Wenig Ehre liegt in dem Brechen von Eiden. Einem Mann, der einmal sein Wort gebrochen hat, ist unmöglich zu trauen und einer Frau, welche die Ehre brach, ist niemals sein Herz zu geben. Vielmehr sind dies die Menschen mit der geringsten Ehre und sie müssen somit als Verräter am Volk und König gelten.
Überlieferte Worte von König Jaakan, dem Segensbringer
Alsra verstand Alemet nicht. Sie konnte nicht begreifen, warum er Winterflucht nicht einfach angriff, vor allem nach seinem triumphalem Sieg am gestrigen Tag. Stattdessen belagerten Tausende von Männern eine Holzfestung. Die für sie einzig mögliche Erklärung war, dass er nicht riskieren wollte, dass sie bei einem Angriff umkam. Und sie konnte in soweit zustimmen, dass ein paar Fackeln in Winterflucht durchaus kontraproduktiv waren. Dennoch zeigte seine Belagerung Wirkung. Die eindrucksvolle Darbietung der farbenprächtigen Banner und mächtigen Ritter jagten Angst ein. Angst vor der Stärke der Militärmacht Arthergs, dem die Zwillingsreiche zu trotzen gewagt hatten. Die Angst lauerte überall, ein dunkler Schatten, dem man unmöglich entrinnen konnte. Sie lag in den Schreien der Kleinkinder, dem Wimmern der Säuglinge und den Blicken der Jungen. Selbst die Spiele der Kinder waren geprägt von nervösen Blicken. Selbst in Indifaus Augen, die immer so unerschütterlich gewirkt hatten, fand sich ein dunkler Schatten der Besorgnis.
Am heutigen Tag schien es schlimmer zu sein als sonst. Irgendwo in den Tiefen der Burg jaulte ein Hund, ein zweiter schloss sich ihm an, dann ein dritter, bis gefühlt jeder Hund der Burg in dieses Konzert einstimmte.
Einzig Yra verblieb ruhig zu Alsras Füßen liegen, den Kopf vertrauensvoll auf ihren Füßen.
Mit zitternden Fingern blätterte das Mädchen die Seiten des Buches um, in welchem sie las. Doch die Worte verschwammen vor ihren Augen und hätte jemand sie nach dem Titel gefragt, so hätte sie nicht zu antworten gewusst.
Noch immer klangen die Schreie der Verwundeten und Sterbenden zu ihnen hinüber und selbst die dicken Türen der großen Halle vermochten es nicht den Lärm draußen zu halten.
Alsra sah zu Indifau, die am anderen Ende des Tisches scheinbar gelassen in einigen Berichten blätterte. Jiadrahm saß in ihrer Nähe, die Augen rot geschwollen von der Trauer um ihren Mann und dennoch erzählte sie einigen ihrer Nichten und Neffen eine Geschichte. Selbst nach all den Wochen war es Alsra nicht möglich gewesen, die Namen all ihrer neuen Verwandten zu lernen, denn ihr Mann entstammte einer großen Familie. Ihr Mann, sie erzitterte, als sie an Elieser dachte. In der heutigen Nacht war ein weiterer Bote durch Alemets Belagerungsring gedrungen und hatte die Nachricht überbracht, dass Eliesers Heer sich auf den Mondfels zurückgezogen hatte.
Sie sah erst wieder auf, als die Türen der Halle mit einem Krachen aufgestoßen wurden. Ihr Herz pochte laut vor Angst und in Erwartung schlechter Neuigkeit.
Ein junger Soldat in den Farben der Zwillingsreiche stürmte in den Saal.
„Eine Gesandtschaft steht vor unseren Toren, unter ihnen Alemet von Keriso.“.
Alsra sah zu der Königin. Indifau hatte sich erhoben, ihr Gesicht wirkte unter den filigranen, orangefarbenen Zeichnungen ruhig und erhaben, doch ihre Fingerknöchel, welche sie auf die Tischplatte presste, waren weiß wie Schnee.
„Dann sollten wir sie empfangen – vor den Toren.“.
