Lucien war einfach weggelaufen. Hatte kehrt gemacht und war gerannt, obwohl er nicht wusste, wohin.
Dieser elende Penner. Warum regte ihn Mathieu so verdammt auf? Fluchend kam Lucien am Ufer eines kleinen Sees zum Stehen und trat gegen einen Stein, der mit einem Plumpsen ins Wasser fiel.
Er verfluchte den Tumor in seinem Kopf, der es ihm nicht möglich machte, den blonden Klugscheißer mal richtig zu verprügeln. Stattdessen hatte er das getan, was er getan hatte und er wusste nicht einmal, warum!
Noch immer angespannt und wütend auf sich selbst, ergriff der Rothaarige ein paar Steine und warf diese so hart und weit er konnte in den See. Jeden einzelnen begleitete ein mit Zorn ausgestoßenes, beinahe gespucktes Wort: »Ich! Bin! Nicht! Schwul!«
Schließlich warf er den Rest, den er in der Hand hatte, hinterher, verlor fast das Gleichgewicht und tappte mit der Spitze seiner Schuhe ins Wasser. Lucien stieß einen Schrei aus und ließ es spritzen, als er danach trat.
Jeder, der ihn beobachten konnte, musste denken, er hätte den Verstand verloren, doch das war dem Jungen scheißegal.
Er ließ sich in die Knie sinken und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Warum musste all dieser Mist ihm passieren? Warum war er todkrank? Warum wurde jetzt, wo seine Tage gezählt waren, alles so verwirrend? Und warum ausgerechnet Mathieu?
Eigentlich war es ihm ganz egal, ob er auf Jungen oder Mädchen stand, das machte für Lucien alles keinen Unterschied. Das eine war nur ein bisschen komplizierter als das andere. Aber was zog ihn ausgerechnet zu diesem spießigen Penner, der ihn mit seiner Oberlehrer-Art mit Leichtigkeit auf die Palme bringen konnte? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz des Universums sein, um ihm zu guter Letzt noch etwas mitzugeben, als wäre das Karma nicht ohnehin schon total gegen ihn, weil es ihm das beschissene Glioblastom angehängt hatte. Hatte er in seinem früheren Leben jemandem so ans Bein gepinkelt, um das zu verdienen?
Stumm und mit leerem Kopf beobachtete er die feinen, vom Wind verursachten Wellen auf dem kleinen See. Es beruhigte ihn, das leise Plätschern des Wassers am Ufer zu hören.
Unwillig wandte er das Gesicht herum, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er erkannte Philippe, der ein paar Meter von ihm entfernt stand und winkte.
»Hey, das Frühstück ist fertig«, rief er und Lucien erhob sich widerwillig. Er hatte keine Lust, ins Lager zu gehen und Grantaine zu sehen. Er gestand es sich nicht gern ein, aber er bereute die Worte, die er zu ihm gesagt hatte. Natürlich hasste er Mathieu nicht. Er hasste eher sich selbst dafür, dass er sich zu dieser Tat hatte hinreißen lassen. Überhaupt, dass er so wütend gewesen war und es alles an ihm ausgelassen hatte.
Denn Mathieu hatte ihm nichts getan. Er war neugierig gewesen und hatte ihm eine Frage gestellt. Mehr doch eigentlich nicht. Es war nicht seine Schuld, dass Lucien sich ihm nicht anvertrauen wollte.
Missmutig und mit den Händen tief in den Taschen trabte der Jugendliche zum Platz zurück, an dem die meisten seiner Mitschüler ausgelassen über Toast und Brötchen saßen. Irgendjemand hatte all das Zeug in zwei großen Körben aus dem Speisesaal hergebracht.
Lucien vermied es, nach Mathieu zu suchen, doch er war neben Celeste der Einzige, dessen Haare so aus der Masse heraus leuchteten. Brummend setzte sich der Rothaarige an das Ende einer Bank und griff sich ein Brötchen.
