»Wo hast du das denn her?« Grinsend drehte Lucien den metallenen Tiegel in den Fingern. Er war bereits angezogen, nur der Mantel lag noch auf dem Bett, und seine Hände steckten in ledernen Motorradhandschuhen, die die Fingerspitzen frei ließen. Die hatte sein Vater ihm gegeben, der am Vormittag nachhause gekommen war, um einen Tag freizumachen, bevor er am Sonntag wieder in die Luft musste.
Etienne, der gerade angekommen war, um seinen Freund abzuholen und seinen zerknitterten, mit Kaffee gefärbten und gehörig mit Kunstblut besudelten Kittel in einer Plastiktüte dabei hatte, lächelte.
»Aus dem Kostümladen. Das ist Gesichtsschwarz. Das nutzen Footballspieler in den USA für ihre Kriegsbemalung. Ich dachte, das könnte man für dich benutzen, damit du gruseliger aussiehst. Wir müssen uns ja eh noch irgendwie ... stylen, finde ich. Oder sehe ich für dich wie ein Dr. Frankenstein aus?«
Lucien musterte den großen Jungen vor sich. Er sah entschieden zu gut aus für einen verrückten Wissenschaftler. Viel zu ordentlich.
»Nein ... deine Haare. Die müssen abstehen. Und wenn man dich am Ende für Einstein hält, ist das auch egal. Aber so siehst du aus wie ... ich weiß nicht ... eine Variation von McDreamy aus Grey’s Anatomy.«
»Nicht meine Absicht«, kicherte Etienne und zog die Jacke aus. Er trug einen alten Anzug darunter, den er sich für einige Euro aus einem Secondhandladen gekauft hatte. Er war etwas abgetragen und zerschlissen und damit genau richtig für seine Zwecke.
»Na zumindest deine Klamotten sind scheußlich. Warte, ich hol etwas Haarspray von meiner Mutter. Ich schätze, wir brauchen alles, was wir kriegen können ...«
Zwanzig Minuten später standen die mausgrauen Haare Etiennes mit Hilfe eines Toupierkammes, Haargel und jeder Menge Spray zu Berge wie bei einer Karikatur eines 80er Jahre-Musikvideos und der Junge lachte bei seinem Anblick herzlich.
»Fass’ das nicht an«, knurrte Lucien und strich sich die eigenen Haare aus dem Gesicht. Zufrieden betrachtete er sein Meisterwerk.
»Hallo, Frankenstein. Hast du noch anderes Make-up besorgt außer der Gesichtsfarbe?«
»Kunstblut. Das andere Zeug kann man für alles nehmen. Ich dachte, wir verteilen das auf und rund um deine Augen? Verreiben das ein bisschen für nen Übergang.«
Lucien nickte und ließ nun wiederum seinen Freund machen.
»Whoa. Echt abgefahren«, befand Etienne einige Minuten später und wischte sich die restliche schwarze Paste von den Fingern. »Das kommt irre gut mit deiner Augenfarbe.«
Der Rothaarige schaute in den Spiegel und grinste. »Super.« Lässig zog er eine verspiegelte Sonnenbrille aus einer Schublade und setzte sie auf.
»Ich würde sagen, lass’ uns den Laden mal aufmischen, Professor!«
Die beiden waren fast an der Wohnungstür, als Gregoire Walace in den Flur kam.
»Oha, Jungs. Na damit werdet ihr Eindruck machen ... was hast du denn da im Gesicht?« Er beugte sich etwas zu seinem Sohn, der inzwischen beinahe so groß war wie er selbst.
»Cool, huh?«
»Total. Und die Handschuhe erst ... und«, der Mann lachte, »war doch gut, Papas alten Kram nicht zu entsorgen. Der Mantel steht dir gut. Soll ich euch Zwei vielleicht an der Schule absetzen? Ich wollte noch mal zum Supermarkt. Das liegt auf dem Weg. Es soll Regen geben ... der ruiniert sowohl Frisur als auch Todessense.« Gregoire schaute zwischen Etienne und Lucien hin und her.
»Klar.«
.
»Du siehst aus wie ein Bestatter!«, feixte Celeste, als Mathieu die Treppe in den Eingangsflur der Villa herunterkam. Er hatte Anais’ Vorschlag befolgt und seinen Anzug angezogen, um nicht völlig wie er selbst auszusehen.
Der blonde Junge musterte seine Schwester, die ein gewagt kurzes und zerfleddertes Kleidchen mit einem Korsett und zerrissenen Strumpfhosen trug. Ein alberner, aber keck wirkender Spitzhut saß auf ihren wild toupierten Haaren und ihr Make-up war übertrieben und grotesk.