Mit kraftvollen Schritten trat die Königin der Zwillingsreiche durch die Halle und Alsra folgte ihr eilig. Derudirs Zwillingssöhne gingen neben ihr. Die Geschichten, die Jiadrahm ihnen erzählt hatten, waren vergessen und die Angst wieder offensichtlich. Ihr Blick fiel über die Hände der beiden Knaben, die sie vertrauensvoll ineinander verschränkt hatten, als ob dies das einzige wäre, was sie hielt. Ob sie wussten, dass diese Gesandtschaft Kundschaft über das Schicksal ihres Vaters bringen konnte, der bei der Schlacht in den Sonnensteppen in arthergische Gefangenschaft geraten war?
Als sie nach draußen traten, traten sie in den warmen Sonnenschein eines Sommermorgens. Von einem Tag auf den nächsten hatte sich das Wetter entschieden, dass die Zeit für die wärmere Jahreszeit gekommen war.
Indifau stieg den Wall auf Höhe des Tores empor, doch als Alsra ihr folgen wollte, hielt sie das Mädchen zurück.
„Bleib hier.“, befahl sie und es lag solch eine Autorität in ihrer Stimme, dass Alsra nicht zu widersprechen wagte.
Stattdessen blieb sie inmitten der Menge stehen und begann, um sich von ihrer Nervosität abzulenken, ein Gespräch mit Irastji, Eliesers Drillingsschwester.
„Wo ist dein Gemahl?“, fragte sie freundlich.
Scheu wandte Irastji ihr das Gesicht zu.
„Er wurde als Bote zum Mondfels geschickt.“, entgegnete diese zögernd.
Alsra wollte etwas erwidern, doch Indifau entband sie der Pflicht, eine Antwort zu geben.
„Ihr seid zu uns gekommen, Alemet von Keriso. Also sprecht.“. Sie sprach artherg mit einem erstaunlich leichten Akzent und Alsra musste schlucken, als sie die Ähnlichkeit zu Eliesers Sprechweise erkannte.
Doch Alemet tat ihr den Gefallen nicht, sondern antwortete in der verbreiteten Sprache der Zwillingsreiche: „Übergebt mir Alsra von Scheeru und ich verspreche bei meiner Ehre, dass dem Volk nichts widerfahren wird und der Thron in den Händen deines Hauses verbleibt, Indifau. Ihr habt bis zum Mittag des morgigen Tages Zeit, ansonsten werde ich kommen und ihr werdet enden wie er.“.
Alsra konnte ihn nicht sehen, aber sie konnte hören wie Alemet davon ritt und Hass durchfuhr sie, als sie ihn sich vorstellte, selbstzufrieden auf seinem Schlachtross.
In diesem Moment wurde etwas in den Burghof geschleudert. Für einen Moment dachte Alsra, dass Alemet sein Wort gebrochen hatte, doch dass bemerkte sie, dass es kein Stein war. Mit einem spitzen Aufschrei sprang sie zurück und heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie in Rivadiers nun blicklose Augen sah.
Jiadrahm sank zu Boden und schriee wie ein verwundetes Tier. Derudirs Söhne setzten sich neben sie und zu dritt schaukelten sie ohnmächtig vor Trauer hin und her.
Alsra trat vor und schloss die Augen des Kronprinzen. Einen Moment verharrte sie in dieser sitzenden Position und bat Rivadier innerlich um Verzeihung, denn sein Tod war ihre Schuld.
Dann stand sie auf, strich ihr Kleid glatt und richtete sich auf.
„Dieser Tod soll nicht ungesühnt bleiben.“, meinte sie und blickte zu ihrer Flagge auf, die sich neben dem Wappen der Zwillingsreiche gegen den klaren blauen Himmel abzeichnete Der weiße Schimmel Scheerus erhob sich vor einem schwarzen Hintergrund, auf dem drei Feuerblumen erblühten, denn entstammte ihre Mutter dem Herzogtum Noriom. Karelar war die jüngste Schwester von Herzog Setam gewesen, doch war sie vor sechs Jahren ebenso wie Alsras ältere Brüder an einer Krankheit gestorben. Für einen Moment dachte sie darüber nach, was ihre Mutter an ihrer Stelle nun getan hätte. Es war eine schwierige Frage, denn war jegliche Erinnerung an sie verschwommen. Doch war sie sich sicher, dass ihre Mutter nicht nachgegeben, sondern alles dafür getan hätte, diese Situation zum Besten für alle zu verändern. Nur hätte ihre Mutter die Militärmacht von Noriom in ihrem Rücken stehen gehabt, während Alsra wusste, dass ihr Vetter an Jasreels und Alemets Seite das feindliche Heer anführte.
