Der blonde Jugendliche biss die Zähne zusammen und machte ein paar Schritte, bereit, Celeste notfalls vor allen für ihren Egoismus niederzumachen, doch er kam nicht weit.
»Mathieu, gehst du schon?«
Anais war im Sichtfeld des Schulsprechers aufgetaucht und er schluckte die zynische Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Das Mädchen hatte seinen Groll nicht verdient, denn sie war es nicht, die ihm auf der Nase herumtanzte.
»Nein«, knurrte er deswegen zerknirscht, »Also noch nicht ganz. Madame kommt nicht aus dem Knick!«
Mathieu deutete auf Celeste, die ganz offensichtlich über ihren Bruder herzog. Das machte den Jugendlichen so wütend, dass er ihr am liebsten ein paar gescheuert hätte. Aber er wusste, wenn er dies täte, würde sein Vater zuhause das Gleiche mit ihm machen und Auguste hatte mehr Kraft als man ihm ansah. Stattdessen wandte der Junge seinen Blick Anais zu, die in ihrem schimmernden Prinzessinnenkleid vor ihm stand und ihn besorgt musterte. Ihre Wangen waren gerötet und ihre schlichte Frisur etwas in Unordnung, als hätte sie getanzt und dabei großen Spaß gehabt. Mathieu fand, dass sie hübsch aussah.
»Du ... du bist klitschnass«, murmelte das Mädchen und befühlte das Jackett des Blonden mit den Fingerspitzen. »Und dir ist bestimmt kalt. Deine Schwester ist ein Biest.« Anais machte große Augen und errötete. Sie war eigentlich viel zu scheu, um solche Dinge laut auszusprechen, doch Mathieu lachte nur leise.
»Du hast ja keine Ahnung, wie Recht du damit hast.«
»Es ist schade, dass du schon gehen musst. Ich dachte, wir würden noch ein bisschen ... na ja ... Zeit verbringen, wenn wir unsere Aufgaben erledigt haben.«
»Ist doch immer so. Kommt immer etwas dazwischen«, sagte der Schulsprecher leise. Er bereute nicht, warum er nass geworden war.
Anais nickte. »Dann sieh’ mal zu, dass du heim kommst, sonst wirst du noch krank.« Sie wandte sich etwas ab und winkte ihm dann mit einem Lächeln zu, bevor sie zu Violette und Josephine zurückkehrte, die Abstand gehalten hatten. Die Mädels kicherten, als Anais wieder bei ihnen war und sie steckten die Köpfe zusammen.
Mathieu betrachtete das einen Moment irritiert. Mädchen waren ihm ein Rätsel.
Der Jugendliche straffte die Schultern und wandte sich zu Celeste und ihren aufgestrapsten Freundinnen um, die kicherten, als er sich näherte.
»Oooooh, dein böser großer Bruder kommt«, flötete Nguyen, die kleine Chinesin. Sie machte den Eindruck, als wäre sie beschwipst, dabei waren die Getränke für die Schüler alle alkoholfrei. Mathieu kniff die Augen zusammen.
»Mach’ den Mund zu. Und du«, er funkelte seine Schwester an, »bewegst jetzt deinen Arsch. Du hättest schon vor zehn Minuten fertig sein sollen, anstatt hier weiter Primadonna zu spielen.«
»Och, sah so aus, als hättest du Spaß gehabt mit deiner kleinen Freundin. Freu’ dich lieber, vielleicht verlierst du ja deine Jungfräulichkeit doch noch, bevor du vierzig bist«, lachte das blonde Mädchen gehässig.
»Und du hättest mal lieber die Klappe gehalten, oder besser deine Beine, dann hättest du deine vielleicht noch. Beweg’ dich endlich, mir ist kalt und ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen!« Mathieu packte Celeste am Arm und zog sie mit sich, taub für ihren Protest.
Draußen angekommen starrte er sie in Grund und Boden. Der Schulsprecher mochte nicht so groß sein wie Lucien oder gar Etienne, der alle überragte, doch er maß einige Zentimeter mehr als seine Schwester, so dass sie zu ihm aufsehen musste.
»Wie kannst du es wagen, mich da drin vor allen als eine Nutte zu bezeichnen?!«, fauchte sie ihn an und schlug ihn mit ihrem Täschchen.
