»Guten Morgen, Benny. Du siehst schlecht aus.« Mein Vater saß am Küchentisch und nippte an einer Kaffeetasse, als ich aus dem Zimmer kam.
Wir hatten ausgemacht, zeitig zum Flughafen zu fahren, um nicht zu riskieren, Tiger zu verpassen.
»Ich hatte eine beschissene Nacht«, murrte ich nur und steckte meinen Kopf in den Kühlschrank. Hunger hatte ich keinen, es war mehr eine Gewohnheit. Mit einem Babybell-Käse setzte ich mich zu meinem Vater und wir schwiegen eine Weile. Er las in der Zeitung und ich starrte Löcher in die Luft.
Mein Magen tat weh. Ich fürchtete, auf dem Flughafen einen Anfall zu bekommen, da der Gedanke, Tiger so schnell nicht wiederzusehen, unerträglich war. Seine Fotos, die wir an unserem letzten Tag gemacht hatten, waren süß, aber sie konnten ihm niemals gerecht werden. Erinnerungen konnten es nicht.
»Willst du dann los? Es ist gleich halb 9.«
Ich nickte und gemeinsam hüllten wir, mein Vater und ich, uns in unsere dicken Sachen. Es hatte über Nacht wieder etwas geschneit, obwohl es schon fast März war. Und es war noch immer jämmerlich kalt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass schon in 4 Wochen Ostern war. Jack Frost leistete in diesem Jahr ganze Arbeit.
»Gut, dass wir etwas zeitiger gefahren sind.« Mein Vater blickte konzentriert auf die Straße, die glitzerte und ich starrte auf meine Hände. Mein Herz tat weh und schlug fest gegen meine Rippen. Ich wollte nicht fahren.
Ich bereute die Entscheidung, doch zum Flughafen zu fahren und ein Teil von mir wollte meinen Vater bitten, umzukehren. Doch der andere, der vernünftigere Teil sagte mir, dass ich Tiger nur noch jetzt ein letztes Mal sehen konnte. Dass es meine letzte Chance war. Die mir in diesem Moment vielleicht weh tat, aber die ich bereuen würde, verstrichen lassen zu haben, wenn ich jetzt umkehren würde.
»Du siehst aus, als würdest du einen Kampf austragen. Ist alles in Ordnung, Benny? Willst du das wirklich?« Mein Vater war aufmerksamer als ich dachte. Ich versuchte zu lächeln und nickte entschlossen.
»Ja. Ich muss das tun oder ich werde es bereuen.«
Schweigend fuhren wir auf dem Flughafengelände ein und suchten einen Parkplatz nicht zu weit vom Terminal entfernt. Wie mit Scheuklappen lief ich über den Platz und in das Gebäude hinein. Ich nahm die anderen Menschen kaum wahr, kaum, was um mich geschah. Ich fühlte mich nicht wohl, sah alles wie durch einen Tunnelblick und bekam Kopfschmerzen.
»Von welchem Gate fliegt er?«, hörte ich die Stimme meines Vaters wie durch einen Watteschleier und er musste mich an der Schulter berühren, bevor ich es überhaupt bemerkte.
»Was?... Äh... Gate 3.« Recht viel mehr hatte der kleine Flughafen auch nicht. Mein Vater zog mich mit sich, damit ich in den Menschen nicht verloren ging. Ich selbst war kaum noch in der Lage, die Schilder um mich zu lesen. Mir war speiübel und ich hätte mich am liebsten mitten auf dem Boden hingelegt, zusammengekauert und die Augen zugemacht.
Was hatte ich mir gedacht, hier herzukommen? Ich hatte gewusst, dass ich so reagieren würde. Ich stand nervlich kurz vor einem Zusammenbruch.
»Ah, schau Benny. Da ist er doch, oder? Hallo, Tiger!«, rief mein Vater der kleinen Gruppe zu, die am Gate auf den Check-In warteten.
Und tatsächlich war es Tiger, der sich umdrehte und uns ein strahlendes Lächeln rüberschickte. Er machte sich mit wenigen Worten von seinen Gasteltern los und kam eilig auf uns zu. Mein Vater ging einen Schritt zur Seite, als Tiger mich mit den Armen umfing und einmal herumwirbelte.
