»Ich muss dich nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass jede zu große körperliche Anstrengung die Empfindlichkeit des Blastoms reizen und zu vorübergehenden, aber spürbaren Einschränkungen führen kann.«
»Wächst das Ding davon schneller?«, schnarrte Lucien den Arzt desinteressiert an.
»Nun, nein, aber ...«
»Gut. Dann ist das für mich geklärt. Ehrlich, Doktor, ich bin so an Schmerzen gewöhnt, da macht mir ein bisschen mehr auch nichts mehr aus. Es gibt halt manchmal wichtigere Sachen ...«
»Zum Beispiel?«, mischte sich Madame Walace bestürzt ein.
»Einem Freund helfen?«
»Seit wann ist der Grantaine-Junge denn dein Freund? Du hast doch seit Jahren kein gutes Haar an ihm gelassen.«
Lucien starrte mit geschürzten Lippen auf einen Fleck an der Wand. Konnte man ihn nicht einfach fünf Minuten für seine Tat feiern und dann in Ruhe lassen? Wenn das, was er getan hatte, seinen Zustand nicht verschlimmerte, was sollte dann das Theater? Die Schmerzen nach seinem Zusammenbruch waren nicht annähernd so schlimm gewesen, wie er vermutet hatte und wie der Arzt ihm weiszumachen versuchte. Denn dieser steckte nicht in Luciens Körper. Es waren mehrere Tage seitdem vergangen und erst heute morgen hatte er das erste Mal wieder Kopfweh gehabt. Und auch gleich Nasenbluten bekommen, aber was sollte es auch. Das hatte für Erleichterung gesorgt.
»Dinge ändern sich, Maman«, brummte der Rothaarige schließlich und seine Mutter nickte nur, während sie ihn skeptisch und verwundert ansah.
»Na gut ... jedenfalls, für die Zukunft gibt es keine Heldentaten mehr, Freundchen! Wenn es nicht darum geht, jemandem das Leben zu retten, wirst du deins nicht weiter in Gefahr bringen, ist das klar?«
Der Jugendliche rollte mit den Augen. »Wenn du das wünschst.«
»Lucien!«
»Mum, ich habe geborgte Zeit. Und er«, der Junge deutete auf den Doktor, der sich das Gespräch zwischen Mutter und Sohn mit professioneller Miene anhörte, »hat gesagt, es ist deswegen nicht schlimmer geworden. Ich lebe noch und es geht mir gut. Glaubst du mir das jetzt vielleicht? Wegen ein bisschen Nasenbluten, was ich früher schon hatte, brauchst du keinen solchen Tanz machen.«
Madame Walace zog die Augenbrauen kraus. Sie mochte es nicht, wenn Lucien so salopp mit ihr sprach, aber da er ein Teenager war, würde es ihn nur anstacheln, wenn sie es ihm verbot.
»Wie dem auch sei. Achte einfach ein bisschen auf dich. Danke für Ihre Zeit, Doktor.«
Der Mann nickte und lächelte höflich. »Aber gern, Madame. Ich gebe Lucien noch ein paar Medikamente mit. Da Sie die Untersuchung heute schon gemacht haben, können wir den Termin in ein paar Tagen ja ausfallen lassen. Ich sehe Sie dann in drei Wochen wieder. Sie können natürlich jederzeit kommen, sollten die Arzneimittel nicht ausreichen, selbstverständlich.«
Mutter und Sohn blieben im Behandlungszimmer sitzen, als der Mediziner den Raum verließ, um die Tabletten für den Jugendlichen zu holen. Dieser betrachtete teilnahmslos seine Fingernägel und war froh, eine Weile Ruhe vor diesem Krankenhausmief zu haben.
»Also, haben wir eine Vereinbarung?«, fragte Madame Walace.
