmal ein guter Vater sein«, meinte die rothaarige Prinzessin, als sie allein waren. Rowan legte den kleinen Jungen ins Bett und zog ihm die Schuhe und das Mäntelchen aus. Jonah schlief tief und fest und bekam nichts mit.
»Ich glaube, das wird etwas ganz anderes sein. Allerdings habe ich den Umgang mit Babys durch Gena und Jonah natürlich gelernt.« Er zog dem kleinen Prinzen sein Nachthemd an, bettete ihn in seinen Kissen und deckte ihn zu. Mit einem Lächeln wandte er sich zu Ana um.
»Darf ich dich zu deinem Gemach geleiten, Cousine?«
Ana kicherte wie ein Backfisch. »Das gehört sich nicht. Ein Mann, der eine unverheiratete Frau zu ihrem Schlafgemach bringt.«
Rowan grinste. Ana war manchmal so albern, das machte es so wunderbar unkompliziert, mit ihr Zeit zu verbringen.
»Natürlich, ich könnte ja deine Unschuld rauben … Nein warte … das habe ich ja schon.« Er grinste zähneblitzend und die Prinzessin schlug ihm auf den Arm.
»Hör' auf, du Lustmolch. Lass uns lieber rausgehen, bevor Jonah wieder wach wird.«
»Ja, du hast Recht. Ich möchte nicht, dass er wieder weint. Es wird besser sein, wenn ich bereits auf dem Weg bin, bevor er morgen aufwacht. Und ich sollte ihm wohl etwas wirklich Tolles aus Trallien mitbringen.«
Ana nickte. Jonah würde vermutlich die ersten paar Tage sehr unglücklich sein. Aber sie würde sich schon zur Genüge mit ihm beschäftigen.
Gemeinsam verließen sie das Zimmer des kleinen Prinzen und Rowan brachte Ana zu ihrem Gemach. Verlegen blieben sie an der Tür stehen, als sie ankamen.
»Also … ich weiß, ich könnte jetzt fragen, ob du mit hinein kommst, denn es wäre ja nichts dabei. Ich rede mir gern ein, dass wir nach wie vor eine Verlobungsvereinbarung miteinander haben, aber …« Ana stotterte und Rowan nahm ihre Hand.
»Ich gehe in mein eigenes Gemach. Sieh das bitte nicht als Zurückweisung. Doch ich möchte nichts tun, was Folgen haben könnte.«
»Natürlich. Wenn du die mysteriöse Prinzessin finden und heiraten solltest, würde es nur zu Gerede führen, würde ich ein Kind von dir erwarten, ich verstehe das.«
Rowan strich seiner Cousine eine Strähne ihrer rostroten Haare aus dem Gesicht und lächelte. »Glaub' mir bitte, wenn Vater es nicht wünschen würde, würde ich nicht gehen. Ich gestehe, ich bin neugierig auf das Land und die Reise, aber mir liegt nichts daran, eine wildfremde Prinzessin mit heimzuführen.«
»Falls es sie gibt.«
»Ja, falls es sie gibt. Ich würde gern nur eine kleine Reise machen, ein fremdes Land sehen, zurückkehren und dann eine Hochzeit planen und über Kinder nachdenken. Aber Vater wünscht, dass ich gehe, also gehe ich. Ich kann mich nicht verweigern.«
Ana nickte. All das wusste sie. Das Schicksal eines Kronprinzen. Ihr eigener Bruder Leon hatte sich vor seiner Hochzeit mit ihrer Cousine Nala, König Mareks Nichte, in den Kopf gesetzt gehabt, eine Amüsierdame aus Navicula, Hammonias Handelszentrum an der Küste, zu heiraten. Ihr Vater, König Titus, hatte einen Tobsuchtsanfall darüber bekommen, dass sein Thronfolger nur über seine Leiche eine Hure heiraten würde, wenn er König werden wollte. Man hatte Leon den Kontakt zu dieser Frau verboten und nach Ablauf von eineinhalb Jahren war er über sie hinweg gewesen und hatte sich Hals über Kopf in Nala verliebt. Leon hatte sich gefügt, weil er König sein wollte eines Tages. Wie Rowan auch. Die Prinzessin seufzte.
»Sieh' nur zu, dass du heil zurückkommst. Für Jonah. Und für mich. In Ordnung?«
Rowan nickte und zog Ana in eine Umarmung. »Es wird sich schon alles fügen. Nun geh' ins Bett und schlaf' dich aus, Liebes.«
Die Prinzessin nickte und verschwand in ihrem Gemach, während Rowan auf dem Gang zurückblieb und seufzte.
In seinen eigenen Gemächern fand er das Päckchen mit dem feinen, annwynischen Stoff, von dem sein Vater gesprochen hatte. Er verstaute es sicher, ganz unten in seinem Reisesack, denn er konnte nicht riskieren, dass es gestohlen wurde oder verloren ging.
Er brauchte lange, um einzuschlafen und träumte merkwürdige Dinge, die keinen Sinn ergaben und ihn bereits vor Morgengrauen erwachen ließen, gerädert und völlig erschöpft.
So konnte die Reise ja heiter werden…