»Oh Bunny, I hoped so much to see you once more. Danke, dass du gekommen bist.«
Ich klammerte mich an ihm fest und presste meine Wange an seine Jacke.
Der Gong der Flughafenuhr verkündete uns, dass es halb 10 war. Der Check-In für Gate 3 würde nun beginnen, was bedeutete, dass der Flug wohl planmäßig um 11 starten konnte. Tiger und mir blieben eineinhalb Stunden Gnadenfrist, bis man uns trennte. Mein Vater war so aufmerksam, uns allein zu lassen und gesellte sich stattdessen zu Tigers Gasteltern, um einen Kaffee trinken zu gehen. Tiger musste den üblichen Check-In-Kram abarbeiten und hatte dann Freizeit, bis der Flug aufgerufen wurde. Ich stand die ganze Zeit neben ihm, immer das Bedürfnis verspürend, ihn zu berühren.
»I wish we had more time to go somewhere. I want to be alone with you. To love you one last time...« Tiger und ich saßen auf den abartig unbequemen Drahtgeflechtstühlen, die Flughäfen so unerträglich machten. Ich nickte. Auch ich wäre gern ein letztes Mal mit ihm allein gewesen. Doch eine schnelle Nummer auf einer Flughafentoilette erschien mir irgendwie unangebracht. Der Gedanke entfachte in mir das Gefühl, dass das, was wir hatten, unanständig war. Ich wollte es nicht mit einer unromantischen Aktion, einem Quickie im Stehen oder so, kaputtmachen.
»Lass uns einfach hier sitzen, ok? Es reicht, wenn du da bist«, murmelte ich und er schob seine Hand in meine.
»Ich dachte, du wolltest nicht herkommen?«
Ich nickte stumm. Ich hatte ihm gesagt, ich würde nicht kommen. Einmal Abschied nehmen reichte.
»Ja. Aber... ich konnte nicht... Konnte dich nicht einfach gehen lassen.« Ich hörte selbst, wie verstopft meine Nase schon wieder war und wischte mit dem Ärmel darüber. Ich wollte jetzt nicht heulen. Nicht die letzten Minuten kaputtmachen, die wir hatten.
»I wish I could put you in my suitcase and take you with me.«
»Ich auch.«
»But see... it’s Easter soon and there will be holidays. I come and visit you... or you come to London? Oh that would be great. I’m sure my Dad will like you.«
Ich lächelte leicht und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
Bis Ostern waren es noch über 3 Wochen hin, fast 4 und wer wusste schon, ob ich nach London würde fliegen dürfen. Meine Eltern bekamen ja schon Zustände, wenn es mal eine Busreise in den Schwarzwald war.
»You’ll see, time will pass faster than you think.«, murmelte er.
Ich hatte bei Tiger immer das Gefühl, dass er versuchte, mir Mut zu machen, aber sich nie anmerken ließ, wie es ihm damit ging. Er versicherte mir, dass die Zeit schnell vergehen würde, dass ich nicht traurig sein sollte, aber er sagte selten etwas über sich.
»Will you miss me?«, fragte ich deswegen. Ich wollte einmal noch hören, dass auch er leiden würde. Vielleicht war er nicht so eine Memme wie ich, doch so ganz ohne konnte er doch auch nicht sein.
Er schwieg einen Moment, bevor er mir sein Gesicht zuwandte. Mit einem Lächeln nickte er.
»Of course I will. More than anything. I mean... I said I would put you in my suitcase, because I wanna take you with me. The next weeks will be torture, I swear. I said that I love you and I meant it. You don’t believe me, it seems.« Sein Blick wurde skeptisch, fast besorgt.
Aber was dachte er denn auch? Er war der Erste, bei dem ich je das Gefühl hatte, ohne ihn nicht sein zu können. Ich war das erste Mal verliebt und damit so hemmungslos überfordert. Ich konnte kaum glauben, dass dieser tolle Mensch ausgerechnet mich lieben sollte. War es da nicht verständlich, dass ich unsicher war? Ich seufzte.
»I can hardly believe it, yes.«
E küsste mich.
