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MARIE
Wieder zurück am Anfang vom Ende
Unwillkürlich denke ich an diesen Tag zurück. Bei dem Anblick von Tobias, kann ich nicht anders, als daran zurückzudenken. Er hat mir mein Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich tot. Was ich auch sein wollte, als ich erfahren habe, dass Alina es nicht geschafft hat. Der Lenker des Lastwagens hatte einfach einen Moment nicht aufgepasst. Er hatte einfach seine Augen zugemacht. Er hat einfach zu viel getrunken. Und hatte uns einfach gerammt. Hat mir einfach meine beste Freundin damit genommen.
Und nun sitze ich hier. Blicke auf Tobias, der so blass aussieht. Ich habe so unendliche Angst ihn zu verlieren. Wäre er nicht gewesen, dann hätte ich damals aufgegeben. Ich hätte nicht versucht zu kämpfen. Aber er war da. Er war jeden Tag da. Er war an meinem Krankenbett. Er war bei mir, als ich ihn gebraucht habe. Zuerst war er mein Freund. Er wurde zu meinem besten Freund. Und jetzt ist er mein Weggefährte. Mein Leben. Meine Liebe.
Ich flüstere leise Worte in sein Ohr, bevor ich erneut über seine Finger streiche und meinen Kopf neben ihm auf das Bett lege.
„Tobias. Du musst zu mir zurückkommen. Du wirst wieder gesund.“
Ich weiß nicht wie lange ich schon hier bin, aber als ich eine tiefe Stimme höre, zucke ich zusammen und blicke in das Gesicht eines schlanken, großgewachsenen Mannes, mit einem weißen Kittel und einer Brille auf der Nase. Er spricht leise, so als wolle er niemanden wecken. Was vollkommen widersprüchlich ist, da ja Tobias eigentlich aufwachen sollte. Er sollte bald die Augen öffnen und wieder bei mir sein.
„Miss Benson. Ich bin Doktor Navajo. Haben sie eine Minute Zeit? Ich möchte gerne mit ihnen über den Zustand von Mister Lloyd sprechen.“
Ich nicke und lasse nur ungern Tobias Hand los, um ihm nach draußen zu folgen. Dort angekommen, schließe ich leise die Tür und mache mich für die Worte bereit, die er mir gleich sagen wird.
„Wollen sie sich setzen?“
Er deutet mit seiner Hand auf einen freien Stuhl, der einige Meter neben der Tür steht. Doch ich schüttle meinen Kopf. Ich will nicht weiter weg von Tobias, als nötig.
„Also Gut.“
Er scheint für einen Moment die richtigen Worte zu suchen und blickt für einen zu langen Moment auf die Tür, hinter der sich Tobias befindet. Er macht mir, ohne es zu wollen Angst.
„Bitte Mister Navajo. Sagen sie es einfach. Sagen sie mir einfach, was los ist. Bitte.“
„Der Zustand von Mister Lloyd ist sehr kritisch. Er hat so viele Verletzungen, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Bitte Miss Benson verstehen sie mich nicht falsch, aber eigentlich dürfte er gar nicht mehr atmen. Er hat einen Lungenriss. Mehrere Rippenbrüche. Sein Kiefer ist gebrochen. Seine Nase ebenfalls. Er hatte so viele innere Verletzungen und soviel Blut verloren, dass ich nicht mehr daran geglaubt habe, dass er überleben wird.“
Tränen schießen aus meinen Augen. Ein leises Schluchzen kommt über meine Lippen und bevor meine Knie auf dem Boden ankommen, werde ich von zwei Händen an meiner Hüfte gepackt und gestützt. Thomas ist neben mir.
„Aber Miss Benson. Er lebt. Ich habe so etwas noch nie gesehen und ich muss sagen, es grenzt an ein Wunder. Er kämpft.“
Ein kleiner Hoffnungsschimmer schleicht sich in meinen Kopf. Er kämpft. Er wird überleben. Er muss.
