MARIE
Langsam öffne ich die Tür des Wagens, während mein Blick auf diesem Gebäude haftet, das aussieht, als wäre es aus einer anderen Zeit. Von der Witterung zu einem Horrorhaus verwandelt. Verschlafen höre ich eine Stimme am Rücksitz des Wagens.
„Mami. Sind wir endlich da?“
Ich will meine Angst vor ihr verbergen, aber dennoch kommen die Worte zu schwach über meine Lippen.
„Ich denke schon.“
Sofort mache ich mich daran, aus dem Wagen zu kommen und Alina vom Rücksitz zu schnappen die gerade gähnend ihren Mund weit aufreißt und von selbst aus dem Wagen springt. Der Boden knistert unter unseren Schuhen und ich warte darauf, dass Tobias uns den Weg zeigt. Wobei ich noch immer hoffe, dass wir nicht dieses Haus betreten müssen.
Meine Hoffnung stirbt in der Minute als wir die Holztreppe ansteuern und sie unter unseren Füßen einen keuchenden Laut von sich gibt. Fast so als würde sie jeden Moment aufgeben und einbrechen wollen. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich spüre, wie sich Alina fest an mein Bein klammert. Sie hat ebenfalls Angst. So wie ich. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage, ob ich Tobias vertrauen kann. Ob dies wirklich sicherer ist, als unser Zuhause?
Tobias hingegen scheint keine Angst zu haben und bewegt sich zielstrebig auf die große Tür zu, deren weißer Lack nur mehr an ein paar kleinen Flecken zu sehen ist. Doch anstatt die Tür zu öffnen wie es ein normaler Mensch tun würde, legt er seine Hand auf das alte Holz und gleich darauf traue ich meinen Augen nicht. Ein leuchtendes Symbol erscheint um seine Handfläche herum. Es leuchtet in einem bronzenen Ton und keine Sekunde darauf öffnet sich die Tür und das Zeichen verschwindet.
Zögernd folge ich Tobias und umfasse Alina’s Hand noch fester. Doch der Anblick, der sich mir jetzt bietet, ist noch absurder als dieses leuchtende Zeichen. Denn an einer Feuerstelle knistert das Holz und die Eichenbretter unter meinen Füßen knarzen ein wenig, doch ansonsten ist alles sauber und gemütlich eingerichtet. Ein großer Teppich liegt vor der Feuerstelle und ein gemütliches Sofa ist davor platziert. Der Raum ist groß und weitläufig und weitere Durchgänge und Türen führen von diesem Raum weg. Das Einzige, dass ich hier nicht finde, ist ein Zeichen von Elektrizität. Keine Lampen. Kein Fernseher. Kein Computer. Nichts was darauf hinweisen würde, dass es hier Strom gibt. Dann reißt mich eine warme weibliche Stimme aus meinen Gedanken und ohne zu zögern, ziehe ich Alina hinter mich, um sie im schlimmsten Fall beschützen zu können.
„Tobias. Was für eine Freude. Und du hast Gäste mitgebracht. Wie schön.“
Eine Frau, deren Alter ich so in etwas auf vierzig schätze, kommt mit offenen Armen auf uns zugelaufen. Ihre blonden schulterlangen Haare hüpfen bei jedem Schritt und die Schürze, die sie trägt, lässt vermuten, dass es hier auch eine Küche gibt. Außer sie hat vielleicht gerade jemanden zerstückelt? Sofort meldet sich meine vorsichtige Seite. Die in alles und jedem etwas Schlechtes zu finden versucht. Doch diese Gedanken werden schnell verdrängt, als sie Tobias in ihre Arme schließt und sich dann mit einem freundlichen Lächeln an mich wendet.
„Hallo ich bin Rema. Schön euch kennen zu lernen.“
Zuerst zögere ich, doch dann blicke ich in ihre wasserblauen Augen und kann nicht anders, als mein Misstrauen abzulegen. Sie hat etwas an sich, dass ich nicht erklären kann, dass aber dennoch ein Gefühl von Geborgenheit in mir auslöst. Als würde ich sie schon ewig kennen. Also lege ich meine Hand in ihre und werde plötzlich von ihren Armen gepackt und in eine Umarmung gezogen, die ich absolut nicht erwartet habe. Ich bekomme gerade noch ein leises „Hy, ich bin Marie“ über die Lippen, da sie mich mit ihren Armen so fest umschließt.