»Na, gab es Ärger im Paradies?«, kicherte Valerie, die neugierige Möchtegern-Reporterin, die Lucien gegenüber saß und zuvor Zeuge des Krachs zwischen den Jungen geworden war. »Ihr beide rennt herum wie waidwund geschossene Rehböcke.«
»Hast du nichts Besseres zu tun als mir auf die Nerven zu gehen?«, fauchte Lucien und höhlte die kleine Teigware mit den Fingern aus.
»Ohooo ... Ihr benehmt euch wie ein Liebespaar. Gibt es da etwas, das wir wissen sollten?«
»Ich sag’s dir, sobald dich mein Leben was angeht, okay? Bis dahin, lass’ mich in Ruhe.«
Der finstere Blick, den Lucien auf Valerie abschoss, genügte für’s Erste, um das Mädchen verstummen zu lassen.
Die musste doch spinnen. Als ob er ihr irgendetwas erzählen würde, damit das dann in der blöden Schülerzeitung breit getreten wurde. Die dachten auch, so etwas wie Privatsphäre galt nicht in der Schule.
Geschickt verstrich Lucien etwas Marmelade auf den Innenseiten seines ausgehöhlten Brötchens und ließ es sich schmecken. Alle kauten mit vollen Mündern und schnatterten munter durcheinander. Von den Strapazen des vorigen Tages und der langen Fahrt war nichts mehr zu spüren.
»Gut, wenn ihr alle so weit seid, schmiert euch noch ein Brot für unterwegs und besorgt euch Wasser. In einer halben Stunde starten wir die Wanderung rund um das Camp. Es geht durch den Wald und wird hügelig, also zieht eure festen Schuhe an. Wer in Turnschuhen geht und auf der Hälfte der Strecke Blasen bekommt, hat Pech gehabt.« Monsieur Dufayel, heute wieder mit seinem gewohnten Basecap, stand wie ein Drillsergeant vor ihnen und hatte seine Trainingskluft gegen robustere Sachen getauscht.
Lucien kehrte mit zwei Brötchen und einer Flasche Wasser zum Zelt zurück und kramte darin gerade seinen Rucksack leer, um das Essen einzupacken, als Mathieu hineinkam und den Rothaarigen keines Blickes würdigte. Wortlos kippte er seine kleine Tasche einfach aus.
Es hatte schon immer mal Phasen gegeben, in denen sie nicht miteinander gesprochen hatten, doch noch nie war es Lucien so unangenehm vorgekommen wie in dieser Sekunde. Sonst war der Auslöser für das Schweigen auch nie etwas Persönliches zwischen ihnen gewesen, etwas so Intimes.
»Äh, Mathieu?«
»Spar’s dir.« Ohne einen Blick verließ der Blonde das Zelt wieder und Lucien war sich sicher, wenn er gekonnt hätte, hätte er mit der Tür geknallt.
Der Rothaarige seufzte. Das war es also? Man wollte sich entschuldigen und bekam nicht einmal die Chance dazu? Er spürte, wie sein Stolz wieder die Oberhand gewann.
Sollte Mathieu doch weiter die Diva spielen. Er, Lucien, brauchte diesen langweiligen Spießer nicht. Er hatte nur seinen guten Willen beweisen wollen, weil ihm seine Worte leid taten. Dass er ihn geküsst hatte, bedeutete gar nichts. Mathieu bedeutete ihm gar nichts!
Wieder wütend stopfte er die Tüte mit dem Essen und die Flasche in den Rucksack und schnürte seine Wanderschuhe ordentlich zu. Er zog sich eine dunkelblaue Baseballkappe auf, für den Fall, dass es wieder regnete, und verließ das Zelt, dessen Reißverschluss er hinter sich zu zog.
Mathieu stand mit ausdruckslosem Gesicht neben dem Lehrer. Lucien kräuselte die Lippen. Teacher’s Pet, heute und für immer. Was kümmerte es ihn, was Mathieu dachte. Sollte er doch weiter denken, dass das, was Lucien gesagt hatte, ernst gemeint war. Wenn er ihm noch nicht einmal die Gelegenheit geben wollte, die Worte zurückzunehmen, dann war das seine Sache und nicht Luciens.