»Und du wie eine Nutte. Was sollst du darstellen?«
»Ich bin eine sexy Hexy«, grinste Celeste und wackelte mit den Hüften.
»Hat Papa dich schon so gesehen? Mit diesem Schnellficker-Röckchen lässt er dich bestimmt nicht gehen!«
»Papa ist noch im Büro und Maman findet es schick. Also brauchst du dich gar nicht so aufzuregen, du Moralapostel. Du träumst doch davon, mal an ein Mädchen ranzukommen, das sich so anzieht. Alles, was du kriegst, sind die Hausmütterchen, wie Anais, wo du dich vermutlich durch fünf Lagen Oma-Unterwäsche wühlen musst.«
»Na wenn du das sagst, wer bin ich, zu widersprechen«, gab der Blonde nur zurück und schüttelte den Kopf.
»Echt mal. Bist du dumm?«
»Was hab ich jetzt wieder getan?« Mathieu zog eine Augenbraue hoch und drehte sich zu Celeste um.
»Diese Schnarchtablette von Tussi Anais ist vermutlich die Einzige an der Schule, die dich ranlassen würde, aber du checkst es nicht mal, oder?«
Der Jugendliche räusperte sich. »Nicht jeder hat nur Dates und Jungs und Sex im Kopf, Schwesterchen. Ich habe ein paar wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern muss. Also halt’ deinen Mund, wenn du dich nicht gewählter ausdrücken kannst.«
Das blonde Mädchen lachte. »Du hast Jungs im Kopf? Haha, Schwuchtel!«
»Gott, wo warst du nur, als das Hirn verteilt wurde?«, murmelte Mathieu.
»Ich bin eine Frau, du Trottel. Eine, die gut aussieht. Alles, was ich will, kriege ich von Männern, die dumm genug sind, mir zu geben, was ich möchte. Hast du noch nicht gecheckt, wie das läuft?«
Der Blonde musterte sie einen Moment. »Ich erinnere dich daran, wenn du das nächste Mal wie ein Hund, der mit dem Schwanz wedelt, vor Lucien stehst und dir einen Korb einfängst. Da zeigt sich dann nämlich, wer etwas von wem bekommt oder auch nicht. Und wer wem nachläuft.«
Celeste errötete unter ihrem skandalösen Make-up etwas und verzog die angemalten Lippen.
»Lucien ist ...«
»Ja, ich weiß. Er ziert sich nur«, seufzte Mathieu und schenkte seiner Schwester ein mitleidiges Lächeln. »Aber ich sag dir was: Der letzte Mensch auf Erden, dem je etwas peinlich ist, ist Lucien Walace. Also wenn er dein Angebot nicht annimmt, dann, sorry, dann will er dich einfach nicht. Egal wie sehr du deine Reize präsentierst.«
Das blonde Mädchen verengte die Augen zu Schlitzen und fauchte: »Nur weil du vielleicht scharf auf ihn bist, du kleine Schwuchtel, und bei ihm abblitzt, heißt das noch gar nichts. Du kennst ihn doch gar nicht, du hängst ja nur in deinem stickigen Kabuff rum und hast keine Freunde. Also halt’ die Klappe von Sachen, die du nicht verstehst. Beschaff’ dir mal ein eigenes Leben und lass’ meins in Ruhe. Ich gebe nicht auf, und wenn es bis zum Schulabschluss und länger dauert! Irgendwann wird er schon sehen, was er an mir hat!« Sie packte ihr Täschchen und stöckelte hocherhobenen Hauptes an Mathieu vorbei, warf ihm einen letzten bissigen Blick zu und schlug die Haustür hinter sich zu. Draußen hatte es soeben gehupt, ihre Freundinnen Margerite und Nguyen hatten sich eine Mitfahrgelegenheit zur Schule organisiert.
Der Junge blickte einen Moment stumm auf die Türe. Irgendwann ... Ihm fiel das ärztliche Attest wieder ein, das über Luciens Gesundheitszustand Auskunft gab. Wenn Celeste sich mit ihrer Prognose mal nicht täuschte. Sie meinte vielleicht, unendlich viel Zeit zu haben, um ihn in sich verliebt zu machen, doch Lucien hatte keine mehr.
Plötzlich machten seine Worte für Mathieu Sinn. Dieses Gerede darüber, dass man nichts im Leben kontrollieren konnte, egal wie sehr man es versuchte. Lucien hatte über seine Erkrankung gesprochen und er, Mathieu, hatte es nicht verstanden, denn er hatte ja nichts gewusst.