»Ist aber wahr.« Ohne uns um die Menschen drumherum zu scheren, küssten wir uns. Ich wollte nicht, dass es aufhört, doch das unablässige Ticken der dämlichen Flughafenuhr und die dauernden Durchsagen, welche Flüge zum Boarding bereit wären, machten mir bewusst, dass unsere Zeit ablief.
»Hey, ihr zwei. Lasst uns mal schon zum Gate gehen, es ist gleich soweit. Das Boarding fängt an.«
Tigers Gasteltern tauchten vor uns auf und unterbrachen unsere Schmuserei. Tiger stand auf und zog mich an der Hand hinterher. Mit jedem Schritt wurde mir klarer, dass er jeden Augenblick hinter der Sicherheitsschleuse verschwinden würde, durch das Gate ins Flugzeug und dann wäre er weg. Einfach weg.
Der Flug 3764 mit Ziel London ist bereit zum Boarden., tönte die monotone Ansage durch das Terminal und ich krallte meine Finger in Tigers Hand.
»Ow, Bunny, it hurts«, kicherte er und zog mich an sich. Die Schlange an der Sicherheitskontrolle und dem Band zur Gepäckdurchleuchtung war lang, aber nicht so lang, dass es ewig gedauert hätte. Tiger schloss seine Arme um mich und ließ seine Gastmutter sich um sein Handgepäck kümmern.
Die Erwachsenen ließen uns die letzten Minuten in Ruhe und es fiel mir schwer, hinter der Absperrung zu warten, als Tiger durch die Schleuse musste.
»Tja... dann ist es jetzt wohl so weit. Goodbye Germany«, brachte er mit Bedauern in der Stimme heraus, als wir alle einander gegenüberstanden. Tiger verabschiedete sich mit einer Umarmung und Dankesworten von seinen Gasteltern und seine Gastmutter hatte tatsächlich ein paar Tränchen in den Augen. Sein Gastvater klopfte ihm nach der Umarmung kräftig auf die Schultern und sah auch irgendwie unglücklich aus. Nachdem Tiger sich mit einem Händedruck von meinem Vater verabschiedet hatte, hatte ich einen Kloß im Hals, zu groß, um ihn runterzuschlucken. Ich wollte es, doch es gelang nicht und so bekam ich kein Wort heraus. Stattdessen begannen meine Augen zu tränen und machten mich blind. Tiger zog mich wieder an sich und presste seine Nase in mein Haar.
»My dear... I already miss you.«
»Ich dich auch...« Tränen kullerten mir über das Gesicht und mein Hals tat weh, so sehr war mein Körper angespannt vor Trauer.
»I’ll call you when I’m in London, ok? I promise!«
Ich nickte nur und wischte mir über das Gesicht. Ich war peinlich berührt, dass ich hier vor allen Menschen so am Heulen war. Trotzdem konnte ich dem Druck in meinem Hals nicht standhalten und die Tränen kamen weiter.
»I... I’m sorry for crying like a baby...«, stammelte ich. Meine Wangen mussten glühen wie eine Verkehrsampel, denn ich kannte mich so selbst nicht. Tiger hatte irgendetwas in mir aufgebrochen, was vorher nicht da war.
»Mir gefällt es.« Wieder küsste er mich und mein Herz sank, als die Durchsage zum letzten Aufruf von Tigers Flug kam. Er musste gehen, sonst würde sein Gepäck ohne ihn fliegen. Ich wusste das, doch meine Finger von seinen zu lösen, war schrecklich schwer.
»I promise. The second I put my feet on the ground in London I’ll call you.« Wieder ein Kuss.
»I love you, ok?« Noch ein Kuss.
»I gotta go. I’ll miss you, my Bunny.« Mit diesen Worten lösten sich unsere Finger, Tiger nahm seinen Rucksack vom Boden, winkte allen noch mal und folgte einigen der letzten Passagiere durch das Gate ins Flugzeug.
Ich lehnte meine kalten Finger an die ebenso kalten Scheiben des Terminalfensters und sah schweren Herzens dabei zu, wie das Flugzeug den Menschen, den ich liebte, von mir forttrug.