»Okay, Leute. Wir bleiben in der Gruppe. Ihr könnt euch auf der Tour gern ein bisschen umsehen und herumstrolchen, aber alle bleiben in Sichtweite. Ich möchte nicht, dass uns heute Abend, wenn wir wieder hier sind, einige von euch fehlen!«
Die beiden Lehrer gingen voran und der Tross von Schülern folgte ihnen, Mathieu vorneweg an der Seite von Monsieur Dufayel, Lucien als einer der letzten. Er hatte keine Lust auf die Gesellschaft der anderen, wollte seine Ruhe haben, rauchen und nachdenken.
In solchen Momenten brauchte er den Zuspruch und den gnadenlos ehrlichen Arschtritt von Etienne. Der würde ihm sagen, dass er Mathieu zwingen müsste, ihm zuzuhören. Den Stolz hinunterschlucken, hingehen und ihn dazu bringen, dass er sich anhörte, was Lucien zu sagen hatte. So schwer es dem Rothaarigen bei seinem gigantischen Ego auch fallen mochte.
»Du hast keine Zeit mehr, Dinge ungeklärt stehen zu lassen und zu hoffen, dass sie sich von allein regeln oder in Vergessenheit geraten, wenn man nur lange genug wartet.« - So etwas würde Etienne sagen. Und Lucien wusste das alles. Nur würde er von sich aus niemals so handeln.
Sein Stolz war größer als seine Vernunft.
Im Moment kümmerte es ihn null, was der Schulsprecher dachte. Hatten die Worte ihn verletzt? Und wenn schon. War er verwirrt wegen des Kusses? Warum sollte es ihm anders gehen als Lucien? Wenn Mathieu sich stur stellen wollte, konnte der Rothaarige das auch und er war deutlich ausdauernder darin.
Der Tross von Schülern schlängelte sich auf einem schmalen Wanderweg über bewaldete Hügel und schattige Täler. Die Sonne war gegen Mittag heraus gekommen und erleuchtete den Wald so, dass alles grün wirkte. Doch man konnte sehen, dass dazwischen mehr und mehr Gold verstreut war und der Herbst bereits dabei war, einzuziehen. Erstes abgestorbenes Laub raschelte auf dem Weg, doch die Jugendlichen hatten fast alle ihre Jacken ausgezogen.
Lucien, der als einer der Letzten ging, war allein. Zu ihm hatte sich niemand gesellt, um während des Laufens ein bisschen zu quatschen. Aber das war ihm recht. Außer Etienne, dessen guten Rat er gerade gebrauchen könnte, wollte er mit niemandem reden.
Celeste, die sich ihm hatte anschließen wollen, hatte er mit seiner miesen Laune schnell vergrault. Ein nervtötendes Weib, das davon quatschte, wie toll sie ihn fand und wie gut sie zusammenpassen würden, konnte er wirklich nicht ertragen gerade. Als würde er ihr fester Freund sein wollen und seine letzten Monate auf dieser Erde damit verschwenden. Da würde er eher noch als Jungfrau sterben.
Sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn wischend, hockte er sich einen Moment auf einen Baumstamm und streckte die Beine aus. Sie wanderten seit Stunden, so fühlte es sich an. Wie groß konnte dieses Camp sein, dass es so lange dauerte, es zu umrunden? Sie hatten bereits Nachmittag und waren noch vor Zehn aufgebrochen. Nach einem Schluck aus der Flasche marschierte er weiter, um den Anschluss nicht zu verlieren. Er konnte zwar hören, dass noch einige Leute hinter ihm auf dem Weg waren, aber als Allerletzter gehen wollte er auch nicht.
