„Eines Tages werde ich die Welt mit dem blauen Himmel finden!“, verkündete Saya stolz. Sie war das aufgeweckteste Mädchen in meiner Klasse. Ich lächelte still, doch die anderen begannen zu lachen. „Die Welt mit dem blauen Himmel gibt es doch gar nicht. Das ist ein Märchen für Kinder!“, spottete Katrina und der Rest stimmte ihr zu.
„Ist es nicht! Es gibt den blauen Himmel! Ich habe ihn gesehen!“, protestierte Saya energisch, doch sie klang bereits ein wenig verzweifelt. Provokativ beugte Katrina sich vor. „Ach ja? Und wo?“ Verzweifelt schaute Saya sich um, musste jedoch jetzt antworten. Natürlich kam ihr niemand zu Hilfe. Die anderen glaubten nicht an ihren Traum und ich konnte mich nicht einmischen. Trotzig sagte sie: „In meinem Traum.“ Die Folge war erneut lautes Lachen. „War ja klar. Er ist ja auch nur ein Traum. Der Himmel ist grün und das wird er auch immer bleiben.“
„Also gut, Kinder, setzt euch. Der Unterricht fängt an“, sagte Frau Martin als sie hereinkam. Alle huschten schnell auf ihre Plätze, doch vereinzelt hörte man immer noch kichern. „Ihr solltet euch nicht über die Träume anderer lustig machen. Gerade in eurem Alter darf man noch an jeden Traum glauben“, lächelte sie dann. In ihrer Stimme lag eine Strenge, die alle endgültig verstummen ließ; eine Sanftheit, die mich tief beeindruckte und eine leise Trauer, die mich zu Tränen rührte...
Ja. So war die Welt damals gewesen. Doch in dieser Welt...
Frau Martins Worte holten das Lächeln zurück auf mein Gesicht. Es war schwer, sich alleine gegen alle zu verteidigen, wenn sie meinen Traum angriffen. Doch damit war ich sowieso immer alleine gewesen. Die anderen glaubten nicht daran. Sie hielten mich für komisch und verrückt, weil ich an etwas glaubte, dass in ihren Augen gar nicht real war. Dabei taten sie zum Teil dasselbe.
Damals war ich erst zehn Jahre alt. Damals wirkte selbst unsere eigene Welt noch groß und aufregend und schön... Die Tage schienen länger und heller zu sein. Wir schliefen glücklich ein und freuten uns auf den nächsten Tag und auf die neuen Wunder, die er bringen würde. Ja, es war eine schöne Zeit.
Doch so schön diese Welt auch war, so war mir mein Leben dann doch zu gewöhnlich. Ich wollte ein aufregendes Leben wie die Helden in den Büchern oder Fernsehserien oder Filmen. Ich wollte ein großes Abenteuer. Ich wollte etwas, das mehr war. Darum träumte ich davon, denn ich wusste, dass Träume manchmal wahr werden...
„Saya, nicht tagträumen. Konzentrier dich bitte auf den Unterricht“, ermahnte Frau Martin mich mit liebevoller Strenge. Noch sah man es mir nach. Sie mochte mich und ich war eigentlich eine gute Schülerin, doch manchmal war die Verlockung des Träumens zu groß. Verlegen lächelte ich und machte mich dann an die Übungsaufgaben, die sie uns gegeben hatte.
Wir hatten nur vormittags Unterricht. Danach ging es schnell zum Zug, wir wollten alle nach Hause zum Mittagessen. Ich freute mich schon und rätselte, was meine Mutter wohl heute leckeres gekocht hatte. Als ich die Haustür förmlich aufschmiss und rief: „Ich bin wieder da!“, kam sie lächelnd aus der Küche und umarmte mich. „Willkommen Zuhause“, antwortete sie und richtete sich wieder auf. Ich weiß noch ganz genau, dass sie mein Lieblingsessen gemacht hatte. Nudeln und Bockwürstchen.
