Der ungeliebte Campingausflug verging und als die Schüler bei Tagesanbruch am Dienstagmorgen ihre letzten Sachen zusammensammelten, waren ihre Bewegungen fahrig, viele murrten oder keuchten und alle sahen müde aus. Die Vorhersage von Monsieur Dufayel, dass sie sich wie neugeboren fühlen würden, hatte sich nicht bewahrheitet. Jeder hatte Muskelkater, viele eine Erkältung und alle sehnten sich nach ihrem eigenen Bett.
Die Einzigen, die fit und munter aussahen, waren der Lehrer selbst, der Schüler Philippe, der für Sport und Outdoor-Aktivitäten lebte und Mathieu, weil der in seine Rolle als verantwortungsbewusster Schulsprecher zurückgekehrt war und den Erwachsenen dabei half, alle anzutreiben.
Es war aufgrund seines verstauchten Knöchels nicht möglich gewesen, an irgendeiner der Tätigkeiten der letzten Tage aktiv teilzunehmen und so hatte der Jugendliche viel Zeit gehabt, um sich auszukurieren. Inzwischen hatte er die Krücken abgeben können und lief wieder ohne Hilfe herum, auch wenn er noch immer etwas humpelte.
Lucien, der sich nach dem Schwächeanfall hatte schonen müssen, hatte nur an den Veranstaltungen teilnehmen dürfen, die keine zu große Belastung für ihn darstellten. So durfte er bei einem kleinen Wettrudern auf dem See mitmachen, musste bei dem von seinen Mitschülern ausgetragenen Volleyballturnier allerdings aus der Bank sitzen. An der Schnipseljagd, von der Mathieu gesprochen hatte, hatten beide Jugendliche nicht teilgenommen. Der Schulsprecher nicht, weil er sich nicht gut bewegen konnte, Lucien nicht, weil er keine Lust auf den Kindergarten gehabt hatte. Gewonnen hatten schließlich die Zwillinge.
Umso glücklicher war der Rothaarige nun, dass es wieder nach Hause ging. Dieser ganze Ausflug war für den Arsch gewesen und er hätte lieber mit Etienne die Schulbank gedrückt.
Wegen der unmenschlich frühen Stunde mit schlechter Laune, saß der Junge auf einer der Bänke und steckte sich die letzte Zigarette aus seiner Schachtel an. In den kommenden acht Stunden würde er nicht zum Rauchen kommen und er brauchte gerade wirklich etwas, um herunterzukommen, bevor er noch jemanden anbrüllte.
Es war noch nicht einmal sieben Uhr, noch dunkel und der Nebel hing zwischen den Bäumen wie Gespenster. Die diffuses Licht spendenden Lampen auf dem Zeltplatz gaben allem etwas Unheimliches, was durch das Gestöhne der anderen Schüler, die alle hundemüde und wie Zombies herumschlurften, nicht besser wurde.
»Hast du alles zusammen?«, drängte sich die Stimme seines ehemaligen Zeltmitbewohners in sein Ohr und Lucien pustete den Rauch in die kalte Morgenluft.
»Angst, dass ich was vergesse, was mir hinterher fehlen könnte?«
»Routinefrage. Wenn du etwas vergisst, ist es weg. Wir drehen nicht um, weil jemand etwas verschlampt hat«, grummelte Mathieu zurück, was den Rothaarigen schmunzeln ließ.
Das wache Aussehen des Schulsprechers mochte darüber hinweg täuschen, doch auch Mathieu hätte gern noch zwei Stunden geschlafen. Die Morgenmuffellaune, die er vor allen anderen versteckte, kam bei Lucien jedoch durch, da dieser den Blonden schon immer leicht hatte reizen können.
Der Rothaarige trat die Zigarette unter seinem Schuh aus und zerknüllte etwas Papier in den Fingern, bevor er aufstand. Mathieu war nicht zurückgewichen und so standen sie nur wenige Zentimeter auseinander, als sie einander ansahen. Der Blonde, der etwas kleiner als Lucien war, hob den Blick und presste die Lippen streng aufeinander.
»Um mich, Minou, brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, flüsterte Lucien fast und Mathieu konnte den Zimt seines frischen Kaugummis riechen. Es berauschte ihn sonderbar und so merkte er gar nicht, wie lange er und der Rothaarige sich einfach nur angesehen hatten.