„Also kann er wieder ganz gesund werden?“
Die Hoffnung, die dabei in meiner Stimme mitschwingt, ist wohl kaum zu überhören. Doch als ich Doktor Navajo`s Reaktion auf diese Hoffnung sehe, weiß ich, dass etwas dennoch nicht stimmt.
„Er kann, wenn alles ohne Komplikationen weiter verläuft und er aufwacht, wieder ein Leben führen. Jedoch wird er auf einen Rollstuhl angewiesen sein.“
Da ist es. Dieses verdammte Böse, dass sich nach jedem, aber oder dennoch einschleicht und mit einem Mal alles zerstört. Dir den Boden unter den Füßen wegreißt. Dich vollkommen alleine zurücklässt. Doch da ist auch diese Hoffnung. Ich habe ihn wieder. Ich kann ihn wieder haben. Kann mit ihm meine Zukunft verbringen. Er ist noch immer er.
****
Genau diese Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft lässt mich weiter auf meinen Beinen stehen. Lässt mich die nächsten Tage überleben. Auch, wenn ich nur auf Sparflamme funktioniere. Die ersten zwei Tage bin ich gar nicht nach Hause gefahren. Ich habe jede einzelne Minute an seinem Bett verbracht. Dann ist Thomas, so wie jeden Tag aufgetaucht und hatte meine Mum im Schlepptau. Sie hat mich mit diesem Blick, den nur eine Mutter haben kann, dazu gezwungen mit ihr nach Hause zu fahren. Thomas hat mir versprochen, dass er bei ihm bleiben wird, während ich weg bin und mir sofort Bescheid gibt, wenn er seine Augen öffnet.
Jetzt bin ich frisch geduscht und auf dem Weg zu Tobias, als ich von einer laufenden Krankenschwester überholt werde. Zuerst denke ich mir nichts dabei, doch dann sehe ich, wie sie auf die Tür, die in Tobias Zimmer führt, zuläuft. Die Panik, lässt meine Füße schneller werden. Sie lässt auch mein Herz schneller schlagen. Ich habe nur einen Gedanken in meinem Kopf. TOBIAS.
Atemlos öffne ich die Tür und mache mich für das Schlimmste bereit. Doch mit dem, was ich sehe, habe ich nicht gerechnet. Ich habe gehofft. Ja. Aber ich habe mir nicht annähernd vorstellen können, welche Gefühle ich dabei fühlen werde. Seine Augen betrachten mich. Diese grünen Augen mit den grauen Sprenkeln darin. Sie sehen müde aus, aber sie sehen mich und für einen Moment herrscht wieder so etwas wie Frieden in mir, bevor sie sich müde wieder schließen.
„Oh mein Gott. Tobias.“
Langsam gehe ich auf das Bett zu, wo noch immer die Krankenschwester steht und die Geräte und auch Tobias Zustand überprüft. Dieser hat die Augen wieder geschlossen und scheint wieder in seine Traumwelt abgetaucht zu sein. Doch er hat mir gegeben, was ich jetzt so dringend gebraucht habe. Einen Hoffnungsschimmer.
„Er ist noch zu schwach. Er schläft wieder. Aber es ist ein sehr gutes Zeichen. Ich hole Doktor Navajo und wir werden die Schläuche entfernen.“
Thomas kommt mit einem Kaffeebecher ins Zimmer gestürmt und hat wohl dieselbe entsetze Miene auf seinem Gesicht wie ich vorhin. Doch er sieht mein Lächeln und seine Angst weicht einem erfreutem Ausdruck.
„Er war wach.“
Vorsichtig stellt er seinen Kaffeebecher neben Tobias Bett ab und schließt mich in seine starken Arme. Erst dann, setze ich mich neben Tobias`s Bett und lege meine Finger auf seine. Denn jetzt weiß ich, dass er bei mir ist. Er ist bei mir und er wird mich nicht im Stich lassen.