Danach ging ich nach oben und schaute fern. Um drei Uhr ging es dann wieder nach draußen. Meine Mutter ermahnte mich noch klischeehaft, eine Jacke mitzunehmen, obwohl es draußen eigentlich immer gleich warm war. Zum Glück hörte ich auf sie. Ich lief durch die Tunnel, vorbei an den unzähligen, in die Wände eingelassenen Haustüren. Irgendwie wirkten selbst diese damals freundlicher... Doch so genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Es war ein alltäglicher Anblick, deshalb hatte ich nie wirklich darauf geachtet.
Nach einer leichten Steigung trat ich hinaus in das Licht. Das Gras zu beiden Seiten des Fußwegs war lang und leuchtete förmlich. Glücklich lief ich zu dem nahe gelgenen Waldstück. Schon damals war der Baum mein Lieblingsplatz gewesen. Ich kletterte hinauf und schaute hinunter auf die Welt. Ich konnte von hier bis zum Bahnhof sehen, dort hatte sich eine kleine Gruppe von Kindern versammelt. Neugierig beugte ich mich ein bisschen vor, in der Hoffnung, dann besser sehen zu können, doch dann hörte ich wie jemand rief: „Vorsicht!“
Ich wurde an der Schulter nach hinten gerissen, gerade noch rechtzeitig, sonst hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre vornüber vom Baum gefallen. „Bist du verrückt geworden?“, fuhr mich die Stimme jetzt an. Sie gehörte einem Mädchen mit wunderschönen blonden Locken. Ihre blauen Augen waren wütend verengt. „Nicht geworden“, entgegnete ich nur grinsend, woraufhin sie mich perplex anstarrte. „Ich war es schon. Zumindest laut den anderen. Aber danke“, erklärte ich dann. Überraschenderweise begann das andere Mädchen zu lachen.
„Du bist genial. Genial verrückt“, grinste sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. „Das nehme ich dann als Kompliment. Aber eine Frage... Wann und wie bist du hier raufgekommen?“ Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Jetzt schaute sie verlegen. „Runter“, korriegierte sie mich, wie ich sie eben. „Ich war noch weiter oben, dann bin ich schnell runtergeklettert, als ich dachte, du würdest fallen“, lächelte sie und errötete. Ich schaute sie einmal von Kopf bis Fuß an. „Du siehst nicht aus wie jemand, der gerne klettert...“, bemerkte ich. Sie hatte ein teuer wirkendes Kleidchen an und Lackschuhe, die noch keine Kratzer hatten. Sie verzog das Gesicht. „Tue ich aber. Meine Mutter entscheidet aber, was ich anziehe. Wenn es nach ihr ginge, würde ich jetzt auch Zuhause sitzen und lernen.“
„Wie langweilig... zum Glück zwingt meine Mutter mich nicht zu sowas“, sagte ich erleichtert. „Also bist du weggelaufen?“ Sie nickte. „Ja, zum Glück. Hier werden sie mich nicht finden. Jetzt habe ich mal ein paar Stunden für mich.“ „Dann komm mit. Ich kenne noch ein paar andere schöne Orte, wo uns keiner suchen wird.“ Schnell kletterte ich den Baum wieder herunter, doch das andere Mädchen folgte mir nur zögerlich. „Bist du sicher? Ich will eigentlich nicht riskieren, dass sie mich doch finden...“ „Komm schon! Ich verspreche, sie werden uns nicht finden. Ganz sicher nicht!“, rief ich ihr zu und lief dann los.
„Wenn ich mitkommen soll, dann musst du auch warten“, rief sie mir wütend hinterher und kletterte jetzt auch schnell den Baum hinunter. Dabei rutschte sie jedoch ab und fiel den letzten Meter hinunter. Erschreckt lief ich zurück. „Alles in Ordnung?!“ Gequält lächelte sie mich an. „Ja... aber meine Sachen sind hin... Dafür wird meine Mutter mich umbringen...“ Schuldbewusst senkte ich den Kopf. Ich wusste, es war meine Schuld, dass sie gefallen war, aber ich wusste nicht, wie ich das wieder gut machen sollte.