»Alter, nehmt euch doch einfach ein Zimmer, Mann«, rief plötzlich ein vorbeigehender Zehntklässler und zog damit die Aufmerksamkeit aller anderen auf die beiden Jugendlichen, die zusammenschraken und verwirrt erst sich an- und dann um sich sahen.
Erschrocken machte Mathieu nun doch einen Schritt zurück und strauchelte wegen seines angeschlagenen Knöchels fast, wenn Lucien nicht seinen Arm gepackt hätte.
»Danke«, murmelte der Blonde verlegen und war in diesem Moment froh, dass es noch so dunkel war. So konnte niemand sehen, wie rot sein Gesicht glühte.
Wie hatte er nicht bemerken können, wie eindeutig diese Situation ausgesehen haben musste? Wie hatte es überhaupt dazu kommen können? Er hatte wirklich das Gefühl gehabt, dass um sie herum nichts weiter war und als wären sie vollkommen allein.
Das Geschnatter ihrer Mitschüler verursachte Mathieu ein unangenehmes Gefühl. Er wollte nicht der Mittelpunkt irgendwelchen Tratsches sein und schon gar nicht, wenn es darum ging, ob zwischen ihm und Lucien irgendetwas lief. Das war absurd!
Als Celeste sich von ihrer Mädchentraube aus Lästertanten löste und auf die beiden zugelaufen kam, konnte Mathieu nicht anders, er stöhnte genervt und musste in derselben Sekunde grinsen, weil er hörte, dass Lucien den gleichen Einfall gehabt hatte. Stumm blickten sie einander an, bevor sich das blonde Mädchen halb neben ihrem Bruder, halb zwischen den beiden Jungen aufbaute.
»Was veranstaltet ihr hier eigentlich für ein Kino? Wollt ihr, dass alle denken, ihr seid Homos? Bäh.« Celeste guckte Mathieu streng ins Gesicht und der Jugendliche glaubte zu wissen, dass das ihr Mörderblick war, mit dem sie jeden Konkurrenten von einem potentiellen Love Interest wegekeln wollte.
Lucien verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach komm, du gehörst vermutlich auch zu denen, die zuhause ein ganzes Regal voller Schwulenmangas haben.«
Das Mädchen drehte den Kopf und lächelte so honigsüß, dass Mathieu den Mund verzog.
»Nein. Sehe ich aus wie ein Freak?«
»Weiß nicht. Wie Barbie herumlaufen ist auch nicht normal«, der Rothaarige hatte ein so charmantes Lächeln im Gesicht, dass es Celeste gar nicht wirklich auffiel, dass er sie beleidigt hatte. Sie war offenbar wirklich so blindlings verknallt in Lucien, dass sie nur sehen und hören wollte, was sie sich wünschte und nicht das, was er tatsächlich sagte.
Mathieu schüttelte verwundert den Kopf. Waren alle Mädchen so doof, oder nur seine Schwester?
»Na wie auch immer«, mischte er sich in diese ihm Übelkeit erregende Szene ein, »ich hab noch zu tun. Celeste, räum’ deinen Kram zusammen. Wenn etwas fehlt, hast du Pech gehabt!« Der Schulsprecher wollte wegkommen von seiner dusseligen Schwester, die seinen Mitschüler anhimmelte, als wäre er die Sonne. Den Gedanken, dass Mathieu sich in diesem merkwürdigen und doch besonderen Moment mit Lucien von den anderen gestört gefühlt hatte, schob er rigoros beiseite.
Celeste machte nur eine wegwerfende Handbewegung und nickte, ohne ihren Bruder anzusehen, der die Augen verdrehte und sich abwandte.
»Ja, du zieh‘ auch ab«, hörte er jedoch Lucien noch zu dem Mädchen sagen und konnte ein Grinsen nicht verhindern.
»Warum? Ich dachte, wir reden mal ein bisschen. Wir haben die ganze Zeit noch keine Gelegenheit dazu gehabt ...« Celeste setzte sich auf die Bank neben den Rothaarigen, der sich eine weitere Zigarette wünschte und missmutig die leere Schachtel zusammenknüllte.
»Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, dass ich nicht quatschen will?«
»Ich versteh’ das. Du bist in der Oberstufe, ich nicht ... du schämst dich«, kicherte das Mädchen und Lucien warf ihr mit einer ungläubig hochgezogenen Augenbraue einen Blick zu.