Ihm kamen alle diese kleinen Momente wieder ins Gedächtnis: Lucien, der von Ikarus sprach. Der mit dem Brustton der Überzeugung gesagt hatte, er würde den Tod nicht fürchten. Der still wurde, als das Thema Zukunftspläne aufgekommen war. Der trotz seiner Fitness unter der Belastung zusammengebrochen war, ständig schlimme Schmerzen hatte und nicht wollte, dass man ihm Fragen stellte.
Der arrogante Lucien, der nach all den Jahren, in denen er Mathieu bis zur Weißglut gepiesackt hatte, plötzlich anfing, nett zu ihm sein. Als würde er etwas wiedergutmachen wollen.
»Viel Glück dabei«, murmelte der Blonde als verspätete Antwort auf Celestes Ausbruch. Der Rothaarige würde sich nie auf sie einlassen, aber wenn sie es auf die harte Tour lernen musste, dann sollte das eben so sein.
Mathieus ohnehin geringe Lust auf die Party war vollkommen verflogen, als er seine Jacke vom Haken nahm.
»Mathieu, Schatz?«, hielt ihn seine Mutter auf, als er gerade das Haus verlassen wollte.
»Ja, Maman?«
Die blonde Frau, die wie eine ältere Ausgabe von Celeste aussah, musterte ihn. »Nanu, du bist ja gar nicht verkleidet.« Sie klang überrascht und der Junge seufzte innerlich. Siebzehn Jahre war er inzwischen alt und seine Mutter wusste immer noch nicht, dass er nicht auf Kostümierungen stand.
»Doch, im Grunde schon. Ich trag’ immerhin einen Anzug«, murmelte er, »und nicht meine normalen Sachen.«
»Aber das ist doch keine Verkleidung, Schatz. Das ist doch eine Halloweenparty. Willst du denn keinen Spaß haben?«
»Erstens kann ich den auch ohne Kostüm haben und zweitens bin ich zum Aufpassen da. Ich hab die Aufsicht. Deswegen muss ich jetzt auch los, Maman. Wolltest du was bestimmtes?«
Madame Grantaine betrachtete ihren Sohn einen Moment. Sie schien abzuwägen, ob sie stolz auf sein Verantwortungsbewusstsein sein sollte oder sich Sorgen machen, weil er sich nicht so verhielt, wie Jungen in seinem Alter das normalerweise taten.
»Ah, hab’ ein Auge auf deine Schwester. Nicht dass noch irgendein Dahergelaufener meint, sich an sie heranzumachen, weil sie so angezogen ist.«
»Wenn das deine Sorge ist, hättest du ihr das vielleicht nicht erlauben sollen. Außerdem glaube ich, dass ihr Mundwerk die Jungs schon von allein fernhält. Und ich passe doch immer auf sie auf.« Mathieu brummte leise. Seit sie laufen konnte, hatte er die Aufsicht über Celeste und bekam auch immer den Ärger, wenn sie sich etwas tat. Das war einer der Gründe gewesen, warum er im Kindergarten eine Phase gehabt hatte, in der er sie gepiesackt hatte. Immer auf sie aufpassen zu müssen, hatte ihn genervt.
»Gut. Und sieh’ zu, dass sie in einem Stück nach Hause kommt. Um spätestens halb eins ist sie wieder hier, hast du gehört? Wenn die Party bis Mitternacht geht, ist das zu schaffen. Keine Ausreden!«
»Hast du ihr das auch gesagt oder überlässt du es mir, ihr das zu verklickern? Du weißt schon, dass sie in letzter Zeit nicht so wirklich auf das hört, was ich sage, ja?«
Die blonde Frau nickte. »Sie weiß das auch. Und es setzt Hausarrest, wenn sie zu spät kommt. Ich sage es nur dir, weil ich weiß, dass du dich daran hältst, was dein Vater und ich sagen ...«
Mathieu verzog den Mund. Natürlich. Er war das folgsame Kind, das, was sich nie auflehnte und immer hübsch Ja sagte. Lucien hatte Recht. Er war ein Spießer und ein regeltreuer Langweiler.
»Okay«, sagte er jedoch laut und öffnete die Haustür. Ein kühler Windzug wehte ihm ins Gesicht und es roch nach Regen. Blätterrascheln war zu hören und es war bereits fast vollkommen dunkel, dabei war es erst kurz nach Sieben. Der Herbst war da und hatte den Tagen die Helligkeit genommen.
Fröstelnd zog Mathieu sein Fahrrad aus der Garage und schlug den Kragen seiner Jacke hoch, bevor er die Straße betrat und sich auf den Weg zur Schule machte.