»Für was?«
»Lucien«, seufzte die Frau, »dass du dich schonst!«
»Ach so. Ja, klar. Wenn du mir was versprichst?«
»Und was?«
Lucien schob sich aufrecht auf den Stuhl und kaute einen Moment an seiner Lippe herum, bevor er den Mund aufmachte. »Papa und du dürft mich nicht in ein Krankenhaus abschieben, wenn es zu Ende geht, okay? Ich will nicht in einem Hospiz sterben, von anderen todkranken und dahinsiechenden Menschen umgeben. Ich will zuhause bleiben, bis zum Schluss.«
»Oh«, entgegnete seine Mutter und der Junge konnte erkennen, wie ihr Gesicht weich wurde. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde sie wieder einmal zu weinen anfangen. Aber sie nickte.
»Natürlich. Ich möchte das auch.«
»Gut«, brummte Lucien knapp, als die Tür wieder aufging und der weißbekittelte Doktor ihm drei Schachteln in die Hand drückte.
»Das hier sollte reichen bis zum nächsten Termin. Denk’ dran, nie mehr als zwei gleichzeitig, maximal sechs davon in vierundzwanzig Stunden.«
»Ja, ich weiß«, murmelte der Rothaarige. »Zum Ausweichen hab ich noch die anderen. Die etwas schwächeren.«
»Gut. Dann wünsche ich dir einen schönen restlichen Tag«, der Arzt lächelte und reichte anschließend Madame Walace die Hand.
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Am Ende der Woche war für die Camper alles wieder beim alten. Die Gespräche über die aufregenden Aktivitäten und der Graus, in Zelten auf dem Boden zu schlafen, waren verklungen und niemanden interessierte es mehr. Der ganz normale Schulalltag hatte die Jugendlichen wieder und damit die Dinge, die in der Zukunft vor ihnen lagen und auf die sie sich freuen konnten.
Mathieu hingegen war weniger begeistert. Er und seine Assistentin in der Schülervertretung waren es, die diese Events für die anderen planten, sie sorgten dafür, dass alles glatt lief, opferten ihre Freizeit und bekamen den Spott der Mitschüler ab, wenn die Lehrer am Ende doch etwas änderten. Doch das war der Jugendliche gewöhnt.
Im letzten Jahr hatte die übliche Halloweenveranstaltung wegen eines Wasserschadens ausfallen müssen und deswegen warteten nun alle umso gespannter darauf, sie in diesem Herbst wiederzubekommen.
Die Direktorin hatte ihr Okay dafür erst gegeben, als Mathieu wieder von dem Ausflug zurückgekehrt war und da es bereits Anfang Oktober war, hatten er, seine Helferin und das Festkomittee, das solche Partys gestaltete, nur noch zwei Wochen dafür Zeit.
Der blonde Jugendliche war froh, dass bereits Freitag war. Wegen der Partyvorbereitungen hatte er am Samstag zwar nicht frei, weil sich alle für die erste Versammlung trafen, doch die Schule würde bis auf diese paar Leute aus dem Komitee und der Schülervertretung leer sein. Niemand würde ihn bereits jetzt mit Fragen löchern, als wäre er der allwissende Messias. Es nervte den Jugendlichen, dass jeder immer sofort annahm, er würde alles im Voraus wissen. Als könne er hellsehen.
Mit seinen Schulsachen unter dem Arm drängte er sich durch die Jugendlichen, die sich auf den Schulschluss und das Wochenende freuten. Für ihn würde es noch etwas dauern, bis er gehen konnte.
In Gedanken über die viele Arbeit versunken, die vor ihm lag, bog Mathieu um eine Ecke und prallte gegen jemanden, den er inzwischen leicht nur an seinem Geruch erkennen konnte. Es duftete nach einem frischen Herrenparfum und Zimtkaugummis.
»Grantaine, Mann«, fluchte Lucien und machte einen Schritt zurück, als der Blonde wegen der Erschütterung die Sachen fallen ließ, die er in den Armen gehalten hatte. Erschöpft aufstöhnend betrachtete Mathieu das Chaos und die verstreuten Zettel und fühlte sich mit einem Mal so müde, dass er sich für einen Moment nicht rührte und sich fragte, ob es überhaupt Sinn machte, das alles aufzuheben oder ob er es nicht einfach liegen lassen und gehen sollte. Doch schließlich siegte sein Verantwortungsbewusstsein, er stellte seinen Rucksack an die Seite und hockte sich hin, um die Bücher und Unterlagen wieder aufzuklauben.
