»Du hattest Nasenbluten?« Luciens Mutter hatte zusammen mit anderen Eltern am Lycée in Biarritz auf die Ankunft der Jugendlichen gewartet und ihren Sohn bestürmt, kaum dass der den Bus verlassen hatte. Mit ihren strengen und seit Luciens Diagnose noch schärferen Augen hatte sie das zerknüllte Taschentuch, das aus seiner Hosentasche hervorlugte, sofort gesehen. Ebenso wie die eingetrockneten, aber noch immer leuchtenden Blutflecken darauf.
Der Rothaarige ließ sich widerwillig von seiner Maman vor all seinen Mitschülern in die Arme schließen und rollte hinter ihrem Rücken mit den Augen. Sie würde nie verstehen, dass es ihm peinlich war, so von ihr bemuttert zu werden, denn sie war über Dreißig und hatte vergessen, wie sie sich in seinem Alter gefühlt hätte.
»Ja. Aber es ist alles in Ordnung«, murmelte Lucien leise. Wenn seine Mutter ihn jetzt wieder wie einen Todgeweihten ansah, vor seinem halben Jahrgang, dann könnte er sich gleich auf die Stirn tätowieren lassen, dass er einen Hirntumor hatte. Also schob er sie etwas von sich und schenkte ihr ein Lächeln. Und tatsächlich stimmte es. Es ging ihm gut, wenn man bedachte, wie mies der Tag begonnen hatte.
Im Bus angekommen hatte er wie auf der Hinfahrt schon die hintere Reihe für sich gehabt und als erstes eine Tablette genommen. Lucien hatte keine Lust darauf gehabt, dass Mathieu ihm dem Aufpasser vorspielte, auch wenn der endlich akzeptiert zu haben schien, dass das Leiden des Rothaarigen einzig auf chronische Migräne zurückzuführen war. Das war gut für den Schulsprecher. Der mit seinem ausgeprägten Helfersyndrom würde, wenn er die Wahrheit wüsste, vermutlich rotieren und sich dabei selbst in den Boden drehen.
»Trotzdem. Wir fahren jetzt gleich zum Arzt. Was ist nur in mich gefahren, dass ich dachte, ein Ausflug bei diesen Temperaturen wäre gut für dich ...« Argwöhnisch blickte Madame Walace sich um und registrierte die niesenden und schniefenden Mitschüler ihres Sohnes, die alle fertig und etwas zerlumpt aussahen und froh waren, wieder zuhause zu sein.
»Mum, ich bin aber nicht krank.« Lucien verdrehte die Augen und stöhnte leise, als Monsieur Dufayel sich zu ihnen gesellte und die Frau begrüßte. Ohne Umschweife berichtete der Sportlehrer von der Heldentat des Rothaarigen und wie er den verletzten Mathieu mehrere Kilometer durch den Wald getragen hatte und anschließend zusammengebrochen war.
Der Jugendliche warf dem Lehrer einen zornigen Blick zu, der nur zu deutlich sagte: ‚Danke, du Wichser!' Er hätte wissen müssen, dass Dufayel seiner Mutter das sofort unter die Nase rieb. Als würde sie sich noch nicht genug Sorgen machen.
Madame Walace reagierte entsprechend und schnappte nach Luft. »Wie kannst du so ein Risiko eingehen und dich so überanstrengen?«, fauchte sie ihm entgegen und Lucien zuckte nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung, ich hab nicht nachgedacht. Mathieu konnte nicht laufen und irgendwie mussten wir ja ins Camp zurück.« Dass er die Telefonnummer seines Lehrers gehabt und ebenso gut diesen hätte anrufen können, sagte der Junge nicht. Er wollte aber auch seiner Mutter nicht erklären, was zuvor zwischen ihm und dem Schulsprecher vorgefallen war und dass es wichtig gewesen war, diese Zeit allein zu haben, um das abzuhaken.