„Ach. Es ist so schön mal andere Gesichter zu sehen, als die von meinen Schützlingen. Aber ich möchte auch dieses hübsche Gesicht sehen, dass sich hier hinter Mami’s Beinen versteckt.“
Langsam lässt sie mich wieder los und ein leises Lachen stiehlt sich über ihre Lippen. Die wenigen Fältchen an ihren Augen lassen sie so liebevoll wirken, dass ich keine Sekunde länger an etwas Böses denken muss. Sie hockt sich neben mich und versucht um meine Beine herum zu blicken, damit sie Alina sehen kann. Ich lege meine Hand auf Alina’s weiche Haare und bei einem Blick in mein Gesicht, gebe ich ihr mit einem Nicken Bescheid, dass es okay ist. Dass, sie keine Angst haben muss. Zögernd stellt sie sich neben mich und hält Rema ihre Hand vor das Gesicht.
„Hallo, ich bin Alina.“
„Hallo kleine Dame und ich bin Rema.“
„Wieso hast du so einen komischen Namen?“
Ich will sie schon tadeln, doch Rema legt ihre Hand auf Alina’s Schulter und beginnt lächelnd zu erklären, was sich hinter ihrem Namen verbirgt. Wieso muss Alina auch immer so neugierig sein?
„Also mit richtigem Namen heiße ich Rehema. Ich weiß, der ist noch viel komischer als Rema. Aber der Name ist schon sehr, sehr alt und meine Mutter hat ihn mir gegeben. Also bin ich stolz darauf.“
„Ich finde in schön.“
Alina scheint sofort Vertrauen in Rema gefasst zu haben und legt ihre Hände in ihre, als Rema sie bittet ihr in der Küche zu helfen, da sie gerade Cookies backt. Also hat sie doch eine Küche und keinen Schlachtraum. Bei diesem Gedanken zögere ich einen langen Moment, bevor ich endgültig Alina’s Finger loslasse. Ich will ihnen folgen, doch Rema ruft noch etwas über ihre Schulter, bevor sie in einem der Durchgänge verschwinden.
„Tobias. Zeig Marie eines der Zimmer und dann verstaue den Wagen, damit keiner mitbekommt, dass du hier bist.“
Nicht einmal jetzt bringt er ein Wort über seine Lippen. Er ist die ganze Zeit still, als hätte er keine Stimme. Meine Wut ist ebenfalls noch nicht abgeflaut und so folge ich ihm, als er eine der Taschen vom Boden nimmt und sich zu einer der Türen bewegt, von denen so viele aus diesem Raum wegführen. Der Tür folgt ein breiter Gang, der weißen Wänden gesäumt wird, an denen Wiederrum mehrere Türen wegführen. Schön langsam kann ich mir nicht vorstellen, dass dies alles in dieses Gebäude passt, dass ich vorhin gesehen habe. Vor allem aber, da dieses Gebäude von außen nicht so gewirkt hat, als würde es bewohnbar sein. Nach ein paar Metern und mehr als vier Türen, halten wir vor einer mahagonifarbenen Tür, mit bronzenem Türgriff. Ich blicke auf Tobias breite Schultern die sich unter dem schwarzen Shirt deutlich abzeichnen und für einen Atemzug schwer heben und senken, bevor er den Griff nach unten bewegt und die Tür mit einem leisen Quietschen aufgleitet. Er tritt zur Seite und macht mir Platz. Für einen Augenblick starre ich in sein Gesicht. Versuche zu lesen, was er fühlt. Doch diese Zeiten sind Vergangenheit, denn sein Blick hat nur Kälte und Gleichgültigkeit für mich übrig. Als würde er ein ferngesteuerter Soldat sein, der seinen Krieg zu Ende führen will und alles was sich ihm in den Weg stellt, beiseite räumt.
