„Stella...?“, fragte sie das ungewöhnlich sanft lächelnde Mädchen. „Hi.“, antwortete diese nur und brachte die große, prall gefüllte Adidas Tasche zu ihrem Bett. Stellas Vater trug noch zwei weitere rein, dann wurde Lucy aus dem Zimmer gebeten und sie ging raus. Ihr etwas verstörter Blick hing an dem Gesicht ihrer besten Freundin, bis die breit gebaute Schwester Claudia an ihr vorbei zog, die Tür hinter sich schloss, bis es knackte. Langsam lehnte sich das Mädchen an die Wand, atmete durch, schloss die Augen, versuchte zu verstehen. Ihre beste Freundin würde von nun an mit ihr ein Zimmer teilen... An sich war dies ja kein schlimmer Gedanke, das schlimme war der Ort, an dem sie sich ein Zimmer teilten. In der Irrenanstalt. Es hätte so viele bessere Orte gegeben, Orte, an denen sie sich freudig in die Arme gefallen wären, gleichzeitig gefragt hätten, weshalb sie hier sind, aber so? Wie sollte sie nun auf sie zugehen? Lucy wusste immerhin nichts davon, dass es Stella schlecht ging. Vertraute sie ihr nicht? Hatte sie ihre beste Freundin enttäuscht? Sie zog die Augenbrauen zusammen, dachte scharf nach.
Lucy sah sich mit ihrer besten Freundin vor ihrem Inneren Auge, sie kannten sich schon lange, sie sah sich und Stella noch auf der Schaukel nebeneinander sitzen. Stellas wilde, damals noch langen Locken flogen weit zurück oder umwehten ihr Gesicht wie bei einem kräftigen Windstoß, je nachdem in welche Richtung sie schaukelte. Lucy beobachtete sie lächelnd, schaukelte aber nur vorsichtig, sie hatte mehr Spaß dabei ihre Freundin zu beobachten, wie sie immer höher schwang, kindlich hoch lachte und von weit oben absprang. Lucy bewunderte Stella jedes Mal, wenn sie es schaffte auf beiden Beinen auf zu kommen, sie selbst war dabei einmal auf dem Asphalt aufgekommen und hatte sich verletzt. Seitdem mochte sie das Schaukeln nicht mehr so sehr.
Vor ihrem geistigen Auge verliefen die 8 Jahre die sich die Freundinnen schon kannten, und während sich Stella immer mehr veränderte blieb Lucy fast die gleiche, äußerlich. Innerlich zerbrach sie ab ihrem 10. Geburtstag, der letzte und einzige Tag, an dem sie ihrer Grundschulfreundin zeigte, wie schlecht sie sich fühlte.
Schnell schüttelte Lucy den Kopf, diese Erinnerung wollte sie jetzt nicht unbedingt noch einmal durchleben. Für sie war jetzt nur eines wichtig, herausfinden, wieso ihre beste Freundin hier war.
Nach einer Viertel Stunde krampfhaften Nachdenken öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer wieder und die Schwester verließ den Raum mit dem Vater ihrer Freundin. „Du kannst wieder rein gehen.“, meinte sie lächelnd zu Lucy, diese nickte nur langsam und wechselte den Platz mit den Erwachsenen, nun schloss sie die Tür. „Was machst du hier...?“, fragte Lucy ihre Freundin langsam und wandte ihren Blick von ihr nicht ab während sie langsam nach dem Holzrahmen ihres Bettes tastete und sich dann langsam setzte. „Könnte ich dich auch fragen.“, antwortete ihre regenbogenfarbige Freundin ruhig, ihr Blick, mit dem sie sie betrachtete, schien eher lauwarm, halbherzig, nicht besonders erfreut.
Einen Moment schwiegen beide und sahen sich nur an, dann gab Lucy dem Blick ihres Gegenübers nach und senkte den ihren, bevor sie sich langsam auf das Bett legte. „Meine Eltern scheinen zu denken dass ich irre bin...“, begann sie langsam und fand die verschiedenen Farben an den Wänden auf einmal recht anziehend, anziehender als dem Blick ihrer Freundin ausgeliefert zu sein, diesen jedoch ganz deutlich auf ihrer Haut brennen zu spüren.