Sie blickte zur Königin der Zwillingsreiche hinüber.
„Indifau…“.
„Nein.“. Angesprochene schüttelte vehement den Kopf. „Wir werden dich nicht ausliefern, Alsra. Du gehörst jetzt zur Familie.“.
Diese Worte berührten das Mädchen, doch niemand konnte begreifen, wie sie sich fühlte. Denn sie zerstörte ihre neue Familie, sie war schuld am Tod von Förelier und Rivadier, allein sie.
Indifau sah sie an und erstaunt erkannte Alsra die Tränen in ihren Augen.
„Durch das Opfer, das zu erbringen gedenkst, machst du die Tode nicht ungeschehen, Mädchen.“.
„Aber was soll ich dann tun? Ich kann nicht hier abwarten und sehen wie ein Volk meinetwegen abgeschlachtet wird.“.
„Und niemand hat behauptet, dass du das tun musst.“, entgegnete die Königin ruhig. „Wir werden dich fortschaffen, Alsra. Am heutigen Abend wirst du die Burg verlassen, während unsere verbliebenen Streitkräfte einen Gegenangriff führen. Du wirst die Sicherheit der Quellwälder aufsuchen und dich dort verbergen.“.
Alsra öffnete den Mund, um zum Protest anzusetzen, doch Indifau schüttelte erneut den Kopf.
„Die Entscheidung ist gefallen, Alsra. Und nichts wird mich umstimmen können.“, erklärte sie mit einer Härte, die bei ihrer ersten Begegnung noch nicht vorhanden gewesen war.
Nach einem Moment der Stille nickte Havinons Tochter zögernd.
„Einverstanden.“.
Alsra erwachte, als jemand ihr eine Hand auf den Mund legte. Ihre Finger ertasteten vorsichtig den Dolch, den sie neben ihrem Kissen verbarg, doch ließ sie die Hand wieder sinken, als sie Indifau erkannte.
Kurz darauf nahm sie auch die Schreie und den Geruch des Feuers wahr.
„Du musst fort hier.“, erklärte ihre Schwiegermutter kurz angebunden.
„Aber Alemet, er hat versprochen…“, stotterte sie verwirrt.
„Es wäre nicht das erste Mal, dass die Artherger ein Versprechen brechen.“, lautete die verbitterte Erwiderung, während sie Alsra einen Leinsack in die Hand drückte.
„Warme Kleidung, Werkzeug und ein wenig zu essen. Deine Wachen werden ebenfalls etwas besitzen, doch ist es mir lieb, wenn du dich selbst versorgen kannst.“.
„Was ist mit meiner anderen Wache? Den Arthergern?“. Obwohl sie Assur und seinen Männern mehrfach angeboten hatte, sie zu ihrem Volk zu entlassen, hatten sie immer wieder abgelehnt.
„Sie werden die Möglichkeit erhalten, sich ihrem Heer anzuschließen. Mir ist es nur lieber, wenn deine Wachen nicht in Loyalitätskonflikte geraten.“.
Alsra nickte, während sie sich wetterfeste Kleidung anzog. Zwar vertraute sie Assur, so wie sie auch Heled vertraut hatte, doch nicht unbedingt jedem seiner Männer. Sie konnte Indifaus Bedenken nachvollziehen.
Nach einem kurzen Zögern reichte sie ihr auch ein Schwert.
Alsra zog die Klinge aus der verzierten Lederscheide und erkannte, dass es eine Waffe der Zwillingsreiche war, die nichts mit den Kurzschwertern Arthergs gemein hatte. Es besaß eine einschneidige Klinge, die zur Spitze hin bauchig wurde und zu einem langen Ort ausführte. Der Klingenrücken war leicht nach unten gebogen, so dass eine Wölbung entstand. Ein aus weißem Horn geschnitzter Pferdekopf bildete den Knauf.