Doch als ich den ersten Schritt in dieses Zimmer setze, dass nur sporadisch mit einem Doppelbett und einem Schreibtisch eingerichtet ist, folgt er mir. Ich spüre seinen Körper hinter meinen. Spüre, wie sich seine Wärme auf mich ausbreitet. Für einen Moment, einem winzige kleinen Moment, dem Bruchteil einer Sekunde, würde ich mir wünschen, dass er seine Arme um mich schließt und mich einfach nur festhält. Doch schnell verschwindet der Gedanke wieder. Besonders dann, als er die Tasche mit einem dumpfen Laut auf dem Boden fallen lässt. Dann durchdringt seine tiefe Stimme die Stille und ich wende mich ihm zu, um in seine Augen zu blicken.
„Solltest du etwas brauchen, rufe nach Rema. Sie ist immer hier und hört jedes Wort, dass in diesen Räumen gesprochen wird. Du findest ja alleine zurück zu Rema und Alina.“
Ich glaube etwas in seinen Augen zu erkennen, dass wie echtes Interesse wirkt, doch keine Sekunde später, kehrt die Kälte wieder in seine Augen zurück. Ein kleiner Hauch von Müdigkeit ist ebenfalls zu erkennen und wohl kein Wunder, bei den Stunden, die er durchgefahren ist und bei den Verletzungen, die er erlitten hat. Auch, wenn diese schon lange wieder verheilt sind.
Ohne ein weiteres Wort wendet er sich von mir ab. Er lässt mich alleine in diesem Zimmer zurück und einzig alleine seine Schritte hallen in meinem Kopf, als er sich weiter den Gang entlang bewegt und ich kurze Zeit darauf höre, wie sich eine Tür schließt und die Schritte versiegen. Die Stille die mich jetzt umhüllt, lässt mich zittern. Das erste Mal seit sieben Jahren habe ich ihn wieder gesehen und nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen hätte ich gedacht, dass dieser Tag so verlaufen wird.
Ich gönne mir ein paar Minuten, bevor ich mich auf den Weg mache, um nach Alina zu suchen. In dem Raum mit der Feuerstelle angekommen, lausche ich den Stimmen und folge dem Geruch von süßem Zimt. Mein Magen knurrt bei diesem Duft und erinnert mich daran, dass ich Tobias’s Essen verweigert habe und wirklich Hunger habe. Langsam bewege ich mich durch den Durchgang und erblicke eine lachende Alina, deren Nasenspitze voller Mehl ist. Sie hat eine Schürze umgebunden, die ihr viel zu groß und mehrmals zusammengeschlagen ist. Sie reicht ihr bis zu den Knöcheln und ist ebenfalls voller Mehl. Rema scheint ihr gerade etwas zu erklären, als sie mich erblickt und mich mit aufgeregter Stimme begrüßt.
„Mum, Rema’s Kekse sind sooo lecker.“
Nun kann auch ich ein Lächeln nicht mehr unterdrücken und bewege mich auf die Beiden zu. Rema lächelt, als sie mich ebenfalls erblickt und lotst mich an einem der Stühle, die an der riesigen Kücheninsel stehen. Ich lasse mich darauf nieder und sofort bekomme ich ein Teller mit Cookie’s vor meine Nase gestellt. Gefolgt von einem Glas Milch. Ich fühle mich schon fast so, als wäre ich zehn und bei meiner Mum.
„Tobias dieser Sturkopf hat dir sicher nichts zu essen besorgt. Hier.“
Sie deutet auf das Glas Milch und legt ihre Hand mütterlich auf meine Schulter. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich sie von irgendwo her kenne.
„Woher kennt ihr euch?“
Sie dreht sich um und hilft Alina weiter bei ihrem Kekse-Experiment.
„Ich bin seine Schutzbotin.“
Fast schon spucke ich den leckeren Cookie wieder auf den Teller, als sie diese Worte über ihre Lippen bringt. Was soll den bitte eine Schutzbotin sein?
Als hätte sie meine Gedanken gehört, antwortet sie mir.
