Es vergingen drei Tage, in denen Mathieu zunehmend gereizter wurde. Wie er vorhergesehen hatte, lief er dem inzwischen rothaarigen Trottel noch immer nach, um das geforderte Attest von ihm zu bekommen.
Lucien hingegen hatte es natürlich längst, machte sich aber einen Spaß daraus, den Schulsprecher immer wieder zu vertrösten. Er fand es amüsant, dass Mathieu immer anschwoll wie ein Ochsenfrosch; mit seinem Oberlehrergesicht. Es fehlte ihm nur die Brille und er sah wie die etwa hundert Jahre jüngere Kopie eines früheren Schuldirektors aus, dessen Bild an einer Wand in der Aula hing.
»Ich hab noch andere Sachen zu erledigen, du Kretin. Also zieh’ endlich den Finger oder ich rufe bei dir zuhause an deswegen!«, schnauzte Mathieu mal wieder wenig höflich, während sie in der kurzen Pause zwischen zwei Stunden auf dem Flur stehend auf den Lehrer warteten. Ihre Kabbelei ließ einige umstehende Schüler schmunzeln und manche riefen ihnen zu, dass sie sich doch endlich ein Zimmer nehmen sollten.
Ein förmlicher und höflicher Umgangston unter den Jugendlichen war in der Hausordnung fest verankert und eigentlich Pflicht. Doch wer so unter Druck und Hormonen stand wie Teenager in ihrem Alter, der hatte ganz andere Sachen im Kopf als möglichst zuvorkommend zu katzbuckeln.
»Zwing’ mich doch, Minou«, grinste Lucien süffisant und konnte sehen, wie der blonde Junge die Hand zur Faust ballte. Der Rothaarige verschränkte die Arme vor der Brust und kräuselte die Lippen.
»Willst du mich schlagen? Komm her. Es ist wie mit den Hunden. Ich habe den Größeren und ich bin der Größere. Du wirst unterliegen.«
»Du ... du ...«, Mathieu knurrte und bekam rote Wangen vor Zorn, was Lucien lachen ließ.
Erbost stieß der Schulsprecher einen Fluch aus und drängte sich an dem Anderen vorbei, wobei er diesem einen Schubser versetzte. Lucien prallte mit dem Rücken gegen die Wand zwischen zwei Fenstern, wodurch er sich den Kopf stieß. Reflexartig presste er die grauen Augen zusammen und zwang sich, nicht laut aufzustöhnen vor Schmerz, doch das war schwieriger als gedacht. Denn dieser explodierte in seinem Hirn und seine Sicht wurde schwarz.
Die Ärzte hatten ihn vor solchen Dingen gewarnt, was unter anderem einer der Gründe war, warum er keinen Sport mehr machen durfte. Jeder Schlag auf oder gegen den Kopf würde den Tumor zwar nicht schneller wachsen lassen, aber es war wie bei jeder anderen wunden Stelle auch: Es würde gehörig weh tun. Und konnte in Luciens Fall zu Erbrechen, anhaltenden Schmerzschüben, Sehkraftaussetzern oder sogar Ohnmacht führen.
Schwindelig geworden lehnte sich der Junge an die Wand und versuchte, die glühende Pein wegzuatmen.
Etienne, der den Zank zwischen Lucien und Mathieu mit einigem Abstand beobachtet und nicht weiter beachtet hatte, bemerkte, dass es seinem Freund nicht gut ging und ging zu ihm.
»Hey. Du bist weiß wie die Wand. Alles okay?«
Lucien versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nur Nuscheln aus seinem Mund. Seine Zunge war schwer wie ein Stein und etwas drückte gegen seinen Gaumen, als würde er jeden Moment den Flur vollkotzen.
»Klo«, presste er nur heraus und Etienne stützte ihn unauffällig, während sie sich von den Mitschülern, die nicht mitbekamen, was los war, entfernten.
Der Lehrer, ein untersetzter Winzling, der eine Baskenmütze trug, passierte die beiden.