»Du musst mir nicht helfen«, fauchte Mathieu dem Rothaarigen entgegen, was Lucien zu einem spöttischen Grinsen veranlasste.
»Wozu? Da ich langsam glaube, dass du solche Situationen hier absichtlich herbeiführst, weil du so gern mit mir zusammen bist, hast du länger was von mir, wenn du die Arbeit allein machst«, kicherte der Jugendliche.
»Davon träumst du wohl nachts, huh? Einen Haken hat deine Theorie. Ich halte dich nicht auf, einfach weiter zu gehen. Wenn du also bleibst, bist wohl du gern in meiner Nähe.«
Lucien schnaubte, doch Mathieu musste lachen. Er schob die losen Zettel in eines seiner Bücher und stand wieder auf.
»Schlampig, Grantaine. Das gibt Punktabzug bei der Heftführung.«
»Sagt der, der seit Jahren nur miese Noten dafür bekommt.«
»Ich bin ich«, entgegnete Lucien und zuckte die Schultern. »Bei mir erwartet man nichts anderes.«
»Und da du es ja hasst, die Erwartungen anderer nicht zu erfüllen ...«, murmelte Mathieu mit einem feinen Schmunzeln, was ihm einen gereizten Blick aus grauen Augen einbrachte.
»Wenn die Leute ohnehin davon ausgehen, dass man es nicht packt, warum sollte man sich dann anstrengen? Nur um denen etwas zu beweisen? Nein. Sicher nicht. Ich muss niemandem meinen Wert beweisen. Es reicht, wenn ich mir selbst genüge.«
»Du machst es dir zu leicht.«
»Nein, Mathieu. Du machst es dir zu schwer. Salut. Schönes Wochenende.« Lucien klopfte dem Schulsprecher im Vorübergehen auf die Schulter und dieser sah ihm einen Moment lang nach. Schließlich seufzte er. Lucien war eben Lucien. Es war nicht möglich, sich mit ihm zu vergleichen, weil niemand so war wie er.
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Es war bereits dunkel, als Mathieu das elterliche Haus betrat. Die Grantaines wohnten in einer Siedlung, die fast nur aus schicken Einfamilienhäusern bestand, umgeben von Gärten, abgeschirmt von halbhohen Mauern oder gusseisernen Zäunen, Hecken und Wachhunden. Wer hier wohnte, der ließ es sich etwas kosten und bildete sich viel darauf ein, in dieses Bild der gutbürgerlichen gehobenen Mittelschicht zu passen.
Mathieu fragte sich oft, wenn er seine Nachbarn sah, bei wie vielen dieses Leben eine Fassade war, nur aufrechterhalten durch eisernen Willen und Kredite von der Bank. Man kümmerte sich in dieser Gegend nicht um das Wohl derer, die nebenan wohnten und so wusste auch niemand, was hinter den Mauern der eleganten Villen ablief. Familiengeheimnisse blieben hier geheim.
»Du kommst spät«, schnarrte dem Jugendlichen die Stimme seines Vaters entgegen, als Mathieu seine Jacke an die Garderobe hängte.
»Ja. Ist viel liegen geblieben durch den Ausflug.«
»Zeitverschwendung, dich da mitzuschicken. Derweil hättest du Wichtigeres zu erledigen gehabt als auf Bäume zu klettern. So ein Kindergarten.«
Der Blonde erwiderte nichts. Auguste hatte die ganze Zeit darüber geschimpft, doch andererseits die Teilnahme Mathieus ohne Umschweife bezahlt. Denn so unnötig der Jurist das auch fand, war er gleichzeitig trotzdem der Meinung, dass man keine Gelegenheit auslassen durfte, seine Stellung zu festigen. Dass sein Sohn während der paar Tage nicht als Schulsprecher fungiert hatte, hatte der Junge seinem Vater nicht erzählt. Sonst würde der noch mehr schimpfen.