»Ich wüsste nicht, wofür das nötig sein sollte?!«
»Ich auch nicht. Ist doch voll egal. Ich würd’ mir auch ne Freundin aus der Unterstufe suchen, wenn die in meiner Stufe alle so lahm sind wie Anais oder Violette ...«
Lucien verschluckte sich. »Tickst du noch richtig? Du bist nicht meine Freundin!«
Celeste zuckte leicht, nickte aber. »Ich weiß. Ich wäre es aber gern und das weißt du genau. Und du hast mit mir rumgemacht!«
»Ich hab’ dich geknutscht, dir keinen Heiratsantrag gemacht, Mann ... Sorry, aber ich glaub, da ist was falsch bei dir angekommen ...«
»Du hast gesagt, du findest mich scharf ...«
»Ich hab gesoffen? Außerdem ... ja, du bist scharf. Deswegen will ich trotzdem nicht mit dir gehen. Sorry.«
Das Mädchen, das normalerweise dafür bekannt war, ohne zu zögern eine Riesenszene zu machen, wenn ihr etwas nicht passte, ballte die Hände zur Faust und erhob sich. »Okay ... dann macht es dir bestimmt nichts aus, wenn jeder davon erfährt, was du gemacht hast. Und dass du statt mir lieber meinen Bruder ficken willst ...«
Lucien machte große Augen. »Was habe ich gemacht, bitte? Wir haben uns geküsst. Nicht mehr und nicht weniger. Tu‘ nicht so, als hätte ich dich vergewaltigt oder dich gezwungen, mich zu küssen! Und wie kommst du darauf, ich würde auf Mathieu stehen?«
»Mir ist ganz egal, ob du auf ihn stehst oder nicht. Ob du wohl immer noch so cool bist, wenn alle glauben, dass du gern Schwänze lutschst?«
»Weißt du«, seufzte der Jugendliche und rieb sich das rechte Auge. Sein Tumor hatte zu pulsieren begonnen, seit er mit Celeste redete. »Ein Typ ist nicht gleich ein Homo, nur weil er ein bestimmtes Mädel nicht will. Außerdem ist es mir scheißegal, was die anderen denken. Ich lass mich nicht dazu erpressen, mit dir zu gehen. Das ist erbärmlich. Ich dachte eigentlich, du wärst etwas reifer.«
»Und ich dachte, du wärst ein richtiger Kerl. Schwuchtel«, fauchte Celeste.
»Von mir aus. Mir egal, was du über mich rumerzählst, aber bevor du das machst, vergiss mal ‘nen Moment dein Ego und denk darüber nach, wie Mathieu das finden würde. Dem ist’s vielleicht nicht egal. Aber so was ist zweitrangig, wenn Celeste was will, nich‘?« Lucien stand von der Bank auf und kniff die Augen zusammen. Seit dieser Ausflug begonnen hatte, hatte er zum ersten Mal wieder wirklich miese Kopfschmerzen.
»Ah, also stehst du doch auf ihn«, feixte das Mädchen und kassierte einen grimmigen Blick des Rothaarigen.
»Ich mache mir die Gedanken, für die du zu egoistisch bist, Bitch. Und jetzt hau’ ab, ich muss gleich kotzen!«
Ihre unfreundliche Unterhaltung und Celestes bissiger Kommentar gingen in dem ohrenbetäubenden Geräusch von Monsieur Dufayels Tröte unter und niemand hörte den unterdrückten Schmerzenslaut, den Lucien als Folge dessen ausstieß.
»So Leute. Ich hoffe, jeder hat alles und die Zelte sind leer. Wie euer Schulsprecher vielen von euch schon gesagt hat: Was vergessen wird, ist verloren. Also ... ihr habt noch fünf Minuten, dann nimmt jeder sein Gepäck und wir gehen zum Parkplatz vor.« Der resolute Sportlehrer starrte die müden Schüler nieder, die alle noch einen letzten Blick auf und in ihre Taschen warfen.
Lucien, der schon am Abend alles zusammengeräumt hatte, hockte sich wieder auf die Bank, nachdem das blonde Mädchen einen eingeschnappten Abgang gemacht hatte, und zog sein Handy aus der Jackentasche. Es war sieben Uhr und irgendwo am Horizont konnte man einen feinen rosa Schimmer ausmachen. Sie würden vor dem Nachmittag nicht in Biarritz ankommen, was bedeutete, dass sie diesen Tag noch schulfrei hatten. Es lohnte sich ohnehin nicht, noch für zwei Unterrichtsstunden in die Schule zu gehen, mit all dem Gepäck dabei und der muffeligen Zeltplatzkleidung.