»Oh, geht es ihm nicht gut?« Er hatte das bleiche Gesicht und den leidenden Ausdruck Luciens bemerkt.
»Ihm ist schlecht. Ich helf’ ihm rasch auf die Toilette, in Ordnung?«
Mit einem Nicken entließ die Lehrkraft die beiden und kurz darauf betraten sie die Jungentoilette, deren durchdringender Geruch nach Reinigungsmitteln die Übelkeit des Rothaarigen nicht besser machte. Zittrig stemmte Lucien seine Arme auf eines der Waschbecken und versuchte, durch ruhiges Atmen wieder klar zu werden.
»Was war denn?«
»Mathieu hat mich geschubst. Ist das nicht bescheuert? So was Kleines haut mich so raus. Ich bin nur ... leicht mit dem Hinterkopf an die Wand geditscht ...«
Etienne zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack und hielt sie seinem Kumpel hin, von dem er wusste, dass er vermutlich nur Cola oder Limonade dabei hatte.
»Dieser ... dieser Tumor ... sitzt der am Hinterkopf?«
Lucien trank in winzigen Schlucken, nachdem er sich zwei der Schmerztabletten aus dem Krankenhaus in den Mund geschoben hatte, und schüttelte den Kopf.
»Neee ... der sitzt hier«, er zeigte auf eine Partie oberhalb der rechten Stirnhälfte. »Aber ein Stoß ist eine Erschütterung für das Gehirn und das Gewebe drumherum ist alles wund. Hat zumindest der Arzt gesagt.«
»Hm«, murmelte Etienne, »und trotzdem provozierst du Mathieu. Was hättest du gemacht, wenn er doch mal seine Eier entdeckt und dir ein paar reingehauen hätte?«
»Und dafür riskieren, seine Stelle als Schulsprecher zu verlieren? Er doch nicht. Jemand, der so ehrgeizig ist, tritt vermutlich eher mal einen Hund auf der Straße, um Frust abzubauen, anstatt etwas zu tun, was seine Position bedroht ...« Lucien rieb sich die Augen und verzog das Gesicht, als er sauer aufstoßen musste.
»Dein Wort in Gottes Ohr. Du bist so waghalsig, so viele Kerzen kann ich in der Kirche gar nicht für dich anzünden, Mann.«
Der Rothaarige grinste leicht. Etienne, das Landei, war gläubiger Katholik und rannte bei jeder kleinen Krise ins nächste Gotteshaus. Lucien hatte das nie verstanden. Ihm hatte all das nie etwas gegeben, obwohl auch er getauft war und seine Eltern sich alle Mühe gegeben hatten, einen religiösen Menschen aus ihm zu machen, wie sich das für einen ordentlichen Franzosen gehörte.
»Vielleicht solltest du deine Münzen sparen und damit aufhören. Über die Kerzen freut sich doch allein der Priester, wenn es in der Kollekte klingelt.«
»Keine weitere Blasphemie«, grinste der große Jugendliche. »Geht es wieder?«
»Wird. Wenn die Tabletten anschlagen. Ich muss zumindest schon mal nicht mehr kotzen, das ist doch was. Geh’ schon vor. Ich bleib’ noch ein paar Minuten hier, zur Sicherheit.«
»Sicher?«
»Ja ... wirklich, es geht wieder. Danke.«
Etienne sah nicht überzeugt aus, tat seinem Freund allerdings den Gefallen. Vielleicht wollte er auch einfach ein paar Minuten allein sein, weil er den Drang zu heulen hatte. Der Jugendliche wusste, dass Lucien sich eher einen Finger abhacken würde als vor jemand anderem zu weinen.
»Na gut. Mach’ aber langsam. Ich sag Monsieur Mercier Bescheid. Der hat ja selbst gesehen, wie scheiße du ausgesehen hast.«
Lucien nickte und sein Kumpel schloss die Tür der Jungentoilette hinter sich.