„Wir nennen es Disanu und auch wenn ich hoffe, dass du es nie benötigen wirst, glaube ich, dass es dir gute Dienste leisten wird.“.
Nervös blickte Indifau sich um. Alsra trat zum Fenster und schob das Fell beiseite. Der Himmel war rot, doch dieses Mal nicht aufgrund eines Sonnenuntergangs sondern durch die lodernden Flammen, welche die Burg verzerrten. Kreischende Kinder liefen über den Hof, während Frauen mit Hilfe von Wassereimern verzweifelt versuchten, den Brand zu löschen. Ihre Männer dagegen standen auf den Zinnen und schickten einen Pfeil nach dem anderen gegen die Angreifer. In diesem Moment krachte ein von einem Katapult geschleuderter Felsbrocken in das Küchengebäude, welches mit einem lauten Geräusch in sich zusammenfiel und eine Staubwolke inmitten der Flammen empor steigen ließ. Das war also Alemets Art Versprechen zu halten. Ich verspreche bei meiner Ehre Nun wusste sie, was sie von der Ehre des Kurfürsten von Keriso halten sollte.
Mit Tränen in die Augen wandte sie sich zu Indifau um.
„Ich kann doch nicht einfach gehen…Es ist doch jetzt mein Volk.“.
„Du musst.“. Die Königin blickte sie harsch an.
Schließlich nickte Alsra. Sie lief zu ihrer Kleidertruhe und holte den Pfeil hervor, den sie unter Schichten von Stoff verborgen hatte.
Indifau runzelte die Stirn.
„Ich glaube kaum, dass ein einziger Pfeil etwas gegen die Eindringlinge ausrichten kann.“. Ein müdes und trauriges Lächeln zierte ihre Mundwinkel, dann trat sie unwillkürlich einen Schritt nach vorne und schloss das Mädchen in die Arme.
„Pass auf dich auf, Alsra.“.
Alsra nickte nur, denn war sie nicht länger einer Antwort fähig.
Sie warf einen letzten Blick auf den Raum, der ihr in den letzten Tagen eine Zuflucht gewesen war, dann trat sie mit der Königin vor die Tür.
Dort warteten vier zwillingsreichliche Soldaten – und Niandos.
Indifau lächelte, als sie Alsras erstaunte Miene bemerkte.
„Ich dachte mir, dass du einen Artherger an deiner Seite gebrauchen könntest. Deine Zofe wird ebenso wie deine Männer sicher zu den Arthergern geleitet werden.“.
Alsra nickte, aus irgendwelchen Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, vertraute die Königin ihrem Schreiber. Sie dagegen war nur froh, wenigstens ein vertrautes Gesicht an ihrer Seite zu haben.
Gemeinsam eilten sie die Treppe hinab, bis in die große Halle erreichten, welche vollkommen verlassen war. Jegliche Freude war vergessen und allein Angst und Furcht regierten in dieser Burg.
Indifau wandte sich ihr erneut zu.
„Amadir kennt den Weg.“, flüsterte sie mit der letzten aufgebrachten Kraft.
„Komm mit mir.“.
Die Augen ihrer Schwiegermutter blitzten.
„Dies ist mein Volk, Kind.“. Mit diesen Worten trat sie an Alsra vorbei, stieß die Tore der Halle auf und trat nach draußen. Für einen Moment hob sich ihre Gestalt gegen den Flammenhimmel ab, dann war sie nicht länger zu sehen.
„Herrin?“. Der älteste der Soldaten – Amadir – blickte sie an.
„Gut.“, bestätigte sie resigniert, denn verstand sie, dass ihre Anwesenheit alles nur noch schlimmer machte. „Ich komme.“.
Sie pfiff nach ihrer Hündin, die als brauner Schatten neben ihr auftauchte.
Dann verließen auch sie die Halle und schlugen den Weg zur nördlichen Mauer ein, die nicht angegriffen werden zu schien und von welcher die Flammen noch entfernt waren.