»Du ... Ab, ins Auto.«
»Mum!«
»Lucien, steig' ins Auto! Danke, dass Sie mich darüber aufgeklärt haben, Monsieur Dufayel. Ich weiß genau, dass er es mir nicht erzählt hätte.«
»Aber Madame, das war eine große Tat von ihm. Dafür braucht man sich nicht schämen. Besonders nicht angesichts seines Zustandes.«
»Danke«, fauchte Lucien gereizt dazwischen, »wollen Sie es über den Schulhof brüllen? Scheiß Behindertenbonus. Kein Schwein hätte ein Fass aufgemacht, wenn ich nicht der arme Hirnkrüppel wäre. Dann wäre es nur der sportliche Lucien gewesen, der das locker geschafft hätte. Ganz ohne Lorbeeren. Heuchlerei ist das alles«, der Jugendliche hatte die Stimme gesenkt und war wirklich sauer. Er packte seinen Rucksack und schulterte ihn. »Ich hab die Nase voll. Ich warte dann im Auto, Mum.«
Den entsetzten Blick seiner Mutter ignorierend, stiefelte er davon, während er sein Handy aus der Tasche holte. Dabei übersah er Mathieu, der zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern eine kleine Traube bildete. Madame Grantaine hatte ihren plüschigen Pommeraner-Hund auf dem Arm, der jeden ankläffte, der an ihnen vorbei ging.
Die beiden Jungen stießen zusammen und Lucien, gereizt durch die vorige Szene, fauchte unwirsch: »Geh' aus dem Weg, Mann«, bevor er den Kopf hob und den Schulsprecher erkannte.
»Na, na, junger Mann. Wenn hier jemand aufpassen sollte, wo er hinläuft, dann bist es wohl du, wenn du mich fragst«, rügte ihn Mathieus Vater, ein streng aussehender und hochgewachsener Advokat mit einer schicken silbernen Brille auf der gemeißelt wirkenden Nase und den braunen, aber kühlen Augen.
Lucien hob eine seiner Brauen und schürzte die Lippen. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Mathieu innerlich seufzend in den Himmel blickte, als betete er dafür, dass der Rothaarige nichts Unverschämtes sagte. Aber das war diesem herzlich egal.
»Okay, wenn mich Ihre Meinung interessiert, frage ich vielleicht. Aber nicht heute«, brummte Lucien Monsieur Grantaine entgegen, der pikiert die Lippen verzog und seinen Sohn ansah, als könnte er nicht glauben, dass solche missratenen Bengel in die gleiche Klasse wie dieser gingen. Der Rothaarige stopfte sich indes einen Kopfhörerstecker ins Ohr und klopfte Mathieu mit der anderen Hand auf die Schulter.
»Sorry fürs Anrempeln.«
Der Schulsprecher nickte nur matt, als Lucien sich ohne einen weiteren Blick für die Familie Grantaine auf den Weg zum Auto seiner Mutter machte.
»Dieser Junge wird von Jahr zu Jahr unverschämter, ist das zu glauben. Die Eltern haben da die Zügel viel zu lange schleifen lassen. Ist es nicht eigentlich verboten, so eine skandalöse Haarfarbe zu haben?« Monsieur Grantaine, der es liebte, über andere zu richten, die nicht seinen Standards entsprachen, sah seinen Sohn an, der unwohl von einem auf den anderen Fuß trat.
»Er hat die Genehmigung von der Direktorin. Ich hab gefragt, weil ich mich auch gewundert hatte ...«
»Es geht bergab mit diesem Gymnasium, wenn solche Störenfriede schon Sondergenehmigungen bekommen. Vielleicht sollte ich mich wieder mehr im Elternbeirat engagieren. Diese Schule war mal eine der Besten, als ich noch hier Schüler war ...«
Mathieu kaute auf seiner Unterlippe herum, als er das Gesicht abwandte und dem rothaarigen Jugendlichen nachblickte. Der Blonde wusste genau, dass sein Vater jetzt wieder stundenlang darüber philosophieren würde, was die anderen Beiräte und die früheren Schulsprecher bis hin zu Mathieu alles falsch gemacht hatten und machten und das alles anders gekommen wäre, wenn er, Monsieur Grantaine, sich nicht vor einigen Jahren zurückgezogen hätte.
»Oh, aber Mathieu und Lucien sind dicke Kumpels geworden auf dem Ausflug«, feixte Celeste dazwischen und setzte ihr süßestes Lächeln auf, als ihr Vater seine strengen Augenbrauen hob und seinen Sohn scharf ins Visier nahm.