»Habe ich das getan? Wenn du denkst, es schon mal gemacht zu haben, macht dich zu einer Hure, dann hast du ein Problem mit deiner Sicht auf Frauen. Nicht ich. Jungfräuliche Jungs gelten als Loser, nicht jungfräuliche Mädchen als Nutten? Vielleicht solltet ihr Mädels zuerst bei euch selbst anfangen, bevor ihr von allen anderen verlangt, euch gleich zu behandeln.« Der Jugendliche schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung, während seine Schwester ihm widerwillig folgte. Sie hatte sich Mathieus Jacke übergeworfen und hielt sie wie einen Schirm über sich. Eine eigene hatte sie nicht dabei, denn sie war ja mit dem Auto gekommen.
»Wie kommst du darauf? Ich hab’s noch nie gemacht, du Opfer. Ich warte ...«
Mathieu löste sein Fahrrad vom Unterstand und hielt es fest, damit Celeste auf den Gepäckträger klettern konnte.
»Auf?«
»Lucien natürlich! Er ist perfekt, sexy, wild. Und er hat Erfahrung.«
»Na wenn du das sagst. Und er weiß das auch? Wenn du auf ihn wartest, bist du es vielleicht, die mit Vierzig noch nie Sex hatte ...« Der Blonde vermied es, seiner Schwester zu verraten, dass ihr Angebeteter noch Jungfrau war. Mathieu fand, es stand ihm nicht zu, Luciens anderes Geheimnis zu lüften. Celeste würde es in Windeseile herumerzählen.
»Er wird es schon noch eines Tages begreifen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
»So oft, bis ich es glaube«, murmelte der Jugendliche und stieg auf das Rad. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was mit seiner Schwester geschehen würde, wenn Luciens Zeit abgelaufen war. Eigentlich wollte er überhaupt nicht darüber nachdenken. Sie waren noch viel zu jung, um sich über das Ende ihres Lebens Gedanken zu machen.
Mathieu schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und setzte das Fahrrad in Bewegung.
»Das ist soooo peinlich. Hättest du uns nicht ein Taxi bestellen können?«, rief Celeste gegen den Fahrtwind an, der Regentropfen mit sich brachte und sie zwang, den Kopf gesenkt zu halten, um sich ihr Makeup nicht zu ruinieren.
»Klar. Hast du genug Geld dabei, um eines zu bezahlen? Ich nämlich nicht«, knurrte der Blonde und trat in die Pedale. Dachte seine Hohlbirne von Schwester vielleicht, ihm machte das hier Spaß? Durch den Regen zu radeln mit fünfzig Kilo Extragewicht auf dem Gepäckträger? Wo sich unter seinen pitschnassen Klamotten das Regenwasser ohnehin schon widerlich mit seinem Schweiß zu vermischen begann und er nur noch angewidert war von allem?
Celeste schwieg den Rest des Weges eingeschnappt und sprang, als sie auf dem elterlichen Grundstück ankamen, ohne ein Dankeschön vom Rad und marschierte ins Haus. Nicht einmal die Tür ließ sie für ihren Bruder offen, der sein Gefährt in die Garage schob und ihr dann erst folgte.
Im Flur rempelte er fast in Celeste, die mitten im Weg stand. Verwundert hob Mathieu den Kopf und entdeckte seinen Vater an der Tür, die in den großzügigen Wohnsalon führte. Er hatte ein Glas in der Hand und sah wütend aus.
»Ah und der Herr kommt auch und sieht aus wie Scheiße«, schnarrte Auguste und betrachtete missbilligend Mathieus pitschnasse Kleidung. »Meine Tochter rennt rum wie ein Flittchen von der Straße und ... mein Sohn ruiniert einen 500-Euro-Anzug durch Regenwasser, weil er ein Idiot ist!« Das Lallen in der Stimme ihres Vaters war beiden Jugendlichen aufgefallen und sie warfen sich einen Blick zu, der nur zu deutlich machte, wie überfordert sie waren, wenn ihr Papa so viel getrunken hatte, dass er begann, sie zu beschimpfen.
»Was glotzt ihr euch so an? Hää? Habt ihr mir was zu sagen? Eine kleine Nutte und ein nichtsnutziger Schwachkopf ...«
Celeste schluchzte, machte kehrt und rannte die Treppe hinauf. Auguste vergötterte seine Tochter und sie war es nicht gewöhnt, von ihm so herbe beleidigt zu werden. Das traf sie hart.
