Leise betraten die beiden mit dem Sportlehrer das Lager, in dem tatsächlich bereits die Nachtruhe eingeläutet worden war. Am nächsten Tag stand früh eine kurze Wanderung in den Wald an, um zum Klettergarten zu gelangen.
Lucien, der so müde war, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte, kroch in das Zelt und warf Mathieu, der sich nur schwer bücken konnte, seine Waschsachen und ein Handtuch nach draußen, zusammen mit seinem Trainingsanzug, den er zum Schlafen anzuziehen pflegte, bevor er sein eigenes Zeug zusammen räumte.
»Ich gebe euch maximal fünfundvierzig Minuten. Seid ihr bis dahin, also elf, nicht wieder da, komme ich euch holen und schleife euch eigenhändig in die Betten, klar?«
»Kein Stress«, murmelte Lucien, »wir können doch morgen eh nix machen ...«
»Das ist richtig. Ich lasse euch auch nicht mitmachen. Aber ihr habt heute genug erlebt und du, mein Lieber«, Monsieur Dufayel wandte sich an den Rothaarigen, »solltest nach deiner Heldentat eh nicht zu viel herumhüpfen. Überanstrengung ist keine Kleinigkeit. Manche landen wegen so etwas im Krankenhaus.«
Lucien nickte nur und schlurfte Mathieu hinterher, der sich beeilen wollte, sich den unangenehmen Rest seines Unfalles abzuwaschen und es endlich zu vergessen.
»Moralapostel«, murrte der Jugendliche hinter ihm und schloss zu ihm auf. »Eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen, dich zu suchen. Er hat die Verantwortung ... er hätte mich ja nicht gehen lassen müssen. Und jetzt rummeckern.«
»Er hat aber Recht, Lucien. Es sind schon Leute an so was gestorben.«
»Und mit Sterben kennst du dich ja so gut aus«, knurrte der Rothaarige und schwieg wieder beharrlich, bis sie die Waschräume erreichten und er dem mit Krücken versehrten Mathieu die Tür offen hielt.
»Nein, das gebe ich zu. Meine Eltern haben mir damals nicht mal erlaubt, meinen einen Opa noch mal zu sehen, nachdem der gestorben war.«
Lucien legte die Sachen auf dem Waschbecken ab und fackelte nicht lange, sich die dreckigen Klamotten einfach herunterzureißen.
»Albern. Ein Toter kann dir nichts mehr tun. Fies, dass sie dir den Abschied verweigert haben.«
Mathieu kämpfte sich etwas umständlicher aus seiner Kleidung, peinlich darauf bedacht, nicht zu sehr auf seinen inzwischen nackten Mitschüler zu achten, der sich mit Duschgel unter eine der Brausen stellte und jaulte, als das heiße Wasser seine Haut traf.
»Na ja ... zumindest nicht, solange es keine Zombieapokalypse gibt«, antwortete der Schulsprecher und brachte Lucien damit zum Lachen.
»Ich wusste es. Du stehst auf Horror.«
»Neee. Aber Zombies sind ganz cool, irgendwie. Es ist ... theoretisch möglich, dass so etwas irgendwann mal passiert und das finde ich ebenso gruselig wie faszinierend ... ah, verdammt«, ein Klappern erklang. Mathieu war die Krücke weggerutscht und der Länge nach auf die sauberen Fliesen gefallen.
Lucien drehte sich zu ihm um und kräuselte die Lippen. »Brauchst du Hilfe?«
Der Blonde seufzte. Er stand wackelig auf einem Bein und hatte sein dreckiges Shirt halb über dem Kopf.
»Unglaublich, wie unbeweglich man ist, wenn man nicht beide Beine benutzen kann.«
»Die Natur hat sich schon was dabei gedacht, dass wir so sind, wie wir sind«, grinste Lucien und hob die Krücke wieder auf, um sie an das Waschbecken zu lehnen.
»Wenn du so weiter machst, kommt Dufayel und du bist immer noch nicht ausgezogen. Komm her«, wieder ignorierte der Rothaarige das Zucken des Anderen und zog ihm rigoros das Oberteil über den Kopf. Ebenso verfuhr er mit Mathieus Hose.
»Und bitte. Keiner ist gestorben. Und auch nicht schwul geworden. Nimm die«, der rothaarige Jugendliche reichte dem Schulsprecher die Krücke, »und geh’ dich waschen.«
Mathieu, der deutlich spürte, dass er rot wie eine Tomate sein musste, humpelte unter den heißen Wasserstrahl und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen.
