Etwas in meinem Hirn machte »Klick«.
Natürlich, der Schulleiter hatte meinen Jahrgang vor den Ferien noch aufgeklärt, dass wir nach diesen bis zum Ende des Halbjahres einige Austauschschüler aus London bei uns haben würden. Und er musste einer davon sein. Wie als hätte er die Gedanken von meinem sicherlich ziemlich doof aussehenden Gesicht abgelesen, begann er wieder zu reden:
»Hello, my name is Tiger. I’m here for a student exchange. And who are you?«
Er war ziemlich aufgeschlossen, das musste man ihm lassen. Er hieß also Tiger. Ein übertrieben cooler Name und doch passte es zu seinen Gesichtszügen; seinem ebenholzfarbenen Haar, welches im Nacken zu einem Zopf gebunden war; seinen hellbraunen Augen und dem kleinen Goatie an seinem Kinn. Ich realisierte, dass er mich nach meinem Namen gefragt hatte und presste ein kaum verständliches »Benny« raus.
Er machte ein fragendes Gesicht, als hätte er mich nicht verstanden.
»Bunny?«
Ich spürte, wie ich rot wurde. Verdammt, warum musste mir das passieren, gerade, wenn so ein echt hübscher Kerl vor mir stand? Zum ersten Mal fühlte ich mit voller Härte, dass ich wirklich anders tickte als die Jungen aus meiner Klasse. Zum ersten Mal kam es mir nicht komisch vor, Männer attraktiv zu finden und zum ersten Mal hatte ich richtiges Herzklopfen.
»No, Benny«, korrigierte ich etwas deutlicher und versuchte, den Kloß im Hals runterzuschlucken. Ich wollte nicht, dass der mich für einen Trottel hielt. Scheinbar machte ich mir deswegen umsonst Sorgen, denn diesmal lächelte er richtig.
»Oh too bad. ‚Bunny‘ seems to suit you. It is... how do you say... süß? Cute?« Er zwinkerte und ich guckte garantiert wie ein Auto. Hatte der mir gerade durch die Blume gesagt, ich wäre süß!?!?!?
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ging die Klingel und ich sah meinen Klassenlehrer auf uns zukommen. Er wandte sich an Tiger und bat ihn, ihm ins Sekretariat zu folgen wegen der Formalitäten.
Tiger wandte sich mit einem angedeuteten Winken noch einmal zu mir um, lächelte und rief: »See you later, Bunny.«
Na fantastisch, bei dem hatte ich meinen Spitznamen weg.
Ich warf einen Blick auf den Vertretungsplan und las daraus, dass mein erster Kurs heute Deutsch sein würde, also stiefelte ich zu dem Raum, in dem wir immer Unterricht hatten und sah meine Mitschüler schon davor stehen.
Ohne groß beachtet zu werden, stellte ich mich dazu und wartete auf die Lehrerin, unfähig, die Gespräche der Mädchen zu überhören.
»Hast du die Austauschschüler schon gesehen? Na diese Charlotte hat ja mal gar keinen Style... und sowas kommt aus London? Wie langweilig. Da gibt es die tollste Mode und dann sowas.«
Ich rollte innerlich mit den Augen. Warum sollten sie sich auch stylisch anziehen, wenn sie zur Schule gingen? In England trug man Uniformen.
»Und der Typ? Sollten das nicht zwei sein? Den habe ich noch nicht gesehen, aber wenn ich mir die Tussi so anschaue, wird der wohl auch so eine Pfeife sein.«
Wenn sie sich da mal nicht täuschen sollten.
Die Lehrerin kam, wie immer mit hektischen roten Flecken auf den Wangen, auf uns zugeeilt, begrüßte uns und schloss die Tür auf.
Wer den Geruch ungelüfteter Klassenzimmer kennt, kann den Duft erahnen, der uns entgegenschlug und trotz der zunehmenden Kälte draußen wurden erstmal sämtliche Fenster aufgerissen.
Ich nahm Platz an meinem üblichen Tisch in der Wandreihe ganz hinten und packte meinen Block aus. Da wir erst jetzt unseren Stundenplan kriegen würden, hatte ich nicht viel mehr dabei als das, ein Mäppchen und meinen Kalender.