„Nachdem was mir deine Mutter erzählt hat bist du das auch.“, erwiderte diese.
„Naja sie... Moment, sie hat mit dir geredet über mich?!“, fragte sie erschrocken und blickte nun doch wieder zu Stella rüber, die ein Lächeln aufgesetzt hatte, allerdings lächelten ihre nur halb geöffneten Augen nicht mit, sie starrten Lucy entgegen, als würden sie nach etwas von ihr verlangen. Sie wurde unruhig. „Was.... hat sie dir erzählt...?“, fragte sie schließlich leise. Stella stand auf, und während sie sich Lucy langsam näherte wurde diese noch unruhiger, ihre Atmung wurde kürzer und schmerzhafter. Sie verspürte eine seltsame Angst vor ihrer doch eigentlich so bekannten Freundin.
„Alles was du mir und Vinny verschwiegen hast. Sie hat mir dein Tagebuch gegeben und ich habe es gelesen, teilweise. Du redest nicht schlecht über Vinny und mich, aber dein Misstrauen uns gegenüber tut echt weh.“, lächelte sie kühl. Einen Moment sah sie sie an, dann wandte sie ihren Kopf. „Scheinbar hast du doch aber auch Dinge die du vor uns geheim gehalten hast...“, gab sie kleinlaut zurück, sie fürchtete sich davor es laut auszusprechen, jemanden zu widersprechen, es bei ihrer einzigen Freundin zu tun. Diese sah zu Lucy, betrachtete sie, lief langsam rückwärts und ließ sich wieder auf ihr Bett mit den vollen Taschen sinken. „Warum hast du nie was gesagt...?“, fragte Lucy als erste, ihre Freundin schaffte es nur den Mund zu öffnen. „Seh ich aus wie jemand der solche Gefühle offen zeigt?“, fragte sie mit ihrem bissigen aber verspielten Grinsen, dass sie bei sarkastischen Antworten immer zeigte. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Und warum du nicht?“ „Ich... dachte du und Vinny habt genug im Kopf...“, gestand sie murmelnd. Beide seufzten, sahen aneinander vorbei auf die hinter ihnen liegenden Wände.
„Das heißt wohl unsere Freundschaft beginnt komplett von neuem, hm?“, fragte das gewöhnungsbedürftig aussehende Mädchen.
„Scheint so...“
„Wie sind die anderen hier so?“
„Ganz okay... Ich habe sie auch noch nicht wirklich näher kennengelernt...“
„Gleichaltrige oder Nervzwerge?“
Lucy schmunzelte. „Beides und ältere.“
Stella musste grinsen, und Lucy wusste was das bedeutete. Sie würde sich nur mit den älteren abgeben, versuchen dass diese sie annahmen und mindestens mit einem Krawall anfangen der sie nicht respektvoll behandelte. Denn das war sie in Person.
„Also... wegen was bist du hier...?“, fragte sie ihre gepiercte Freundin dann vorsichtig und bereitete sich schon mal auf eine Zurückweisung und einen eventuellen körperlichen Angriff vor, indem sie die Beine anzog, sie wollte zumindest ihren Torso schützen. Dafür erntete sie einen fragenden und leicht enttäuschten Blick, bevor das Mädchen den Kopf schüttelte. „Wenn du jetzt schon solchen Schiss hast, halte ich meine Klappe.“, meinte sie ruhig, ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, sie zeigte deutlich, dass sie Lucy ihre Gestik übel nahm. „Tut mir Leid....“, murmelte diese beschämt und senkte wieder den Kopf.
Bestimmt hatte sie ihre Freundin verletzt... Bestimmt wollte sie sich jetzt erst Recht nicht mehr öffnen, und falls ihre Freundschaft vorher schon auf der Klippe lag, so drohte sie jetzt sicher herab zu stürzen und zu zerbrechen. Lucy fühlte sich mies, sie biss sich selbst bestrafend auf die Lippe, bis sie den leicht bitteren und metallischen Geschmack ihres Blutes wahrnahm.
„Hör auf mit dem Scheiß!“, brummte Stella, riss sie damit aus ihren sie zu verschlingen drohenden Gedanken, sie hob den Kopf.