»Oh, fühlt sich das gut an«, stieß er hervor und lehnte seine Gehhilfe an die Wand, um sich einzuseifen.
Lucien stimmte ihm zu und schweigend spülten sie den Dreck von sich. Es war erstaunlich, wo der überall gelandet war, selbst unter ihren Klamotten. Als Mathieu dem Rothaarigen den Rücken zudrehte, fing dieser zu kichern an.
»Was ist denn?« Verlegen wandte der Blonde den Kopf.
»Auf deinem Rücken könnte man Radieschen ziehen. Wie hast du die ganze Erde da hin bekommen?«
Mathieu versuchte, die Stelle zu erreichen und verrenkte sich halb, was ihn schwanken ließ.
»Ich würde dir ja anbieten, dir den Rücken zu waschen, Minou, aber nachher verstehst du das noch falsch und so ...«
»Es würde weniger verkehrt klingen, wenn du das nicht in Verbindung mit einem ... albernen Kosenamen sagen würdest.«
Lucien machte einen Schritt auf den Blonden zu und neigte sich leicht zu dessen Gesicht. »Kosename?«, flüsterte er. »Findest du, das ist einer?«
Mathieu bemühte sich um eine entschlossene Miene. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie aufwühlend es für ihn war, Lucien so nahe zu sein, dass der zimtige Duft von dessen Kaugummi in der Luft zwischen ihnen beiden lag. Die Erinnerung an den harten, aber doch sonderbar berauschenden Kuss vom Vormittag war noch nicht verblasst und Lucien war manchmal unberechenbar.
»Hm«, machte der Rothaarige, »eigentlich wollte ich dich damit aufziehen. Weil du so ein verrückter Katzenfreak bist. Aber wenn du es als Kosename empfindest ...« Er zwinkerte und richtete sich wieder auf.
»Mir wäre es lieber, du würdest meinen Namen verwenden.«
»Mado, mein Liebling«, flötete Lucien und fing zu lachen an.
»Du bist ein Idiot«, entgegnete Mathieu, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
»Dein Rücken ist immer noch dreckig ...«
Der Schulsprecher zog eine seiner hellbraunen Augenbrauen hoch. »Irgendwie bekomme ich das Gefühl, du brennst förmlich darauf, an mich ran zu kommen.«
Lucien schnaubte laut und spuckte etwas Wasser aus, was er in die Nase bekommen hatte. »Ich will nur ... oh fuck ... ich will nett sein. Ich glaube, ich werde krank ...«
Mathieu reichte ihm sein Duschgel. Man sah ihm an, dass es ihn Überwindung kostete. Nicht nur die eigene und die Nacktheit anderer war für ihn schwierig, auch von anderen Menschen berührt zu werden, gehörte dazu.
»Vielleicht findest du mich in Wahrheit nur einfach gar nicht so scheiße, wie du immer vorgibst.«
Lucien verzog die dunklen Augenbrauen und schäumte das Gel zwischen den Fingern auf, bevor er sie auf die Schultern des Anderen legte.
»Dreh’ dich um, Mann. Hier ...«, er fuhr an Mathieus Wirbelsäule entlang, »ist alles voller Dreck. Hast du einen Köpper den Abhang runter gemacht?«
Der Blonde biss sich leicht auf die Lippe, um nicht zu erschaudern. Die Finger Luciens waren weich durch das Duschzeug und kitzelten, streichelten ihn mehr als dass sie rieben.
Diese Situation erschien Mathieu so absurd, dass er glaubte, jeden Moment einen hysterischen Lachanfall zu kriegen.
Dies war das allererste Mal, dass ihn ein anderer Mensch außer seiner Mutter oder seinem Hausarzt berührte, er war nackt und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»Oh«, hörte er Lucien nach ein paar Sekunden, »man kann die Narbe immer noch sehen.«
Mathieu wandte den Kopf um und stieß beinahe gegen den des Rothaarigen, der jedoch mit erschrockenem Gesicht noch rechtzeitig auswich.
»Wie?«
»Äh ... die ... die Narbe. Hier«, Lucien tippte auf eine Stelle an Mathieus Hüfte.