Ohne groß auf den Weg zu achten, betrachtete er die sich verfärbenden Bäume. Das war schön und gefiel ihm. In Biarritz sah man das weniger. Es gab zwar Parkanlagen, aber keine Wälder.
Lucien presste die Lippen zusammen, als er Mathieu auf einer Bank sitzen sah, die man auf den Wanderweg gestellt hatte. Er nuckelte an einer Flasche und sein Gesicht war gerötet, als hätte er einen Sonnenbrand bekommen.
Der Rothaarige wollte eigentlich erst ungerührt weitergehen und den Blonden einfach sitzen lassen, doch nach ein paar Schritten stoppte er, kehrte zu der Sitzgelegenheit zurück und nahm Platz.
Mathieu schenkte ihm nicht einmal einen Blick, was Lucien insgeheim ärgerte.
»Sitzt du hier seit ner Stunde? Dufayel ist doch schon mindestens nen Kilometer weg ...«
»Kann dir doch egal sein«, knurrte der Schulsprecher und nippte wieder an seiner Flasche.
Der rothaarige Junge seufzte innerlich. Ein kurzer Moment und die kleine Annäherung, die zwischen ihnen stattgefunden hatte, war einer noch größeren Schlucht gewichen.
Warum kümmerte es Lucien eigentlich so sehr, dass sie wieder besser miteinander auskamen? War das so ein Todkrank-Ding, dass man den Drang hatte, sich mit Leuten auszusöhnen, bevor man den Löffel abgab?
Die letzten Nachzügler spazierten an ihnen vorbei, ohne sie groß zu beachten. Sie waren aus der Zehnten und hatten wenig mit den beiden Jungen zu tun.
»Würdest du mir vielleicht mal zuhören?«, knurrte der Rothaarige, doch Mathieu stand auf und ging ein paar Schritte. Dann stoppte er und wandte sich um.
»Nein. Und weißt du warum? Es ist mir egal, was du zu sagen hast. Mehr als das, was du gesagt hast, brauch’ ich nicht zu hören. Mir ist klar geworden, dass ich gar nicht mit dir befreundet sein will. Und mich interessiert auch nicht, was du zu verbergen versuchst. Mach’ du dein Ding, wie du es immer getan hast. Trampel’ auf mir herum, wie sonst auch. Mir ist es egal. Ich brauche so jemanden wie dich nicht in meinem Leben. Du bringst nur Unglück.«
Lucien nickte und biss den Kiefer aufeinander. »Gut. Umso besser. Ich hatte zwar eigentlich vor, das Gesagte zurückzunehmen und mich zu entschuldigen - für alles davon - aber offenbar ist das gar nicht nötig.« Er stand auf und schulterte den Rucksack. »Ich hätte dich schlagen sollen. Anstatt den anderen Scheiß zu machen. Vielleicht hättest du dich dann mal wie ein echter Mensch benommen und nicht wie eine leblose Holzpuppe. Selbst wenn man dich küsst, bist du steif wie ein Brett.«
Mathieu presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Lucien machte sich darauf gefasst, dass der Junge ihm eins drauf geben würde und wappnete sich bereits gegen den heftigen Kopfschmerz, doch stattdessen wandte der Blonde das Gesicht ab und zog die Nase hoch.
»Du bist echt ein Arschloch«, murmelte er.
»Ich?«, entgegnete Lucien patzig. »Ich wollte mich bei dir entschuldigen, du Honk. Ist nicht mein Problem, wenn dein Ego zu klein ist, um die Wahrheit zu vertragen.«
»Die Wahrheit ... davon verstehst du doch gar nichts. Lass’ stecken, Lucien. Du hast Recht. Es geht mich nichts an. Ich stelle keine Fragen und bekomme keine Lügen zu hören.«
Lucien schnaubte und packte den Riemen seines Rucksacks, bevor er an Mathieu vorbei ging. »Ich hasse dich nicht. Damit du es weißt.«
Er ließ den Schulsprecher stehen, dessen Augen noch immer glitzerten, als würde er gleich losheulen.