»Ja, scher’ dich ja auf dein Zimmer, Fräulein. Wasch’ dir den Dreck aus dem Gesicht und zieh’ dich ordentlich an. Noch einmal so ein ... Bumsröckchen und du kannst was erleben! Meine Tochter ist keine verdammte Hure!«, brüllte Monsieur Grantaine ihr nach und rief damit schließlich auch seine Frau auf den Plan, die erschrocken über das Geschrei aus der Küchentür kam, die in den Flur hin öffnete. Sie bemerkte gerade noch, wie Celeste am Treppenabsatz verschwand und sah dann ihren Gatten an.
»Hast du davon gewusst, Annette? Dass unsere Tochter sich so anzieht und so vor die Tür geht?!«
»Ja, mon cheri. Es war für eine Faschingsfeier. Ich dachte mir nichts dabei.« Sie knetete das Geschirrtuch in den Händen. Es kam selten vor, dass Madame Grantaine selbst etwas in der Küche erledigte, doch manchmal flüchtete sie regelrecht in diesen Raum, wenn ihr Mann einen harten Tag gehabt hatte und bereits vor dem Abendessen zu trinken begann.
»Und er?!«, keifte Auguste weiter und zeigte auf Mathieu. »Dass er seinen besten Anzug versaut, hast du das auch gewusst? Ihr verdammte Bande glaubt wohl auch, ich scheiße das Geld oder was?«
»Es ist nur Regenwasser, Papa«, warf Mathieu zaghaft ein, doch sein Vater fuhr ihm mit einer wegwerfenden Handbewegung über den Mund.
»Und ich bezahle die Reinigung? Vergiss’ es, du Idiot. Das zahlst du schön selbst. Du meinst, du kannst ihn zu einer affigen Schulveranstaltung tragen, dann trage die Konsequenzen dafür. Und jetzt verschwindet mir alle aus den Augen. Ich brauch einen Drink«, mit den letzten gemurmelten Worten zog sich Auguste wankend in den Salon zurück und sowohl Annette als auch Mathieu entspannten sich sichtlich.
Madame Grantaine lächelte. »War der Abend ansonsten wenigstens nett?«
Der Jugendliche zuckte die Schultern und traute sich erst jetzt, seine nassen Schuhe auszuziehen. »Ja, war wohl ganz okay. Bis auf den Regen ...«
»Häng’ den Anzug ins Bad. Ich nehme ihn dann mit in die Reinigung.«
»Okay«, mit den Schuhen in den Händen stieg Mathieu ebenfalls die Treppe hinauf und seufzte, als er oben angekommen war. Die Trinkerei seines Vaters wurde immer schlimmer. Im Job funktionierte er ausgezeichnet, ohne einen einzigen Tropfen, doch kaum war er zuhause, konnte er nicht an sich halten. Als würde ihn sein Privatleben, seine Familie, so ankotzen, dass er sie nur betrunken ertragen konnte. Doch nach außen hin musste alles perfekt sein. Perfekter Job, perfektes Haus, perfekte Ehefrau, perfekte Kinder. Kein Makel durfte darauf fallen, egal ob es ein Kratzer im Lack des Familienautos war oder irgendeine unbedachte Handlung seitens der beiden Teenager, und wenn es nur unpassende Kleidung war. Alles hatte zu funktionieren. Wie ein Uhrwerk.
Mathieu fand das Badezimmer, das er sich mit Celeste teilte, leer vor und entledigte sich seiner Klamotten. Erleichtert, endlich den schweren und nassen Stoff los zu sein, stellte er die Dusche an. Allmählich glaubte er, sich selbst zu riechen und zu stinken wie ein Schafhirte. Die Kälte in seinen Extremitäten war inzwischen zu einem unangenehmen Kribbeln und Stechen geworden und als er unter das heiße Wasser stieg, keuchte er auf, bis er sich schließlich entspannte. Er zwang sich, nicht über seinen Vater nachzudenken und sich zehn Minuten mal keine Sorgen um seine Familie zu machen, sondern nur zu genießen, ganz egoistisch.
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»Hey, ist alles in Ordnung?«, Mathieu klopfte eine Viertelstunde später, in trockenen Sportsachen, an die Tür seiner Schwester und öffnete sie schließlich. Celeste saß auf dem Boden vor ihrem Bett, auf einem plüschigen Flokati-Teppich, die Beine an die Brust gezogen und antwortete nicht. Sie hatte sich weder umgezogen noch abgeschminkt. Nur ihre unbequemen High Heels hatte sie in die Ecke geworfen.