»Oh, ja. Na ja ...« Der Blonde war dort damals, als sie acht gewesen waren, mal von einem Hund gebissen worden und hatte ins Krankenhaus gemusst. Dort hatte er Tetanusspritzen bekommen, die sehr schmerzhaft gewesen waren und Lucien glaubte, dass das der Auslöser dafür war, dass Mathieu bis heute keine Hunde mochte.
»Bist ... bist du fertig?«, stammelte der Schulsprecher.
Der Rothaarige nahm die Hände wieder vom Körper des Anderen und nickte. »Ja ... da kam ganz schön was runter ...« Er wandte sich wieder ab und stellte sich selbst unter das heiße Wasser. Er glaubte, dies würde verbergen, dass er rote Wangen bekommen hatte. Allerdings hatte die Hitze den Nebeneffekt, dass der Rothaarige erneut spürte, wie erschöpft und erledigt er war. Ihm schwindelte der Kopf und er drehte die Temperatur herunter, während er verstohlen einen Seitenblick auf den Blonden warf.
Mathieu hatte schöne, nahezu makellose Haut und auf eine merkwürdige Art und Weise hatte es ihm gefallen, den Schulsprecher zu berühren. Wieder fluchte Lucien innerlich über das Universum, sein Karma und alle bösen Geister, die sich gegen ihn verschworen hatten.
»Danke.«
Der Rothaarige grunzte nur und schaltete schließlich das Wasser aus, um sich abtrocknen zu gehen.
»Kommst du auf den Fliesen allein zurecht?«, brummte Lucien und kämpfte das unbekannte Kribbeln auf seiner Haut entschlossen nieder. Er wollte nicht so empfinden. Schon gar nicht wegen dem spießigen Schulsprecher. Er weigerte sich, den miesen Scherz seines Karmas anzunehmen oder zu beachten. Er war kein Homo, so einfach. Nicht mal ein bisschen bi! Wenn es so wäre, hätte er das bestimmt schon viel früher gemerkt.
»Hm, ja ...«, Mathieu spülte sich die goldenen Haare aus und humpelte dann zu den Waschbecken, umständlich nach seinem Handtuch greifend. Er lehnte sich an die Wand und trocknete sich so gut ab, wie es eben ging.
Schließlich seufzte er. »Das ist scheiße«, wisperte er unglücklich. »Ich bin immer noch nass. So kann ich unmöglich in die Sachen. Da hab ich ja morgen noch ne Lungenentzündung.«
Lucien kräuselte die Lippen. »Als ob du dich allein anziehen könntest. Okay, gib’ her. Ich spiele für dich heute Abend den Krankenpfleger. Aber wehe, du erwähnst es jemals vor irgendjemanden, dass ich das getan habe. Dass ich dir beim Waschen geholfen, dich abgetrocknet und dir in deine Klamotten geholfen habe. Dann bist du ein toter Mann, Grantaine.«
Mathieu, der zu zittern begonnen hatte, nickte. »Willst du nicht, dass jemand denkt, du könntest nett sein?«
»Nein, ich will nicht, dass irgendwer glaubt, ich würde auf dich abfahren.«
»Oh ... natürlich. Aber hast du nicht mal gesagt, dass es für dich ganz egal ist, ob man auf Jungs oder Mädchen steht?«
Lucien, der Mathieu gerade den Rücken trockenrieb, brummte. »Jungs nicht. Du schon.«
Der Schulsprecher biss sich auf die Lippen. »Hmm ... ist wohl mein Schicksal. Mädels stehen nicht auf mich. Typen auch nicht.«
Der Rothaarige blickte einen Moment auf Mathieus Profil. Er sah traurig aus und schien tatsächlich zu glauben, dass sich niemand je in ihn verlieben würde.
»Jungfrau, vierzig, männlich, sucht ... hab ich doch gesagt. Mit drei Dutzend Katzen in einem Einfamilienhaus.«
Der Blonde zog die Nase hoch.
»Wovor hast du denn Angst? Dass es irgendwann mal genau so kommt? Das glaube ich nicht, Mathieu. Du bist nicht dumm und auch nicht gerade potthässlich. Man kann eh nix erzwingen. Aber Minderwertigkeitskomplexe brauchst du deswegen nicht zu bekommen. Es macht dich nicht zu einem cooleren Typen, wenn du an jedem Finger ne Tussi zu hängen hast.«
»Das sagt der, der genau das hat und den alle toll finden ...«
Lucien lachte leise und rubbelte dem Schulsprecher die Haare trocken. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
»Wenn du willst.«
»Ich hab’s noch nie gemacht. So viel zu der Theorie, dass einen das beliebter macht.«
Mathieu wandte dem Rothaarigen das Gesicht zu. Seine Nase wirkte gerötet und seine Augen glitzerten. Sie mussten rasch in trockene Klamotten, sonst würde er sich erkälten.