Lucien wollte nur noch nach Hause in sein Bett, sich zudröhnen und irgendeine blöde Comedyshow im Fernsehen anschauen. Müde steckte er das Mobiltelefon wieder weg und stützte seinen Kopf in die Hände. Wie der Arzt es ihm gezeigt hatte, versuchte er, den aufkommenden Schmerz wegzuatmen. Doch die kleine Bombe unter der Schädeldecke des Jungen war an diesem Tag nicht so leicht zur Ruhe zu bringen.
»Du siehst scheiße aus.« Mathieu, mit seinem obligatorischen Klemmbrett in der Hand, das die ganze Woche in seiner Tasche gelegen hatte, setzte sich neben ihn und kritzelte auf einem Blatt Papier herum.
»Und immer noch besser als du, Grantaine«, kicherte Lucien zittrig. »Keine Angst, dass deine Schwester dich rasiert, wenn du wieder hier rumhängst?«
Mathieu zuckte mit den Schultern. »Entweder ist es das oder weil ich sie zuhause bitte, die Musik leiser zu machen. Irgendwas ist ohnehin immer, weswegen sie sich aufregt. Was soll’s.«
Der Rothaarige erzählte seinem Mitschüler von der Androhung Celestes, dumme Gerüchte in der Schule zu verbreiten.
»Manchmal wünschte ich, es gäbe so etwas wie freie Meinungsäußerung nicht ...«, murmelte der Blonde und schüttelte den Kopf.
»Dann dürftest du mir nie wieder sagen, dass ich ein Arsch bin. Wäre es dir das wert?«
»Nein«, entgegnete Mathieu wie aus der Pistole geschossen und musste lachen.
»Gut. Mir nämlich auch nicht.«
»Du könntest doch gar nicht den Mund halten, selbst wenn du müsstest.«
»Vermutlich nicht, nein«, murmelte Lucien und rieb sich schniefend und schnaubend die Schläfen.
»Hast du noch Tabletten? Du siehst wirklich nicht gut aus ... wie ein Käse.«
»Dank deiner Schwester.«
»Oh shit, Lucien!«, rief Mathieu plötzlich aus, als der Rothaarige ihm das Gesicht zuwandte. Hektisch griff der Blonde in seine Hosentasche und zog eine Packung Taschentücher heraus. Lucien guckte verwundert, bis ihm die Wärme unter seiner Nase und der metallische Geschmack auf seinen Lippen auffiel. Ihm war schlecht und der Druck in seinem Gaumen so stark, dass er nichts bemerkt hatte.
»Hier«, murmelte Mathieu und drückte ihm vorsichtig das Taschentuch auf die blutende Nase. »Halt’ fest, ich geh’ eins nass machen, das legst du dir in den Nacken. Kopf hoch.«
Der Rothaarige tat wie verlangt, während der Schulsprecher an den Hahn ging, der neben der Feuerstelle war und nur kaltes Wasser gab. Mit dem nassen Tuch kehrte er kurz darauf zu Lucien zurück, der sich mit zugekniffenen Augen an den Tisch gelehnt hatte.
»Lehn’ dich noch mal kurz vor.«
Der Rothaarige zuckte zusammen, als die kühlen Finger des Schulsprechers seine Haare aus dem Nacken strichen und eine ungekannte Gänsehaut, die nicht von der Kälte kam, krabbelte über Luciens ganzen Körper, als wäre er in einen Ameisenhaufen gefallen.
»Entschuldige, ist zu kalt, oder?« Mathieu hatte bemerkt, dass der Andere reagiert hatte und biss sich bedauernd auf die Unterlippe, als Lucien sich wieder nach hinten lehnte und den Kopf hob. Mit einem Seitenblick auf den Schulsprecher schmunzelte der Jugendliche bloß und nickte.
»Aber nicht schlimm. So eine Scheiße. Ich hab das nicht mal gemerkt. Ich bin bestimmt voller Flecken ...«
Mathieu warf einen prüfenden Blick auf die Kleidung des Rothaarigen und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Alles gut.«
Ein erneutes Tröten von Monsieur Dufayel kündigte den Aufbruch aus dem Lager an und leise murrend, aber sonderbar schmerzbefreit erhob sich Lucien und trabte mit dem Taschentuch auf der Nase und seinen Habseligkeiten in der freien Hand hinter seinen Mitschülern her. Er würde das Camp sicher nicht vermissen.