»Ihr habt bestimmt schon von unseren Austauschschülern gehört. Sie werden in den nächsten Minuten zu uns stoßen und ich möchte, dass ihr ihnen helft, sich zurechtzufinden. Beide sind an ihrer Schule in London die besten im Fach Deutsch, aber in der Praxis ist es für sie etwas ganz anderes.«
Ich spürte, wie sich mein Hals zusammenzog und mein Herz schmerzhaft zu rasen begann, als ich das hörte. Er... dieser Typ, würde hier in den Unterricht kommen? Wie sollte ich mich da in Zukunft konzentrieren, bitte?
Ich legte müde meinen Kopf auf die Arme und versuchte, durch ruhiges Atmen das schmerzhafte Herzklopfen zu bekämpfen.
Jetzt war es amtlich. Ich war es wirklich... ich war schwul. Es konnte nur so sein. All die verwirrenden letzten Monate hatten mich zu diesem Moment geführt. Und er, Tiger, war der Auslöser. Verdammt. Aber ich konnte mich unmöglich verknallt haben... ich kannte ihn nicht mal ganz 20 Minuten und hatte genaugenommen 5 Worte zu ihm gesagt.
Während wir warteten, dass unser Klassenlehrer mit den Austauschschülern auftauchte, verlas die Lehrerin den neuen Stundenplan. Ich hatte nun Montags die ersten drei Stunden Deutsch. Ich seufzte, denn mein Mittwoch war ein reiner Sprachentag. Die restlichen zwei Stunden Deutsch, drei Stunden Englisch, eine Stunde Französisch. Großartig.
»Wie ich vor den Ferien schon gesagt habe, fangen wir jetzt mit “Romeo und Julia” an. Ich habe die Information bekommen, dass unsere Londoner Gäste dieses Werk ebenfalls noch nicht behandelt haben, dann wird es für keinen langweilig.«
Murren ging durch die Klasse. Scheinbar, offensichtlich war keiner so wirklich scharf auf diese Schnulzentragödie.
Mit einem hinterhältigen Grinsen, für das diese kleine Frau bekannt war, wandte sie sich zur Tafel um und schrieb mit energischen Buchstaben das Thema daran.
»Ich hoffe, ihr habt alle die Bücher bereits bestellt und zuhause liegen, die ihr am Anfang des Jahres besorgen solltet. Ab Mittwoch geht es mit Leseheft los, heute klären wir nur das, was ohne Buch möglich ist und reden ein bisschen über Shakespeare.«
»Ist das nicht eher ein Thema für den Englischunterricht?«, warf eines der Mädchen ein und erntete Zustimmung, was die Lehrerin nur noch mehr grinsen ließ.
»Oh ihr werdet dieses Jahr viel von diesem großartigen Dichter lesen, das ist richtig. Wir behandeln seine Stücke, in Englisch lest ihr seine Sonette. Ihr könnt euch freuen.«
Würggeräusche und Maulen brandete wieder auf und die Lehrerin lachte nur.
»Meckert nicht, ein bisschen Shakespeare hat noch niemanden umgebracht.«
»Bis jetzt, wir werden die ersten sein...«
Lachen schallte durch den Raum, sodass niemand merkte, das die Türe aufging und unser Klassenlehrer eintrat.
»Schützi, seid ihr bereit für uns?« Wieder ertönte leises Lachen, denn den Spitznamen, den Frau Schütz, die Lehrerin, weghatte, kannte jeder in der Schule.
Diese lächelte und der Mann führte die beiden Engländer in den Raum. Ich vermied es, nach hinten zu sehen. Ich wollte unter keinen Umständen Tiger ins Gesicht sehen, denn ich wollte nicht, dass er diesen albernen Spitznamen, den er mir ohne meine Zustimmung verpasst hatte, durch den ganzen Raum rief. Aus irgendeinem Grund schätzte ich ihn so ein, dass er sowas bringen würde.
Als sie allerdings vorne standen und in die Runde blickten, konnte ich das Gesicht nicht mehr wegdrehen, konzentrierte mich allerdings etwas mehr auf das Mädchen. Ich verstand gar nicht, was die Mädchen in meiner Klasse hatten. Sie war doch ganz hübsch angezogen. Jeans, eine Bluse, einen Pullunder drüber, eine Kette um den Hals und Stiefel. Nicht anders als die in meiner Klasse auch. Was hatten die gedacht? Dass eine Londonnerin, nur weil sie eben eine war, hier im Mini und Heels auftauchte? Es war Herbst.
Auf Tigers Klamotten hatte ich gar nicht geachtet, aber auch die passten zu seinem Namen. Er sah aus wie ein Biker. Lässige Jeans, T-Shirt, Kapuzenjacke, eine Lederjacke und Boots. Seine langen Haare hatte ich schon erwähnt.
