Mit panischen Blick sah das Mädchen an die Wand und zuckte bei jedem Male, wenn die Schwester ihre Hand vorsichtig auf den Kopf des Mädchens legte und diesen entlang strich, heftig zusammen. Lucy wusste, dass es nur ein Traum gewesen war, dass ihr Kopf ihr die schrecklichsten Situationen nur vorgaukelte, doch es hatte sich dennoch so echt angefühlt. So schrecklich echt. Tief atmete das Mädchen durch und setzte sich dann wieder gerade hin, stieß behutsam die Hände der Schwester zurück und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Entschuldigung...“, murmelte sie und sah auf die zurück geschlagene Decke.
„Alles gut, Kleines. Das passiert manchmal, dass man einen Albtraum hat, meine ich.“, meinte die etwas pummelige Schwester mit den roten, zu zwei geflochtenen Zöpfen gebundenen Haaren lächelnd und stand dann langsam wieder auf. „Versuch zu schlafen.“, meinte sie dann, drehte sich um, und ließ das immer noch etwas zitternde Mädchen wieder allein.
Lucy sah ihr nach und murmelte noch leise vor sich hin, wie solle sie es schaffen, nach so einem Traum wieder einschlafen zu können? Langsam schüttelte sie den Kopf und legte sich langsam wieder hin, um es zu versuchen. Erstaunlicherweise schlief sie ziemlich schnell wieder ein, und die Nacht verlief ohne weitere Albträume.
Geweckt in aller Frühe quälte sich das Mädchen aus dem Bett und sah verschlafen zu dem munteren Pfleger, der sie weckte. „Aufgewacht, die Sonne lacht!“, wiederholte er grinsend und verließ dann ihr Zimmer. Lucy ging zum Kleiderschrank, wechselte ihre Schlafsachen gegen schwarze Leggings und einen oversized Hoodie mit „Normal people scare me“ Aufdruck, schlüpfte in ihre Hausschuhe und folge dem Pfleger hastig in die Küche.Dort setzte sie sich auf ihren Platz und wartete auf die fehlenden Personen.
Nach dem Frühstück wurde Lucy von dem bärtigen, hochgewachsenen Pfleger beiseite genommen, er erklärte ihr, dass zur Mittagsruhe eine Zimmergenossin für sie käme. Verwundert sah Lucy ihn an, sie hätte mit etwas Zeit allein gerechnet, damit, dass sie zumindest etwas Zeit hätte, sich einzugewöhnen, aber nicht damit, dass sie bereits am zweiten Tag nicht mehr allein in ihrem Zimmer sein würde. Wie würde die neue sein? Wie alt wäre sie wohl? Würden sie überhaupt miteinander auskommen, ohne sich zu streiten? Müsste sie jetzt auf ihre Klingen verzichten, damit sie nicht verpetzt werden könnte? Dem Pfleger brachte sie ein leichtes Lächeln entgegen, dann lief sie schnellen Schrittes in ihr Zimmer. Angst baute sich wieder in ihr auf, zahllose Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und sie bemerkte den Druckaufbau auf ihrer Seele. Sie konnte sich nicht beherrschen. Sie hatte den unstillbaren Drang sich selbst zu verletzen, ihr Monster zu vernichten, bevor es wieder auftauchen konnte. Sie versuchte dem Drang zu trotzen, ging einen Schritt auf ihren Kleiderschrank zu, kramte nach ihren Klingen, die in einem kleinen Plastik Gehäuse verpackt waren, hielt sie in der Hand. Sie versuchte sich gedanklich klar zu machen, dass es ihr nichts bringen würde, sie sich damit nur eine Strafe einhandeln würde und länger hier bleiben müsste. Doch ihr Verlangen nach dem Blut war derselbe wie der Durst eines Vampirs, sie brauchte es, sonst würde sie durchdrehen.