„Das machst du immer, wenn du dir irgendwie die Schuld gibst!“, brummte sie wieder und nahm sich die Sporttasche auf den Schoß, öffnete sie, es zurrte. Langsam packte sie ihre Tasche aus, legte die säuberlich gefalteten Kleidungsstücke auf ihr Bett, stand auf und räumte sie weg. Sie alle hatten eine Hauptfarbe: Schwarz. Das gepiercte und tätowierte Mädchen stand nicht so auf Farben, sie fand diese genauso abstoßend wie manch einer ein Gesicht voller Pickel.
Stumm packte sie ihre Sachen aus, die ganze Zeit beobachtet von Lucy, bis die Tür wieder aufging und sie zum Vesper gerufen wurden. Schnell schlüpfte Lucy wieder in ihre Hausschuhe und band sich einen neuen Pferdeschwanz bevor sie das Zimmer verließ. Sie wusste nicht so recht, was sie nun fühlen sollte. Einerseits war sie glücklich, dass die unbekannte neue ihre mehr als bekannte Grundschulfreundin war, andererseits wusste sie nicht, wie nun die Beziehung zwischen ihnen war. Sie fühlte eine Anspannung zwischen den beiden, einen Riss, dicke Luft, ein Anzeichen für ein nahendes Gewitter, ein ungewisses Spannungsgefühl. Langsam lief sie in die Küche und sah zu den anderen Patienten, die sich langsam in die Ordnung einreihten. Wie würden sie ihre Freundin aufnehmen? Sie sah ja schon anders als normal aus. Vielleicht würden sie sie wegstoßen, sich über sie aufregen, sie auslachen, dafür verprügelt werden... Sicher war Stella eine wirklich schlagfertige Frau gewesen, unberechenbar und angsteinflößend. Ihre Gedanken versuchend zu ignorieren setzte sich das junge Mädchen auf ihren Platz, hypnotisierte fast die Tür, den Türrahmen, die Wand dahinter, wartend auf die gepiercte Neue.
„Guten Morgeen!“, grinste diese, schwang sich um die Ecke und grinste in den Raum hinein während sie sich am Türrahmen fest hielt und etwas vor und zurück schwang. Sofort sprang ein Grinsen durch die Menge, bis auf den allseits bekannten Miesepeter, der sie einfach nur ansah. Lucy wusste, dass Alec nun interessant für ihre Freundin geworden war. Und er tat ihr jetzt schon leid. Zumindest dann, wenn sie die gleichen dämlichen Shows wie immer abzog. „Bitte setz dich hin Stella.“, meinte dann Claudia seufzend, sie schien jetzt schon genervt von dem Neuankömmling zu sein, und Lucy konnte dieses Verhalten gut verstehen, zu nerven lag in der Natur ihrer Grundschulfreundin.
Langsam blickte Lucy um sich, folgte Stellas Körper, der sich rechts gegenüber von ihr nieder ließ, dann sah sie zu den anderen. Viele Augen klebten an dem relativ aufreizend gekleideten Mädchen, wofür sie sofort ermahnt wurde, ihr Kleidungsstil solle während ihres Aufenthaltes ein wenig weniger demonstrativ sein. „Wer isn das?“, fragte Alec sie ruhig und beugte sich etwas zu Lucy rüber, was sie sichtlich mit wechselhaften Gemüt annahm, als sie antwortete: „Stella... Eigentlich eine Freundin von mir...“
Der Blick von dieser verriet jedoch, dass diese Freundschaft sehr wackelig zu sein schien, sie schienen einander zu misstrauen. „Aha.“, meinte Alec nur knapp, betrachtete die beiden Mädchen und ließ sich vom Lärm der Jüngeren übertönen, als er zu sprechen begann, wiederholen tat er jedoch sein Gemurmel nicht. Es schien ihm nur etwas auszumachen, von niemanden angehört zu werden, denn die restliche Zeit schwieg er wieder, seine Gesichtszüge jedoch sprachen Bände. Er konnte nicht mehr, jetzt nicht mehr. Und er wollte nicht mehr. Doch was genau er nicht mehr wollte, was er jetzt wollte und was er fühlte, konnte Lucy nicht aus seinem Gesicht lesen, zu wenig wusste sie über ihn, zu wenig ließ er es sie wissen, zu kurz ließ er es zu, seine Fassade bröckeln zu lassen.