Es schmerzte Alsra, den Schreienden nicht helfen können und die Schmerzen der Leidenden nicht lindern zu können. Sie wollte nichts lieber, als zurück rennen, doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie gehen musste.
Erst als sie den Jungen sah, hielt sie inne. Er stand vor der Mauer, zwischen Wirtschaft – und Küchengebäude, regungslos, als sei der Schrecken für ihn zu groß, um ihn wahrzunehmen.
Dann erkannte sie ihn – es war einer der beiden Zwillingssöhne Derudirs.
Als sie ihn erreichen, deutete er ohne ein Wort auf das eingestürzte Küchengebäude und Alsra verstand sofort.
Sie rannte auf den Trümmerhaufen zu, kniete sich hin und räumte einige Holzbretter beiseite, als sie ein leises Wimmern hörte.
„Ihr müsst mir helfen.“, wies sie die Soldaten verzweifelt an.
Die drei Jüngeren warfen Blicke zu Amadir, der schließlich vortrat und sie sanft an der Schulter berührte.
„Unsere vorrangige Aufgabe ist es, dich in Sicherheit zu bringen, Prinzessin.“, beharrte er.
Alsra schüttelte zornig den Kopf.
„Ich werde meine Hilfe ganz bestimmt nicht verwehren.“, fauchte sie und hievte ein Rundholz zur Seite.
Wieder wechselten die Soldaten einen Blick, bis Niandos sich aus dem Hintergrund löste und sich neben sie kniete. Einige schneeweiße Strähnen fielen ihm Gesicht, als er einen weiteren Holzbalken fortzog.
Schweigend arbeiteten sie nebeneinander und als Amadir einsah, dass seine Prinzessin nicht nachgeben würde, knieten sich auf die Soldaten nieder. Ebenfalls an ihrer Seite war der Junge, dessen Namen sie immer noch nicht kannte.
Schließlich fanden sie Jiadrahm in einem Hohlraum sitzend, an ihrer Seite den Zwillingsbruder des Jungen, dessen Kopf sie schützend in ihrem Schoß verborgen hatte. Bis auf einige oberflächige Verwundungen und eine große Platzwunde am Kopf des Jungen schien es ihnen den Umständen entsprechend gut zu gehen.
Die Schwangere richtete sich auf, als sie die Hilfe erkannte und ließ zu, dass Amadir ihr und dem Jungen hoch half.
Jiadrahm lächelte schwach, als sie Alsra gewahr wurde, doch die Trauer stand ihr als allgegenwärtiger Schatten immer noch ins Gesicht geschrieben. Wenn Alsra daran dachte, dass auch Elieser…Nein, schalt sie sich selbst, er hatte versprochen, dass er zurückkehren würde und bisher hatte sie ihren Mann nicht als einen Menschen erlebt, der Versprechen leichtfertig brach.
Niandos erhob sich wieder, nachdem er die Platzwunde des verletzten Zwillings untersucht hatte.
„So bald es möglich ist, sollte die Wunde ausgewaschen werden, aber vorerst wird es gehen.“.
„Gut.“, Amadir sah sich prüfend um, „Jetzt sollten wir jedoch schleunigst fort.“.
Doch Alsra hielt ihn am Arm zurück.
„Warte.“, flüsterte sie, während sie ihren Pfeil hervorholte.
„Gib mir deinen Bogen.“, forderte sie Amadir auf, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete, sie ihrer Anweisung jedoch nicht verweigerte.
Alsra legte den Pfeil in die Sehne und spannte den Bogen zur Probe. Ihre Arme zitterten vor Anspannung, als sie ihn hob, um zu zielen. Tränen schossen ihr in die Augen, denn ihre Kraft versagte.
„Ich helfe dir.“, bot einer der Soldaten an, doch Alsra schüttelte nur stumm den Kopf.
Niandos trat von hinten an sie heran, nahm ihr den Bogen aus der Hand. Ohne ein Wort umwickelte er den Pfeil mit einem in Wachs getränktes Tuch und tauchte ihn dann in die Flasche mit flüssigem Schwefel, welche sie ihm hinhielt.