»Echt nicht?«
»Nope. Ein bisschen geknutscht und gefummelt. Aber nicht mehr. Ich weiß nicht, warum alle denken, es wär’ anders. Ich bin vollkommen unbeleckt.« Lucien drückte Mathieu das Handtuch in die Hand. »Hier, deinen Schwanz und so trocknest du schön selbst ab. Ich will nicht der Grund für eine außerkörperliche Erfahrung sein.«
Der blonde Jugendliche kicherte und machte die letzten Handgriffe auf wackeligen Füßen allein, während der Rothaarige sich die Zähne putzte.
Mathieu hatte sich gerade mit Hilfe des Anderen den Pullover über den Kopf gezogen, als die Tür zum Duschraum aufging und ein kalter Schwall Luft mit hineinkam.
»Seid ihr immer noch nicht fertig?« Monsieur Dufayel stand dort und schaute mürrisch.
»Versuchen Sie mal, einen Krüppel daran zu hindern, ständig hinzufallen, wenn einem selbst schwindelig wie Sau ist!«, murrte Lucien genervt. Er wäre den Weg zum Lager lieber mit Mathieu allein zurückgegangen. Sie konnten sich gut unterhalten, wenn es darauf ankam.
Der Blonde putzte sich ebenfalls rasch die Zähne, während sein Mitschüler ihre dreckigen Sachen zusammenklaubte. »Kann man die hier irgendwo waschen?«
Der Sportlehrer nickte. »Es gibt Münzwaschautomaten im Haupthaus.«
»Dann haben wir morgen wenigstens was zu tun, wenn wir schon hier bleiben müssen ...«
»Ihr geht jetzt erstmal zurück und zwar zackig. Es ist nach elf und ich würde auch gern langsam zu Bett gehen.«
Die beiden Jungen sahen sich einen Moment lang grinsend an. Offenbar hatten sie ihren Pädagogen an den Rand des Erträglichen gebracht und der wurde auch nörgelig, wenn er keinen Schlaf bekam.
Im Lager drückte Monsieur Dufayel den beiden jeweils einen Becher mit heißem Tee in die Hand, den er auf dem noch glimmenden Grill aufgewärmt hatte und scheuchte sie grimmig in ihr Zelt.
»Oho, was ist der für eine Diva, wenn er seinen Schönheitsschlaf nicht bekommt«, kicherte Lucien und zog sich ein paar dicke Socken über seine Trainingshose. Mathieu saß im Schneidersitz auf seinem Schlafsack und nippte an dem Pfefferminztee.
»So wie du. Du warst vorhin genauso mies drauf.«
»Eine Dusche hilft.« Lucien fuhr sich durch die noch feuchten, viel dunkleren Haare und seufzte. »Ich krieg’ schlechte Laune, wenn ich mich dreckig fühle.«
»Du bist also gar nicht eitel ...«, der Schulsprecher schürzte die Lippen, um sich ein Grinsen zu verkneifen.
»Doch. Und da stehe ich zu«, der Rothaarige kroch in den Schlafsack und trank den Tee in kleinen Schlucken. Die Wärme breitete sich bis in die Zehen aus.
»Zelten im Herbst. Erinnere mich daran, dass ich das nie wieder tue!« Lucien lachte harsch auf. Garantiert würde er das kein zweites Mal machen. Denn im nächsten Herbst war er entweder bereits tot oder würde zuhause auf den Sensenmann warten.
»Selbst im Sommer kann es, nein, ist es ungemütlich. Ich versteh campingverrückte Leute nicht.« Mathieu machte sich lang. Sie hatten die schummrige Lampe abgenommen und zwischen sich auf die Erde gestellt.
»Da sind wir uns wohl einig. Langsam wird das unheimlich«, murmelte Lucien. Der Blonde brummte nur zustimmend, bevor die Strapazen des Tages über ihnen zusammenbrachen und sie beide eingeschlafen waren.