»Wie bitte?«
Der Blonde warf seiner Schwester einen genervten Blick zu. »Wir waren für ein Zelt ausgelost worden ...«
»Und er hat dich ins Lager getragen, auf seinem Rücken, als du deinen Unfall hattest, du bist die ganzen Tage mit ihm allein gewesen, hast ihm heute Morgen fast zärtlich ein Taschentuch auf die Nase gedrückt, als er Nasenbluten hatte ...«
»Mathieu!«, knurrte der Vater der beiden.
»Und du hast offenbar keine anderen Hobbys, als andere Leute zu stalken. Ich bin eben kein solcher Egoist wie du und kümmere mich, wenn jemand Hilfe braucht. Das ist meine Aufgabe. Ich bin Schulsprecher!« Der Blonde biss genervt die Zähne zusammen.
Celeste war so ein hinterfotziges Biest, das absichtlich Stimmung machte, damit ihr Papa ihn rügte. Dabei war sie es, die nur zu gern mit Lucien auf Tuchfühlung gehen wollte. Nur deswegen zog sie ihn und ihren Bruder jetzt vor der ganzen Familie durch den Kakao und interpretierte etwas in eine Sache hinein, die es gar nicht gab.
»Es war gut, dass du dich damals von dem Bengel distanziert hast, Mathieu, und ich erwarte, dass das so bleibt. Der ist nicht die Art von Umgang, die deine Mutter und ich uns für dich wünschen. Aus dem wird mal ein Herumtreiber, kein Wunder bei Eltern, die die meiste Zeit seines Lebens nicht zuhause waren, um sich darum zu kümmern, dass der Junge ordentlich erzogen wird. Allein diese schlampigen langen Haare ...«
Der Blonde verkniff sich zu sagen, dass Luciens Maman einen ganz normalen Job hatte, der es ihr ermöglichte, jeden Abend zuhause zu sein. Bevor sie Mutter geworden war, war sie als Stewardess tätig gewesen und hatte diesen Beruf für ihr Kind aufgegeben. Für Mathieus Vater jedoch war eine Frau, die arbeitete, anstatt sich ganztags um die Erziehung des Nachwuchses zu kümmern, eine liederliche Person ohne Verantwortungsgefühl. Er würde sie so oder so verurteilen. Aber im Gegenzug verstand er nicht, dass es Familien gab, in denen beide Elternteile arbeiten mussten, damit es ihnen gut ging.
»Ich bin es nicht, der heimlich in Lucien verknallt ist«, brummte Mathieu und funkelte Celeste an, die einen unschuldigen Gesichtsausdruck aufsetzte und sich mit gespielter Überraschung an die Brust fasste.
Monsieur Grantaine sah seine Tochter an und man konnte deutlich erkennen, dass er es für unmöglich hielt, dass es in ihrem Leben jemals einen anderen Mann geben könnte außer ihren geliebten Papa. Der war immerhin ihr Held.
»Mach' dich nicht lächerlich, Junge. Celeste weiß, dass sie aus einem guten Stall kommt und den Besten haben könnte. Außerdem ist sie noch viel zu jung für diesen ganzen Quatsch.«
»Sie ist ein Jahr jünger als ich!«, protestierte Mathieu und ballte die Hände zu Fäusten, als er seine Schwester feixen sah. Sie wusste, dass ihr Bruder nicht gewinnen konnte. Nicht, wenn es um sie ging.
»Und du bist ein Junge. Mädchen sind reifer, während ihr in eurem Alter nur Unsinn im Kopf habt. Und deswegen sage ich dir nochmal: Kein außerschulischer oder sonst ein Umgang mit Lucien Walace, sonst kannst du was erleben. Wir haben zu hart gearbeitet, dass aus dir mal etwas wird.«
Der Blonde presste die Lippen aufeinander und nickte schließlich. Richtig, sein Vater hatte in ihn investiert wie in ein aufgemotztes Rennpferd und er, Mathieu, hatte Ergebnisse zu liefern und sich ‚auszuzahlen', damit kein schlechtes Licht auf den ehrenwerten Juristen Auguste Grantaine fiel.