Es hatten sich bereits einige Schüler zusammengefunden, die auf dem Hof in Trauben beisammen standen oder im Flur des etwas wärmeren Gebäudes Schutz suchten. Der Wind war in den paar Minuten, die Mathieu für den Weg gebraucht hatte, deutlich aufgefrischt und man spürte immer wieder winzige Wassertropfen darin.
Gemütliches Wetter hatten sie sich für den Abend der Party ausgesucht, das stand fest.
Der Schulsprecher verstaute sein Rad bei den Unterständen und es wunderte ihn nicht, dort, an ihrer üblichen Bank, Lucien und seinen besten Freund Etienne hocken zu sehen. Der Rothaarige war so dunkel angezogen, dass Mathieu ihn kaum hätte erkennen können, wenn nicht das Glimmen seiner Zigarette immer wieder sein Gesicht erhellt hätte. Lucien trug eine Sonnenbrille, was bei der Dunkelheit des Abends übertrieben wirkte, aber gleichzeitig stand es ihm und gehörte offensichtlich zu seiner Verkleidung. Was er darstellen sollte, konnte der Blonde jedoch ebenfalls nicht sagen. Es war zu dunkel und er würde es noch früh genug erfahren.
Er hoffte nur, er würde an sich halten können und dem Rothaarigen nicht sofort ins Gesicht sagen, dass er sein Geheimnis kannte. Mathieu glaubte zu wissen, dass Lucien nicht wollte, dass er es wusste. Sonst hätte er es ihm selbst gesagt, denn Gelegenheiten dazu gab es reichlich. Der Schulsprecher schämte sich noch immer dafür, dass er die vertraulichen Unterlagen gelesen hatte. Das war eigentlich auch ihm untersagt, trotz seines Postens.
»Salut«, rief er den beiden Jungen deswegen nur zu und beeilte sich, durch einen Seiteneingang in die Schule zu kommen, bevor ihn irgendeiner der anderen Schüler sehen und mit Fragen löchern konnte.
Im Zimmer der Schülervertretung traf er auf Anais, die sich einige Luftballongeister unter den Arm geklemmt hatte.
»Hallo«, begrüßte der Junge sie und sie drehte sich herum. Nachdem sie ihn gemustert hatte, lächelte sie leicht.
»Der Anzug sieht gut aus ...«, murmelte sie.
Mathieu hängte seine Jacke auf, die er im Gebäude nicht brauchen würde. Er betrachtete sie und nickte. »Dein Kleid auch.« Anais hatte ein kleines Tiara aus Plastik auf dem frisierten nussbraunen Haar und trug ein hellblaues Seidenkleid mit goldenen Stickereien. Es war ganz eindeutig ein Prinzessinnenkostüm, nichts wirklich Aufwändiges oder Teures, aber nett anzusehen. Nur nicht gruselig.
»Wir haben beide das Horrorthema verfehlt, glaube ich«, kicherte der Schulsprecher. »Ist was mit den Geistern?« Er deutete auf die Deko in ihren Armen.
»Oh, nein. Ich wollte sie nur noch in der Turnhalle aufhängen gehen. Hier im Zimmer brauchen wir die ja nicht.«
»Ja, stimmt. Komm, gib her, ich geh’ eh rüber, da kann ich die gleich mitnehmen. Kannst du noch mal schauen, ob wir genug Pappgeschirr haben?«
Anais nickte und Mathieu wandte sich um, um den Raum zu verlassen, als ihm jemand den Weg versperrte und er dagegen prallte. Der vertraute Geruch verriet ihm erneut, wer es war, doch bevor er etwas sagen konnte, ertönte ein lauter Knall und mit einem Zischen schrumpelte eines der Luftballongespenster in den Armen Mathieus zu einem kläglichen Stoffbündel zusammen.
»Oops. Das war mein erstes Opfer heute Abend.« Lucien lachte und der Schulsprecher hatte nun genug Licht, um den Rothaarigen und Etienne, der etwas hinter ihm stand, besser zu sehen. Lucien hatte seine verspiegelte Sonnenbrille auf die Stirn geschoben und seine Augen waren mit schwarzer Farbe dunkel angemalt, wie die tiefen Höhlen eines Totenschädels.
Es berührte Mathieu sonderbar, ihn so zu sehen und er verzog den Mund, als er sich räusperte.
»Du bist ... der Tod?!«
»In cool. Und du? Bist ein Steuerberater?«
Die beiden Jungen sahen einander in die Augen und ganz automatisch zeigte sich ein Lächeln auf ihrer beider Gesichter, ein Moment, den niemand außer ihnen bemerkte.