Dann stand sie jedoch wieder vor mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Hey, ist schon in Ordnung. Komm, du wolltest mir doch was zeigen. Jetzt will ich den Nachmittag auch richtig auskosten“, lächelte sie. Ich nickte, lächelte wieder und ging dann los in Richtung des Sees. Dieser lag ein Stück tiefer im Wald und auf dem Weg dahin zeigte ich ihr noch einige andere Bäume, in denen man gut klettern konnte.
Schnell kamen wir beim See an. Naja, ich muss dazu sagen, es war kein richtiger See. Dafür war er ein wenig zu klein. Aber damals als Kind erschien er groß genug für diese Bezeichnung. Darum nenne ich ihn immer noch so. Das kleine Wasserloch war gerade einmal so groß, dass man darin nicht mehr stehen konnte und ein Kind konnte in etwa zwei Minuten einmal hindurch schwimmen. Aber es war ein schöner Platz und das Wasser war, da es hauptsächlich im Schatten der Bäume lag, angenehm kühl.
Obwohl dieser Platz ein kleines Paradies war, kam so gut wie niemand hierher. Warum das so war, wusste ich nicht. Vielleicht hatten die meisten instinktiv gespürt, dass an diesem Ort etwas nicht stimmte. Dass hier etwas anders war... Ich hatte nie etwas ähnliches gespürt. Ich mochte meinen See.
„Lass uns mit den Füßen ins Wasser gehen“, grinste ich das blonde Mädchen an. Mir fiel auf einmal ein, dass ich sie gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. „Wie heißt du eigentlich?“ Einen Moment schaute sie mich erstaunt an, dann senkte sie verlegen den Blick. „Ich heiße Jira. Du bist Saya, richtig?“ Jetzt schaute ich erstaunt. „Ja, woher weißt du das?“ Sie schaut mich zweifelnd an. „Wir sind in der gleichen Klasse...“, murmelte sie ein bisschen enttäuscht. Mir klappte die Kinnlade runter. „Ersthaft? Oh, scheiße... das ist jetzt echt peinlich“, verlegen wurde ich knallrot. „Tut mir echt leid...“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich bemühe mich ja auch nicht aufzufallen...“
Eine peinliche Stille umhüllte uns danach. Wir zogen Schuhe und Socken aus und plantschten ein bisschen vor uns hin. Das kühle Wasser war sehr angenehm. Ich schaute zu Jira hinüber. Sie hielt sehr vorsichtig und aufmerksam den Saum ihres jetzt etwas schmutzigen Kleides hoch und passte auf, dass es nicht nass wurde. Ich fragte mich, ob sie je einfach wie ein normales Kind gespielt hatte...
Auf einmal hörte ich helle Stimmen von links. Drei Mädchen aus unserer Klasse kamen durch den Wald auf uns zu gelaufen. Sie lachten fröhlich und hielten scheinbar ein Wettrennen ab. „Erste!“, rief Katrina, als sie das Ufer des kleinen Weihers erreichte. „Zweite!“, ertönte Annes Stimme dann. „Ohhh, das ist unfair, ihr seid viel zu früh losgelaufen!“, beschwerte sich Grit, die erst eine kurze Zeit nach den beiden anderen ankam. „Stimmt nicht, du bist nur zu langsam“, grinste Katrina nicht bösartig. Sie umarmte die ankommende und zu dritt zogen sie sich ebenfalls die Schuhe aus.
Erst jetzt bemerkten sie uns. „Sieh mal einer an, unsere Träumerin und die stumme Prinzessin“, stichelte Anne. Katrina lachte, sie war diejenige, die sich die Spitznamen ausgedacht hatte. Genervt verzog ich das Gesicht. „Was wollt ihr hier?“ „Der Teich gehört nicht dir, also können wir genauso gut hierher kommen, wie du“, gab Grit zurück und schaute mich böse an. Sie war unsicher und reagierte auf jede Frage mit Aggression. „Klar, könnt ihr das“, gab ich zu. Ich hätte gerne gefragt, warum sie ausgerechnet heute herkamen, aber weiter darauf zu beharren wäre komisch geworden.