„Ich bin dafür verantwortlich, dass meine Schützlinge sicher sind und bringe ihnen bei, wie sie ihre Kräfte einsetzen können. Ich bin so eine Art Wegbegleiter, wenn du es so nennen willst.“
„Und wie ist Tobias zu dir gekommen?“
„Nicht er ist zu mir gekommen. Ich habe ihn zu mir gelotst. Er war verloren, nachdem sie ihn benutzt haben. Ich habe ihm sozusagen den richtigen Weg gezeigt. Ob er ihn gehen wird, kann ich nicht kontrollieren.“
Die Worte bleiben vorerst in meinem Hals stecken, doch nach einigen Sekunden, in denen ich ihre Worte verdaut habe, kann ich meine Neugier nicht mehr unter Kontrolle halten.
„Wer hat ihn benutzt?“
Nun dreht sie sich wieder zu mir und mustert mich mit einem mitfühlenden Blick, bevor sie mit gedämpfter Stimme weiterspricht.
„Ich möchte dir wirklich gerne mehr erzählen, aber ich denke, dass Tobias das nicht möchte. Wenn es dir jemand erzählt, dann sollte es Tobias selbst sein. Ich habe kein recht dazu. Ich habe ohnehin schon zu viel erzählt.“
Ich schlucke den letzten Bissen meines Cookie’s hinunter und ohne es zu wollen legt sich Enttäuschung auf meine Züge.
„Ich denke, dann werde ich es niemals erfahren. Er hasst mich, so wie ich ihn hasse.“
Die letzten Worte habe ich so leise gesprochen, dass ich vorerst nicht sicher bin, ob Rema es gehört hat. Doch einer ihrer Mundwinkel wandert nach oben und mit sanfter, leiser Stimme flüstert sie nur „Ich denke, es ist nicht der Hass, der euch verbindet“. Dann dreht sie sich um und blickt auf Alina, die ihren Riesencookie am Blech verteilt hat. Ja, Hass verbindet uns nicht. Es ist dieser kleine Leuchtstern, der meinem Leben einen Sinn gegeben hat. Doch wieso weiß sie es?
Und wieder. Als hätte sie erneut meine Gedanken gelesen, antwortet sie auf diese Frage, die ich nicht wirklich gestellt habe.
„Es sind die Augen. Sie würden jedem verraten, dass sie die Energie ihres Vaters hat.“
Zuerst will ich zustimmend nicken. Doch dann gehe ich die Worte nochmals in meinem Kopf durch und ein entsetztes „Was“ kommt über meine Lippen.
„Sie ist das einzige Kind von Tobias. Sie hat übermenschliche Kräfte. So wie er. Ist dir das noch nie in den Sinn gekommen?“
Jetzt spüre ich einen tadelnden Blick von ihr und die Gedanken in meinem Kopf laufen Amok. Wie konnte ich nur so naiv sein? Wie konnte ich denken, dass sie nichts von ihrem Vater hat, außer diese grünen Augen mit den grauen Sprenkeln darin. Meine Miene verfinstert sich. Ich bekomme kaum noch Luft. Ich kann Alina nicht auch noch an diese Welt verlieren. Ich kann nicht einfach mein Ein und Alles an diese Welt verlieren. Sie kann keine Kräfte haben. Sie darf einfach nicht.
„Sie ist etwas Besonderes. Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber du musst sie dabei unterstützen. Es wird einfacher, wenn sie früh genug lernt, ihre Kräfte kontrollieren zu können und sie weiß, für welche Seite sie sich entscheiden muss.“
„Ich kann...also das geht nicht. Sie hat keine...Kräfte. Sie kann einfach nicht. Ich habe schon einmal einen Menschen an diese Kräfte verloren.“
„Ich weiß, aber sie ist stark und sie wird schnell lernen und wenn Tobias es schafft, dass Gleichgewicht wieder herzustellen, dann wird sie ein normales Leben führen können.“
Wir beide blicken nun zu Alina, die von all dem nichts mitbekommt und in ihrer eigenen Welt ist. Wie kann so ein liebevoller, unschuldiger Mensch, solche Kräfte in sich tragen. Wieso Alina?