»Hey«, der Blonde hockte sich neben sie.
»Ich hasse es, wenn er so ist«, murmelte das Mädchen. Sie hatte geweint, ihr Makeup hatte deutliche Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen, die nicht vom Regen stammten.
»Frag’ mich mal.«
»Dich hat er nicht ‚Nutte’ genannt ...«
Mathieu ließ den Blick über ihre Klamotten wandern und Celeste machte ein unwirsches Geräusch.
»Ach, hör’ doch auf. Das ist ein Kostüm. Es sollte doch Spaß machen. Was ich trage, sagt doch nichts darüber aus, wer oder was ich bin.«
»Nein. Aber Papa ist in den Fünfzigern hängen geblieben. Damals war es doch sogar noch verpönt, wenn eine Frau Hosen getragen hat.«
»Da war er noch nicht einmal geboren! Mon dieu, wenn er denkt, dass ich in Zukunft so altbacken herumrenne wie deine Anais, dann hat er sich aber geschnitten! Ich verstecke meine gute Figur nicht, nur damit er sich besser fühlt!« Das Mädchen zog die Nase hoch und wischte sich ihre blauen Augen trocken. Dass sie dabei den Rest ihres Mascaras verschmierte, interessierte niemanden.
»Gute Einstellung. Denke ich. Geh’ unter die Dusche. Sonst holst du dir den Tod.« Mathieu drückte seiner Schwester einen Moment die Hand und stand wieder auf. Sie sah ihm nach, schwieg aber. Der Junge hatte allerdings auch nichts anderes erwartet.
Celeste und er waren indirekt von den Eltern so sehr zur Rivalität gedrillt worden, dass es ihnen schwer fiel, nett oder liebevoll zueinander zu sein. Mathieu hatte von klein auf mit seiner Schwester um die Gunst des Vaters buhlen müssen und doch immer den Kürzeren gezogen. Auch seine Maman hatte, vermutlich viel unbewusster als Auguste, immer ihre Tochter bevorzugt, vielleicht weil es ihr leichter fiel, sich mit ihr zu identifizieren. Die beiden waren vom gleichen Schlag - körper- und modebewusst, eitel, ehrgeizig einzig dabei, die Hübscheste zu sein, vielleicht auch ein wenig oberflächlich, aber ganz sicher nicht dumm. Vielmehr klug genug, um sich geschickt dumm zu stellen, weil es half, das zu kleine oder zu große Ego eines Mannes zu manipulieren, um das zu bekommen, was man haben wollte. Frauen wie Mathieus Mutter waren oftmals die wahren Denker hinter ‚großen Männern’, die Bestätigung mehr als alles andere auf der Welt brauchten und verlangten und die es liebten, für irgendjemanden den Helden zu spielen.
Doch Annette Grantaine war keine solche Frau, sie hatte gar keine Chance dazu. Sie stand hinter ihrem Mann, weil dieser noch stärker war und niemanden neben sich auf dem Siegertreppchen duldete. Erst recht nicht seinen Sohn, egal wie sehr dieser sich anstrengte, um nur eine Ahnung, eine Andeutung seines Vaters zu bekommen, dass oder vielmehr ob dieser ihn liebte. Denn Mathieu hatte lange nicht mehr das Gefühl gehabt, dass es so war.
Seufzend setzte der Jugendliche sich auf sein Bett. In einer Familie voller Manipulatoren und geschickter Strippenzieher schien er der Einzige zu sein, der rein aus für ihn moralisch vertretbaren Motiven heraus handelte. Er würde niemals lügen, um irgendetwas zu erreichen, er würde niemanden ausnutzen, der sich verzweifelt nach Aufmerksamkeit sehnte und er würde, anders als sein Vater, nicht über Leichen gehen, um einem Klienten, der mit unsauberen Mitteln spielte, zum Sieg zu verhelfen.
Der Junge wusste, was sein Papa ihm sagen würde, wenn er das laut aussprechen würde: »Moral, mein Sohn, muss man sich leisten können!«
Doch Mathieu sah das anders. Anstand war das Einzige, was es umsonst gab. Dafür musste man nichts tun, man brauchte nur etwas Empathie und gesunden Menschenverstand.
Er murrte und ließ sich nach hinten fallen. Er war zu jung, zu kaputt und eindeutig viel zu müde, um jetzt über solche Dinge nachzudenken.