»Und jetzt ab, dass wir hier weg kommen. Ich habe heute noch zu arbeiten und kann nicht den ganzen Tag verplempern, hier auf einem Schulhof zu stehen.«
Merkwürdig niedergeschlagen lief der Junge hinter seiner Familie her, als sie zu dem schicken S-Klasse-Mercedes gingen. Obwohl es schon jahrelang so war, würde sich Mathieu nie daran gewöhnen, dass sein Vater zu ihm so geschäftsmäßig war. Der Junge konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sein alter Herr ihn zuletzt wie seinen Sohn und nicht wie einen Angestellten behandelt hatte.
Lucien lehnte währenddessen am Wagen seiner Mutter, der zwei Autos weiter stand und tippte auf seinem Handy herum. Er hob desinteressiert den Kopf, als er die Grantaines über den Gehweg laufen sah und konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen.
Diese Familie wirkte künstlich, als wären es Schauspieler auf einer Bühne, die alle eine Rolle zu spielen hatten. Die aufgetakelte Hausfrauenmutter, die so aussah, als würde sie den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und sich die Nägel lackieren, während eine algerische Haushälterin die Arbeit machte, der hochmütige Familienvater, der immer einen Gesichtsdruck hatte, als hätte er Scheiße unter der Nase, das blondgelockte Prinzesschen mit den Acrylfingernägeln und dem neusten iPhone in rosé-gold.
Und dann war da Mathieu. Der optisch perfekt in diese Gruppe attraktiver Menschen passte und doch am Rand stand und der diesen selbstgefälligen Hauch der Eigenverehrung nicht ausstrahlte, sondern aussah, als würde er strampeln, um nicht unterzugehen.
Doch Lucien glaubte kaum, dass jemand anderem auffiel, wie sehr Mathieu sich anstrengte. Er machte einfach immer den Eindruck, als würde ihm alles leicht von der Hand gehen. Immerhin war er klug und auch nicht unbeliebt, die Leute folgten ihm und hörten auf seinen Rat. Seine Fassade war perfekt, aber eben doch nur eine Maske, um sein wahres Ich zu verstecken, das unsicher und voller Selbstzweifel war.
Anders konnte sich der Rothaarige nicht erklären, dass einige der Worte, die er im Lager zu Mathieu gesagt hatte, diesen so hatten treffen können, dass er fast geheult hätte. Seine Eltern schienen nicht sehr viel Wert darauf zu legen, dass ihr Sohn echtes Selbstbewusstsein nicht nur im Bezug auf seine Leistung, sondern auch auf seine Person erlangte.
Das machte Lucien merkwürdig wütend. Monsieur Grantaine war schon immer ein furztrockener Knochen gewesen, der keinen Spaß verstand. Als Kind hatte der Jugendliche den Mann gefürchtet, obwohl er damals das Opfer von Mathieus überschüssiger Energie gewesen war. Lucien hatte es unheimlich gefunden, dass der Blonde so einen Vater hatte und irgendwie verstand er inzwischen, warum Mathieu so geworden war, wie er sich jetzt gab. Bei so einem Vorbild, für das nur Leistung und tadelloses Verhalten zählte, wäre es ein Wunder gewesen, wenn es anders wäre.
Merkwürdig war nur, dass es bei Celeste nicht funktioniert hatte, die eine Bitch durch und durch war. Die wickelte ihren Eisklotz von Vater mit nur einem Lächeln ihres Puppengesichtes um den Finger.
Der Schulsprecher, der als Letzter hinter seinen Leuten herging, hob im Vorübergehen den Kopf und wie durch einen automatischen Impuls fingen sowohl er als auch Lucien zu lächeln an. Dieser Moment hielt nur so lange, bis Mathieu vorüber war und das Gesicht des Rothaarigen wurde sofort wieder ausdruckslos, bevor er verwirrt die Augenbrauen kraus zog.
Es ging wirklich etwas Sonderbares zwischen ihm und dem dusseligen Lahmarsch ab und der Jugendliche wusste nicht, ob ihm das gefiel.
Seine Mutter, die in einer feinen Parfumwolke auf ihn zugerauscht kam, riss Lucien aus seinen Gedanken und er hob den Kopf. Hatte sie wirklich die ganze Zeit mit Dufayel gelabert, wie unverantwortlich der Rothaarige sich verhalten hatte?
»Los, steig' ein. Ich hab angerufen, wir können sofort in die Klinik kommen. Du musst untersucht werden!«
Wissend, dass jeder Widerstand zwecklos war, murrte der Junge bloß und schmiss sich auf den Beifahrersitz.