Also ignorierte ich sie einfach und wandte mich wieder Jira zu. Sie hatte das Wasser verlassen, als die anderen kamen und saß jetzt zusammengekauert unter einem Baum. Ich setzte mich zu ihr. „Lass es dir nicht von denen verderben. Sie haben zwar recht, dass wir ihnen nicht verbieten können, herzukommen, aber das gilt auch andersrum.“ Stumm nickte sie. Der Name 'stumme Prinzessin' schien wirklich zu passen.
Überrascht schaute ich in den Wald. Ich hörte erneut Stimmen, doch diesmal klangen sie ein bisschen tiefer. Und es waren mehr. Ich erinnerte mich daran, wie die anderen am Bahnhof gestanden hatten. Kamen jetzt auch noch die Jungs? Was war das für ein komischer Zufall? Ich war schon hunderte Male am See gewesen ohne je mehr als zwei andere Kinder zu treffen. Und keiner von ihnen war je lange geblieben... Aber dass wir jetzt zu zehnt hier waren?
Ich wusste, dass wir zu zehnt waren, denn aus dem Wald kamen fünf Jungs, zufällig ebenfalls aus unserer Klasse: Kim, Lars, Thommy, Killan und Felis. Spätestens jetzt sollte mich ein starkes Bedürfnis zu gehen überkommen, aber komischerweise kam es nicht. Eher neugierig und abwartend beobachtete ich wie die Jungs sich mit den anderen Mädchen unterhielten. So war es schon immer gewesen. Ich kam mit Jungs noch weniger klar als mit Mädchen. Sie sprachen nicht mit mir, es war, als würde ich für sie gar nicht existieren. Zum Glück war mir das egal. Auch dieses Mal wurde ich ignoriert, doch einige von ihnen warfen zumindest Jira kurze Blicke zu. Natürlich, Jira war sehr hübsch, auch wenn sie nicht sprach.
Jetzt zogen auch die Jungs die Schuhe aus und stiegen mit den Füßen ins Wasser. „Hey, ihr zwei Außenseiter! Sitzt da nicht so bescheuert rum. Kommt auch ins Wasser oder verschwindet. Das ist ja gruselig so beobachtet zu werden“, rief Killan uns grinsend zu. Sicher hoffte er, uns so verscheuchen zu können, doch das wollte ich nicht zulassen. Das hier war einer meiner Lieblingsplätze, ich würde mich nicht einfach wegschicken lassen. Schon gar nicht, wenn einer von den Jungs das sagte.
„Komm, Jira, wir gehen auch wieder rein. So leicht lassen wir uns nicht verjagen“, grinste ich ihr zu und zog sie mit mir hoch. Ich sah, dass ihr die Idee nicht behagte, doch sie ließ sich von mir zum Wasser führen und stieg auch wieder mit den Füßen hinein. Nichts hatte sich verändert. Es war immer noch kühl und angenehm. Der schlammige Boden ließ unsere Füße ein wenig einsinken. Ja, zunächst war alles wie immer.
Doch dann sah ich, wie die ersten umfielen. Als würden sie plötzlich ohnmächtig. Schreie wurden laut. Ich wusste nicht, wer schrie. Vielleicht schrie ich selbst ja auch? Ich konnte nur zusehen, wie einem nach dem anderen allen die Augen zufielen und sie, selbst wenn sie zuvor noch panisch gewesen waren, mit einem Lächeln das Bewusstsein verloren. Das letzte, was ich sah, bevor ich ohnmächtig wurde, war Jiras Lächeln. Es wirkte irgendwie entrückt, als wäre ihr eine Offenbarung gekommen... Glücklicher als die Gesichter der anderen, bei denen das Lächeln zum Teil gezwungen gewirkt hatte...
Ich bemerkte wie auch ich begann zu lächeln. Ein komisches, glückliches Gefühl hatte mich erfasst. Wie wenn man aus einem schönen Traum aufwacht. Man weiß nicht mehr, warum man glücklich ist, aber es ist eine irgendwie sehr reine, bedenkenlose Freude...
Dann wurde alles dunkel.
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3: MIA