Einen Stoßseufzer abgebend, lehnte der Rothaarige seine Stirn an den kalten Spiegel vor sich. Noch immer dröhnte es in seinem Kopf und er glaubte, das Blut in seinen Ohren rauschen zu hören. Ein metallischer und widerlicher Geschmack lag auf seiner Zunge, als hätte sein Magen das schlimmste Gift hinaufgeschickt, das er zu produzieren imstande war.
Sich langsam vorbeugend, drehte er das kalte Wasser auf und trank aus der hohlen Hand noch ein paar Schlucke, als die Türe sich erneut öffnete.
»Was treibst du dich noch hier herum? Der Unterricht hat vor zehn Minuten angefangen.«
»Mathieu, tu’ mir den Gefallen und geh’ irgendwo sterben. Ich kann dich gerade nicht ertragen«, knurrte Lucien und presste eines der kratzigen Papiertücher zum Hände abtrocknen an seine Lippen.
Im Spiegel konnte der Junge den empörten Ausdruck auf dem Gesicht des Blonden sehen, aber es konnte ihn in dieser Sekunde nicht aufheitern. Warum konnte er nicht einmal zwei Minuten allein sein, wenn er das brauchte?
»Oh, glaub nicht, dass ich deinetwegen hier bin, du Spinner«, fauchte Mathieu und schlug eine der Klokabinentüren hinter sich zu.
»Zu feige, ans Pissoir zu gehen, huh? Könnte dir ja was abgucken«, frotzelte Lucien spöttisch, befeuchtete ein Tuch und legte es sich an die Stirn.
»Schnauze!«, drang es aus der Kabine.
»Fragt mich, was ich hier mache und tut doch genau dasselbe. Und der soll intelligent sein, dass ich nicht lache«, murmelte der Rothaarige und drehte sich vom Spiegel weg in den Raum.
Mathieu kam wieder heraus und wusch sich mit versteinertem Gesicht neben Lucien die Hände. Dabei blickte er zu ihm hinüber, der sich noch immer mit dem nassen Tuch auf die Schläfen drückte.
»Alles okay? Du siehst nicht gut aus ...«
»Besser als du, Grantaine.«
Mathieu seufzte. »Dir ist doch nicht zu helfen.«
»Wenn du wüsstest, wie Recht du hast«, murmelte Lucien, befeuchtete das Papiertuch neu und presste es sich auf die Augen, worauf er leise und wohlig seufzte. Es linderte die Pein etwas und verbarg seine geröteten Augen, denn ihm war zum Heulen zumute, würde sich aber hüten, das ausgerechnet vor Mathieu zu tun.
Dieser war zwar neben seinem Posten als Schulsprecher auch Vertrauensschüler und durfte nichts weitersagen, was man ihm vertraulich erzählte, aber niemals würde Lucien wollen, dass ausgerechnet der Oberlehrer mit dem Stock im Arsch irgendetwas über seinen Zustand wusste.
»Dann sollten wir in den Unterricht zurück. Los jetzt«, der Blonde stemmte die Hände in die Hüften und starrte den Anderen an, der missmutig das Tuch in den Müll warf und seinen Rucksack nahm.
»Nach dir, Minou«, sprach er leise, ohne rechte Energie. Das Dröhnen in den Ohren war lauter geworden.
Mathieu verdrehte die Augen und ging voran, wandte sich jedoch erschrocken um, als ein plötzlicher Aufschlag zu hören war. Luciens Knie waren eingeknickt und er hatte den Rucksack fallen lassen. Zitternd hielt er sich mit der Hand an einem der Waschbecken fest, um zu verhindern, dass er der Länge nach auf die Fliesen fiel. Er hockte am Boden, sein Gesicht war weißer als das Porzellan der Sanitäranlagen und er schluckte krampfhaft. Tränen hatten sich in seinen Augenwinkeln gesammelt und er unternahm einen schwachen Versuch, Mathieus helfende Hand wegzuschlagen, als dieser vor ihm in die Knie ging und seine Schulter berühren wollte.