Langsam ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Atmete tief durch, spürte beim ausatmen wie der Druck von ihr viel, als würde dieser beim ausatmen aus ihrem Körper verschwinden. Sie sah auf ihre herunter gezogene Hose, auf ihre blanken, dürren Beine, die nun von roten Flüssen übersät waren. Und sie hasste sich dafür, doch liebte dieses Gefühl, es endlich los zu sein. Ihr fiel ein Gedicht ein, dass sie vor kurzem entdeckt hatte, dass ihre Zustände immer perfekt beschrieb. Von wem war es gleich? Norbert van Tiggelen? Leise sprach sie es vor sich hin, wusste nicht wieso, dachte sich aber, dass sie es nun brauchte, verstanden zu werden.
„Sinnesbilder kollabieren,
Seelendruck kriegt Übermacht.
Wieder führst du mit dem Geiste,
eine ganz gemeine Schlacht.
Möchtest gern zum Himmel schreien,
doch ein Zweifel, der dich quält:
Dass man dich dann ganz abwertet, und dich noch für blöde hält.
Kalter Schnitt, die Wunde blutet,
es tut weh, doch du entspannst.
Druck der Seele schwindet deutlich und du wieder atmen kannst.
Schmerzen geben dir das Zeichen,
dass du lebst, doch dir wird bang.
Wird dein Herz für immer leiden
unter diesem bösen Zwang?“
Sie atmete noch einmal zittrig durch und nahm sich dann die Taschentuchpackung, die unter ihrem Kissen lag, um das Blut zumindest daran zu hindern, sich auf dem weißen Laken auszubreiten. Sie wollte sich nicht ausdenken, was passiert, wenn jemand das sähe. Schnell tupfte sie das Blut weg und lächelte zufrieden, während sie ihre Oberschenkel verband. Das alles wäre vorbei wenn sie eine Zimmergenossin bekäme... Sie war doch selbst noch neu, was wäre, wenn die neue Lügen über sie verbreiten würde und die anderen würden es glauben? Nein, sie wollte keine Zimmergenossin, die ihr den so schon unangenehmen Aufenthalt noch mehr vermieste.
Bis zum Mittagessen verblieb sie in ihrem Zimmer, kam jeglichen Bitten der Schwestern und Pfleger nicht nach und missachtete ihre neu gewonnenen Freunde. Sie hatte gerade andere Dinge im Kopf, sodass sie nicht bemerkte, dass sie sich beim Versuch sich nicht ausgrenzen zu lassen selbst ausgrenzte. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre negativen Gefühle übermannten, jedoch war es das erste mal, dass sie an ihrer trüben Situation etwas hätte ändern können. Doch sie merkte es nicht.
Nachdem sie ihr Mittagessen kaum angerührt hatte ging sie zusammen mit den anderen Patienten in ihr Zimmer, wo sie sich aufs Bett warf und die Tür beobachtete. Vielleicht war es ja doch gar nicht so schlimm wie sie dachte, sicherlich steigerte sie sich da nur zu sehr rein. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie setzte sich auf, nahm ihren Block weißer Blätter und einen Bleistift und zeichnete die verschiedensten Personen, allesamt weiblich, denn sie versuchte sich ihre neue Zimmergenossin vorzustellen. Einige waren pummelig, einige magersüchtig, es gab hochgewachsene, kleinwüchsige, Kleinkinder, fast erwachsene Frauen und Mädchen in ihrem Alter. Nach einer Weile legte sie den Block weg und sah einfach aus dem gegenüber liegenden Fenster. Sie beschloss, sich keine Sorgen mehr darüber zu machen, bis sie dieses neue Mädchen kannte, denn sie wollte ohne irgendwelche Vorurteile eine neue Freundschaft beginnen.
Als es klopfte richtete sie ihren Blick auf die Tür, setzte ein lächelndes Gesicht auf und wartete gespannt auf das neue Mädchen. Als die Tür sich allerdings öffnete, wurde aus diesem erwartungsvollen Lächeln ein erschrockenes. Denn in der Tür stand ein Mädchen, dass ihr nur allzu gut vertraut war. Es war Stella.