Sein Blick traf meinen und ich sah, wie er leicht zu grinsen anfing. Entweder machte er sich lustig über mich oder... ah, eigentlich wollte ich es gar nicht wissen.
Auch die Mädchen bemerkten, dass Tiger absolut keine langweilige Pfeife war. Während er durch den Gang nach vorne ging, konnte ich sie kichern und tuscheln hören. Aus irgendeinem Grund störte mich das.
»Also Leute. Das sind Tiger und Charlotte. Sie sind bis Februar eure Klassenkameraden und ich möchte, dass ihr sie vernünftig behandelt und nett seid. Es ist natürlich euch überlassen, wie ihr euch mit ihnen unterhaltet, aber um den Lernfaktor zu erhöhen, wäre es doch ganz lustig, wenn ihr ihnen auf Englisch antworten würdet, wenn sie euch auf Deutsch ansprechen.«
Die beiden Engländer verfolgten aufmerksam jedes Wort, was der Lehrer sagte und nickten immer wieder leicht, als wollten sie sich selbst bestätigen, dass sie seine Worte verstanden.
»Sagt doch selbst noch ein paar Worte, ihr Zwei.« Unser Klassenlehrer machte einen Schritt zurück und der höfliche Engländer in Tiger überließ Charlotte als erste das Feld. Sie war scheinbar der schüchterne Typ, denn sie wurde rot und sah sich unsicher in der Klasse um. Offenbar waren ihr die ablehnenden Gesichter der Mädchen nicht entgangen.
»Yes, ähm... ich bin Charlotte McCann und 17 Jahre alt. Ich komme von London und lebe da mit meinen Eltern und 2 Schwestern. Ich liebe zu schwimmen und Joggen gehen und ich liebe Bücher. Das ist alles.« Ihr Gesicht war mittlerweile kirschrot. Sie stellte sich wieder, fast hilfesuchend, an die Seite von Tiger, der auf sie runterlächelte, da sie fast einen Kopf kleiner war als er. Er machte einen Schritt vor und das, was Charlotte an Selbstbewusstsein fehlte, machte er locker wett. Die Augen der Mädchen begannen zu leuchten, als er lächelte.
»Something about me, hm... mein Name ist Tiger Hastings und ich lebe auch in London. Ich habe keine Geschwister und ich bin allein mit meinem Dad. Meine Mutter starb ein paar Jahre zuvor. Ich musste das letzte Schuljahr... äh... wiederholen, weil ich hatte einen Unfall mit meinem Motorrad letztes Jahr. So bin ich 19 Jahre alt.« Er beendete seine kurze, von angenehmem britischen Akzent durchzogene Rede und grinste in die Runde. Die Augen der Mädchen klebten an ihm, ich konnte es sehen, und das nagte an mir.
Die beiden Lehrkräfte nickten und unser Klassenlehrer verabschiedete sich wieder, sodass die beiden Engländer nun allein vorne standen.
»Gut... dann suchen wir für euch beide doch mal ein Plätzchen.«
Charlotte steuerte auf eine freie Bank zu und blickte sich nach Tiger um, ob er ihr folgte, doch der schien ein anderes Ziel zu haben. Er sah mich direkt an, grinste und meinte: »I would like to sit next to you, is this ok?«
Meine Wangen brannten und ich hoffte, dass das niemand so wirklich bemerkte. Die Mädchen murrten, hatten sie doch gehofft, er würde sich vielleicht zu ihnen setzen und Charlotte zuckte mit den Schultern und nahm an dem leeren Tisch vor mir Platz, mich anlächelnd. Scheinbar waren die, die Tiger zu mögen schien, auch für sie in Ordnung.
Tiger warf sich neben mir auf den Stuhl und zog seine Lederjacke aus. Der Duft seines Aftershaves oder Parfüms streifte mich und mein Herz tanzte Samba oder irgendetwas anderes, schnelles, schmerzhaftes.
Charlotte warf Tiger ein fast verschwörerisch wirkendes Grinsen zu und ich bemerkte zu meinem Unverständnis, dass er dieses mit einem Augenzwinkern erwiderte. Was verpasste ich hier gerade?
Ich konnte die ganze Zeit die Blicke der anderen Mädchen spüren. Sicher, sie starrten nicht mich an, sondern den Typen neben mir, aber dennoch war mir das lästig.
Ich hoffte, die Begeisterung für sein zugegeben hervorragendes Aussehen würde bald verfliegen. Was das allerdings mit mir machte, wusste ich da noch nicht.