»Musst du kotzen?«
Lucien nickte nur und hasste sich dafür, dass rechts und links je eine Träne über seine Wangen rollte, doch er war zu schwach, um aufzustehen. Er konnte sich kaum halten und wenn der Schulsprecher ihm nicht half, würde er das ganze Klo vollreihern.
Mathieu legte sich Luciens freien Arm um die Schultern und zog ihn langsam in die Höhe. Der Rothaarige war schwer wie ein Sack und seine Beine schienen ihn kaum zu tragen.
»Warum bist du überhaupt hier, wenn du so krank bist, dass du nicht allein stehen kannst?«, murmelte der Blonde und öffnete eine der Kabinentüren. Lucien wagte es nicht, den Mund aufzumachen und ließ sich langsam vor die Kloschüssel sinken.
Es widerte ihn an, dieser überhaupt so nahe zu kommen, wo er doch wusste, wie viele Kerle hier jeden Tag draufhockten.
»Damit du mich wegen noch einer Entschuldigung nervst?«
»Apropos!«
»Mann, in meiner Tasche, du Penner. Nimm’ sie dir. Im Kalender. Würdest du mich gerade mal in Ruhe abkratzen lassen, ja?«
»So schnell stirbt man nun auch nicht«, sagte Mathieu leichthin, machte einen Schritt aus der Kabine heraus und schloss die Tür just in der Sekunde, in der Lucien zu würgen begann.
Der Schulsprecher öffnete den Rucksack des Rothaarigen und blätterte durch dessen unordentliche Zettelwirtschaft. Es war kein Wunder, dass Lucien jedes Jahr schlechte Noten wegen seiner Heftführung bekam, wenn alles kreuz und quer durcheinander war. Mathieu würde mit diesem System nicht lernen können. Doch Luciens ansonsten gute Noten zeigten, dass es ihm anscheinend gelang. Er lag nie unter dem Durchschnitt.
Erleichtert, die geforderte Entschuldigung endlich zu bekommen, zog der Blonde das von Madame Walace unterschriebene Blatt Papier heraus und stutzte dann, als er die Arzneimittelverpackung fand, die zwischen die Schulsachen gerutscht war. Obwohl er wusste, dass es ihn nichts anging, nahm er sie heraus und las sie.
»Gehst du immer an anderer Leute Privatzeugs? Ich hab doch gesagt, der Wisch ist im Kalender«, knurrte Lucien, der, wieder mit etwas Farbe auf den Wangen, gerade aus der Kabine trat und sich mit angewidertem Gesicht dem Waschbecken näherte, um sich den Mund auszuspülen. Die Tabletten, die er vor ein paar Minuten genommen hatte, waren unverdaut wieder mit heraus gekommen, zusammen mit dem guten Frühstück, das seine Mutter ihm am Morgen gemacht hatte.
»Das ist ziemlich starkes Zeug. Wofür nimmst du das denn?«
Lucien gurgelte und spuckte aus, bevor er Mathieu die Schachtel aus den Händen nahm, um einen erneuten Versuch zu starten, eine Schmerztablette zu nehmen.
»Ich hab’ Migräne. Oder warum, meinst du, sitze ich hier am helllichten Tag auf dem Jungenklo und bin zu groggy, um allein zu kotzen?«
Mathieu erhob sich wieder von der Bank und betrachtete den Rothaarigen nachdenklich.
»Ich wusste nicht, dass du daran leidest. Tut mir leid ...«
»Spar’s dir, Grantaine. Du hast keine Ahnung. Danke für die Hilfe. Wenn du jemandem sagst, dass ich geheult habe, trete ich dir in den Arsch.«
Sich selbst nicht sicher, warum er auf einmal so gereizt war, griff Lucien nach seinem Rucksack und ließ den Schulsprecher einfach stehen.
Mathieu, noch immer in Gedanken über die starken Schmerzmittel versunken, folgte ihm mit einigen Metern Abstand in den Klassenraum und konnte sich nur schwer auf den Unterricht konzentrieren.