Er spannte den Bogen mit einer solchen Selbstverständlichkeit und einem Können, dass Alsra ihm die Geschichte mit seiner Tätigkeit als Kartograph nicht länger abkaufte. Sie hatte nur diesen einen Pfeil, doch vertraute sie Niandos’ Fähigkeiten. Ihre kleine Gruppe beobachtete den Pfeil, der sich mit seiner brennenden Spitze gegen den Nachthimmel abhob und der zielgerichtet in Alsras Flagge auf dem Wall landete. Für einen Moment leuchtete der Schimmel auf, dann fiel die Flagge in einem Funkenregen hinab. Sie fühlte sich einsam, als sie das Zeichen ihrer Herkunft brennen sah, doch Alemet und die Fürsten würden ihre Tat erkennen und das war das Einzige, was zählte.
Ohne, dass sie eine gemeinsame Entscheidung hatten treffen müssen, schlossen sich Jiadrahm und die Kinder ihnen an. Amadir hob zwar eine Augenbraue, doch vermochte er es nicht, Mitglieder der Königsfamilie der Ungewissheit zu überlassen.
So schnell wie es ihnen möglich war, liefen sie weiter zur nördlichen Mauer, die von den Flammen und der Gefahr am weitesten entfernt war. In ihrem Rücken wurden die Kampfschreie lauter und mit einem Mal wurde Alsra bewusst, in welcher Gefahr sie tatsächlich schwebte. Für einen Moment wollte sie fast auflachen. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass eine Kurfürstin in eine solche Situation geriet?
Doch dann stellte sie fest, dass ihr hierfür die Zeit fehlte und sie lief weiter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie ein Gebäude, welches Alsra noch nicht betreten hatte und folgten Amadir hinein. Es war ein typisch einstöckiges Haus, das offenbar der Lagerung von Vorräten diente. Überall standen gewaltige Säcke und in der hintersten Ecke lagen Heuballen für die Pferde. Auf diese Heuballen trat der Zwillingsreichler nun zu und hockte sich vor ihnen auf den Boden. Schon nach kurzer Zeit wurde er fündig und zog eine Falltür auf.
„Dieser Gang führt unter den Wällen hindurch und ein Stück hinaus.“. Besorgt sah er hinter sich. „Wir benutzen lieber kein Licht.“.
Amadir sprang hinab, bevor er den anderen hinunter half. Niandos, der als letzter sprang, schloss zusätzlich die Klappe.
„Früher führte der Gang bis zum Bergfried, doch leider ist dieser Teil des Tunnels vor einiger Zeit verfallen und er wurde bisher nicht wieder hergerichtet. Nun folgt mir.“.
Eine Weile tasteten sie sich durch die Dunkelheit, bis Alsra merkte, dass der Boden anstieg. Dann erreichten sie den Ausgang, denn vor ihnen leuchteten die Sterne.
„Halt.“. Amadir hielt sie zurück und die Kurprinzessin nahm den leichten Anflug von Panik in seiner Stimme wahr.
„Wo ist das Gestrüpp?“, murmelte ein junger Soldat, der nun nervös seinen Speer umfasste.
„Runter.“, schrie Amadir und warf sich gegen Alsra, die auf den Boden fiel und die Zwillinge dabei mit sich riss.
Pfeile zischten über ihnen durch die Luft und einer der Soldaten stöhnte auf.
Gleich darauf hörte sie Jemanden seine Soldaten in artherg für den Beschuss zu schelten, da dadurch die Prinzessin in Gefahr geriet.
„Durch den Gang zurück?“, fragte Jiadrahm ängstlich.
„Nein.“, entgegnete Amadir, „Der Weg ist uns versperrt.“.
„Wir wissen, dass ihr dort seid.“, rief jemand mit starkem Akzent in der Sprache der Zwillingsreiche. „Gebt uns das Mädchen und euch wird nichts geschehen.“.
„Schilde nach vorne.“, meinte Amadir leise und die Soldaten erhoben die kleinen Rundschilde.
„Nein.“, flüsterte Alsra, sie wollte nicht, dass noch jemand ihretwegen starb.