Mathieu etwas unternehmen zu lassen, einfach damit dieser Spaß hatte, hielt Auguste für sinnlos, denn das brachte ihn nicht weiter. Vergnügungen waren etwas für Celeste, nicht für seinen Sohn und Stammhalter, dessen Misserfolge und Eskapaden eins zu eins auf ihn, Auguste, zurückfallen würden.
»Bin ich zu spät für’s Abendessen?«, fragte Mathieu, um das Thema zu wechseln.
»Nein. Fatma deckt gerade ein«, Monsieur Grantaine nuschelte etwas und der Jugendliche seufzte innerlich. Sein Vater hatte einen stressigen Tag in der Kanzlei gehabt. Stress, den er abends mit nach Hause zu bringen pflegte und dann in einem Drink - oder zehn - zu ertränken versuchte. Nur Mathieu schien sich zu sorgen, dass das zu einem echten Alkoholproblem auswachsen könnte. Über solche Dinge wurde im Hause Grantaine jedoch nicht gesprochen. Hier galt, ein erfolgreicher Geschäftsmann gönnte sich abends einen Drink. Das gehörte zum guten Ton. Solange man dabei hübsch aus einem kristallenen Whiskyglas trank, machte es nichts, wenn man fast eine ganze Flasche leerte, es war immer noch elegant und absolut kein Indiz für eine beginnende Sucht.
Der Junge vermied es, auf das Glas in der Hand seines Vaters zu schauen. Auguste hatte ihm schon einmal deutlich gemacht, dass es ihn nicht interessierte, was Mathieu von Alkohol hielt.
»Gut, dann geh’ ich noch mal kurz auf mein Zimmer und wasch’ mir dann die Hände.«
»Mach’ Hausaufgaben. Halbe Stunde hast du noch.«
Nickend fasste der Jugendliche seinen Rucksack und stieg die mit Teppich bedeckte Treppe nach oben.
»Na, auch da? Du hast echt kein Leben.« Celeste begegnete ihm im oberen Flur und stoppte an ihrer Tür.
»Lass’ mich in Ruhe«, entgegnete Mathieu nur und betrat seinen Raum. Seine Schwester war jedoch nicht in der Stimmung, ihn einfach so allein zu lassen und folgte ihm mit einem Grinsen.
»Och, was hast du denn? Hat dich wieder einer ‚Langweiler’ genannt? Will kein Mädchen mit dir ausgehen? Oder weißt du nicht, wie du Papa erzählen sollst, dass du ein Homo bist?«
Mathieu zog die Augenbraue hoch und drehte sich zu Celeste um. »Sind dir die Nagellackdämpfe zu Kopf gestiegen? Mal dran gedacht, dass ich einer von denen bin, die verantwortlich dafür sind, dass du in zwei Wochen in einem blöden Nuttenkostüm auf eine noch blödere Party gehen kannst? Ich hab ganz andere Dinge zu tun, als über deinen albernen Mädchenkram nachzudenken.« Der Jugendliche setzte sich und strich sich den blonden Pony aus dem Gesicht. »Papa ist schon wieder betrunken«, murmelte er.
Für einen kurzen Moment nur veränderte sich das Gesicht des Mädchens. Auch sie machte sich Sorgen deswegen, doch sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als sich in dieser Sache mit ihrem spießigen Bruder zu verbünden.
»Oh, echt«, sagte sie stattdessen und zwang sich zu einem Grinsen. »Cool, dann werde ich mir mal ein bisschen zusätzliches Taschengeld sichern. Du weißt ja ... Papa und Whiskey bedeutet hundert Euro mehr für Celeste. Neue Schuhe, ich komme!«
Mathieu seufzte leise und schüttelte den Kopf. »Als ob du das bräuchtest. Weder Geld noch noch mehr Schuhe. Du bist so hohl wie eine Kokosnuss. Aber mach, was du willst, solange du mich nur in Ruhe lässt.« Der Junge erhob sich wieder, legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter und schob es rigoros aus seinem Zimmer, bevor er die Tür ins Schloss warf, ohne die Klinke zu benutzen.
Tief durchatmend lehnte er sich an das weiß lackierte Holz und schloss die Augen. Er brauchte eine Pause von all diesem Kram.