Doktor Navajo und zwei weitere Schwestern kommen in den nächsten Stunden in das Zimmer. Die Schläuche aus seinem Mund sind weg und ich warte darauf, dass er seine Augen erneut öffnet. Und dann geschieht es. Ich höre seine Stimme. Sie ist rau und schwach. Aber ich höre sie.
„Marie.“
„Ich bin hier Tobias. Ich bin hier.“
Tränen der Freude laufen über meine Wange und er schenkt mir ein Lächeln. Dieses Lächeln, dass nur für mich bestimmt ist. Schnell greife ich zu dem Wasserglas, dass ich neben mir stehen habe und halte es nach oben, sodass er es sehen kann.
„Sie haben gesagt, du wirst durstig sein, wenn du aufwachst.“
Er versucht sich an einem kleinen Nicken. Doch die schmerzverzerrten Lippen sind der Beweis dafür, dass er Schmerzen hat.
Ich halte den Strohalm an seinen Mund und er beginnt daran zu saugen. Seine Lippen sind trocken und spröde. Er lässt den Strohhalm nach ein paar Schlucke, wieder aus seinem Mund.
„Danke, viel besser.“
Jetzt ist seine Stimme nicht mehr so rau und heiser. Sie gewinnt ihre Stärke zurück. So auch, wie Tobias. Er wird wieder gesund.
Nach weiteren Untersuchungen und Röntgen stehe ich nun erneut vor Doktor Navajo. Er wollte Tobias und mir, die Ergebnisse vorlegen und nun auch mit Tobias über diese Sache sprechen, die sein ganzes Leben verändern wird. Gespannt warten wir beide darauf, was er zu sagen hat. Aber vor allem ich bin voller Angst. Denn Tobias, hat die Nachricht mit dieser einen Sache, die sein Leben verändert noch nicht erfahren. Seine Beine sind beide in einer Schiene und sind beide gebrochen. Er hätte nicht einmal die Chance gehabt, sie zu bewegen. Doch jetzt, so unmittelbar davor, einen Tobias zu sehen, der diese Worte hört, macht es mir so unendliche Angst. Alle meine Muskeln sind angespannt.
„Ich weiß nicht wie ich ihnen Beiden das sagen soll. Ich habe so etwas noch nie erlebt. So wie alles an ihrem Fall ist es ein Wunder. Ich habe vorhin mit Miss Benson gesprochen. Wir haben darüber gesprochen, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen sein werden.“
Ich spüre den Druck auf meinen Fingern, als er die meinen etwas fester umgreift. Ich spüre die Angst. Aber ich spüre auch Wut. Wut auf Doktor Navajo. Wieso muss er es so kalt über seine Lippen bringen? Wo ist das Mitgefühl, dass ich vorhin bei ihm gesehen habe?
„Es tut mir leid. Also. Ich weiß nicht wie oder warum, aber ich nehme es wieder zurück. Vielleicht ist mir ein Fehler bei der Untersuchung unterlaufen. Ich weiß es nicht. Aber die Tatsache ist, Mister Lloyd, die Verletzung ihrer Wirbelsäule existiert nicht mehr. Ich kann es mir nicht erklären. Vielleicht hatten unsere Geräte einen Fehler. Ich weiß nicht.“
Doktor Navajo scheint kaum noch Luft zu bekommen, so aufgeregt ist er. Daher dauert es auch einige Sekunden, bis mir klar wird, was er gerade gesagt hat.
„Heißt dass, er wird wieder ein normales Leben führen können? Ohne Einschränkungen?“
Doktor Navajo nickt aufgeregt und ich kann selbst kaum glauben, was er da gerade gesagt hat. Die Tränen sammeln sich erneut in meinen Augenwinkeln und ich sehe auch an Tobias, dass er mit seinen Gefühlen ringt. Er kann wieder gehen. Er wird vollkommen gesund. Und doch reißen mir die Worte von Tobias, die Füße unter den Beinen weg.
„Was ist mit der Frau?“