Der Zwillingsreichler wandte sich zu ihr um. „Es sind nicht viele.“.
„Aber mehr als vier!“, protestierte sie.
Amadir ignorierte sie und mit erhobenen Waffen und Schilden traten die Soldaten aus dem Eingang hinaus.
Alsra stöhnte auf, als sie die Kampfgeräusche hörte und dennoch wusste, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Sie hatte ihre Waffe gezogen und obwohl sie nicht damit umgehen konnte, war sie bereit sich zu verteidigen, sollte es sich als notwendig erweisen.
Mit jedem Aufklirren des Metalls stieg ihre Anspannung und trotz der Worte, das er mit Waffen nicht umgehen konnte, hielt Niandos ein arthergisches Kurzschwert in der Hand. Bereit jeden Moment aufzuspringen, hockte er da und schirmte die Kinder und Frauen ab. Jiadrahm dagegen redete beruhigend auf die Jungen ein, die zwar verängstigt, doch auch neugierig wirkten.
Alsra starrte auf den Ausgang und biss sich dabei nervös auf die Unterlippe, während draußen Schmerzensschreie ertönten.
Schließlich näherte sich jemand dem Gang und Niandos’ Körper spannte sich an. Doch es war Amadir.
„Ihr könnt rauskommen.“, erklärte er erschöpft und mit einem blutüberströmten Gesicht. Sein Helm fehlte und er presste die linke Hand an seine verletzte Seite.
Niandos ging voran und schirmte sie weiterhin ab, doch dann traten sie ins Freie. Vor ihnen offenbarte sich ein Gemetzel, bei welchem Amadir als der einzige Überlebende hervor gegangen war. Blutüberströmte Leichen lagen mit verdrehten Gliedern auf dem Boden und auch dass Amadir ihnen die Augen geschlossen hatte, minderte den Schrecken nicht im Geringsten.
Mit Tränen in den Augen wandte sich Alsra zu der brennenden Burg um. Rauchfahnen stiegen als Boten des Unheils auf und mit einer grimmigen Miene führte ihre letzte Wache sie auf einen kleinen Wald zu.
Amadir humpelte, doch gab er seinen Schmerz nicht im Geringsten preis.
„Weiter nördlich können wir uns Pferde besorgen, doch nun müssen wir vorerst ohne sie auskommen.“.
Eine Weile liefen sie schweigend durch den Wald und jeder hang seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Jiadrahm weinte stumm und die Jungen hielten sich gegenseitig an den Händen. Vermutlich war ihre ganze Familie tot, doch sie weinten nicht, sondern stärkten sich gegenseitig.
„Hallo, Alsra.“, sagte da jemand in artherg und die Kurprinzessin wirbelte mit pochendem Herzen herum.
Ein Soldat in arthergischen Farben trat – einen gewaltigen Beidhänder in den Händen - zwischen den Bäumen hervor.
Amadir stellte sich schützend vor Alsra, doch als er erkannte, dass der Soldat alleine war, entspannte er sich.
Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes und das Mädchen schriee eine Warnung aus, doch den blitzschnellen Schlägen des Soldaten konnte der Zwillingsreicher nichts entgegen setzen. Bisher hatte sie nur einen Mann gekannt, der so schnell kämpfen konnte und das war Heled gewesen. Aus den Bewegungen des Angreifers sprachen jahrelange Erfahrung und Übung. Zwei Schläge vermochte es Amadir abzuwehren, dann knallte ihm der Fremde die flache Seite seines Schwertes auf den Kopf und der Zwillingsreichler sank zu Boden.
Niandos hatte seine Waffe ebenfalls erhoben, doch angesichts des Könnens des Feindes ließ er sein Schwert rasch sinken.
Erst jetzt wandte sich der Fremde Alsra zu. Ein spitzer Überraschungsschrei entkam ihrer Kehle und noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, einen Menschen so wenig zu kennen.
„Ich denke“, erklärte er, „dass mein Herr erfreut sein wird, dich zu sehen.“.
Bei diesen Worten lächelte Assur, doch es war kein freundliches Lächeln.