Nach einem langen Gespräch mit Herr Jonker stand dieser auf und kam langsam zu Lucy, um dem erstarrt dasitzenden Mädchen eine Hand auf die Schultern zu legen. Den Inhalt des Gesprächs konnte sie noch immer nicht fassen, ihre vor Schock geweiteten Augen hingen an dem kleinen Kaktus der in einem braunen Tontopf auf dem Fensterbrett stand.
Die Mutter hatte berichtet, nach dem ersten Gespräch mit dem Psychologen ihr Zimmer durchsucht zu haben, die Klingen gefunden zu haben, das Tagebuch gelesen, die Schulkameraden und Lehrer gefragt zu haben. Sie hatte das Tagebuch dabei, hatte das halb angekokelte Buch auf den Tisch gelegt und einige Zeilen daraus vorgelesen. Lucys Vermutungen mussten gestimmt haben, der Vater musste versucht das Buch zu verbrennen und als Beweisstück aus dem Feuer geholt haben.
„Liebes Tagebuch, heute ist wieder einer dieser Tage. Die Nacht konnte ich schon nicht schlafen, ich habe immer wieder diese Schreie gehört. Ich bin so oft wach geworden und war selbst diejenige die geschrien hat, deshalb bin ich wach geblieben um die anderen nicht zu wecken... Auch sonst war der Tag heute schrecklich, Aileen hat sich von mir abgewandt und hat in der Klasse erzählt was ich ihr anvertraut habe... Mal wieder war ich der Außenseiter und mal wieder wurde dieser Druck zu groß.“, stand dort geschrieben. Für den Rest des Eintrags entschuldigte sich ihre Mutter mit halb schluchzender Stimme, die restlichen Worte waren so sehr in Blut getränkt dass man sie nicht mehr entziffern konnte.
Beim schreiben schon verspürte Lucy diesen unheilbaren Schmerz und fand erst mit der Klinge Linderung. Sie schämte sich sehr als ihre Mutter das vorgelesen hatte. Jonker musste sonst was von ihr gehalten haben, hatte sie sicher innerlich ausgelacht. Überlegte schon, wie er sie hier in dieser Irrenanstalt am besten unterbringen konnte, ohne dass sie ihn störte. Und es war nur ein Auszug des Tagebuchs, ihre Mutter hatte etliche ähnliche Seiten vorgelesen, für die sich Lucy am liebsten selbst durch den Reißwolf gezogen hätte. Warum nur hatte sie es aufgehoben? Wieso nur musste sie Beweise hinterlassen, die man finden konnte? Am unwohlsten fühlte sie sich als ihre Mutter beschrieb wie Lucy im Krankenhaus entkleidet wurde und ihre etlichen Narben und frischen Wunden zum Vorschein kamen. Ohne dass sie es beeinflussen konnte hatte sie sich über die Unterarme gerieben und Blicke ihrer Mutter und des Psychologen kassiert.
Lucy blinzelte und sah dann etwas verwirrt und unbeholfen zu Herrn Jonker hoch, der sie nun an beiden Schultern gepackt und sich auf ihre Augenhöhe gehockt hatte. „Hey... Alles okay bei dir?“, fragte er besorgt und sah in ihre glanzlosen Augen. Sie nickte langsam und fasste sich langsam auf die Schultern um seine Hände zu entfernen. Sie mochte es nicht sonderlich berührt zu werden, die einzigen bei denen sie es guten Gewissens zulassen konnte waren sie selbst und ihr kleiner Bruder. „Na komm, ich zeig dir dein Zimmer, damit du dich einrichten kannst. Deine Eltern haben ja genug von deinen Sachen hergebracht.“, meinte er lächelnd und rief eine Schwester mit dem Namen Claudia, die Lucy nach ihrem Erscheinen anlächelte und sie aufforderte ihr zu folgen.
In ihren Gedanken versunken folgte Lucy der Schwester, die sie über den mit Pflastersteinen verzierten Hof führte. Während sie diesen passierten riss sich Lucy einen Moment lang von ihren Gedanken los, sah sich um. Der kleine, gut gepflegte Hof war von Gebäuden verschiedenster Farben umzingelt, die Innereien waren in Mustern angelegte kleine Blumenbeete, aus denen im Zentrum des Hofes sogar ein kleines überschaubares Labyrinth entstanden war. Lucy lächelte. Sie wusste von dem Moment an, dass sie, sobald sie es durfte, viel Zeit bei diesen Beeten verbringen würde. Sie liebte nun mal die Pflanzen und bei ihren verschiedenen Farben und Gerüchen bot ihr Kopf zig neue Bilder an, auf die zu zeichnen sich Lucy schon freute.
„Komm schon!“, rief Claudia und winkte zu sich, Lucy sah zu ihr und verharrte kurz seufzend bevor sie ihr folgte, eine kleine Treppe hinauf, noch eine Glastür. Wieder standen sie an einer Abzweigung. Vor ihnen ein Treppenhaus, rechts von ihnen ein Treppenhaus. An beiden Abzweigungen hing ein Schild mit den jeweils vertretenen Stationen. Vor ihnen 19, 17, 23. An der Abzweigung rechts von ihnen 22, 16, 14 und 15. „Du bist auf der 17.“, entgegnete die Schwester lächelnd, auf den unübersehbaren, ratlosen Blick der fünfzehnjährigen, und zog diese dann mit in das Treppenhaus und die drei Etagen hinauf zum verriegelten Eingang. Neben diesem waren zwei Lampen angebracht, eine in rötlicher und einer in grünlicher Farbe. Die rötliche leuchtete. Dies war eine der Sicherheitsmaßnahmen, damit keiner der Patienten zu Fliehen versuchen konnte, erklärte Claudia ruhig. Wenn die Lampe rot leuchtete konnte man weder hinein noch hinaus.
Lucy wurde noch unwohler. Sie dachte einen Hund, gefangen gehalten in einem Zwinger, an einen Fisch, dem durch die Glaswände des Aquariums Grenzen gesetzt wurde, an einen Häftling in einem Gefängnis. Und hier musste sie nun wohl oder übel die nächste Zeit verbringen, falls sie überhaupt jemals wieder weg durfte. In ihrem Kopf breiteten sich Horrorszenen aus, zu viele Horrorfilme und Spiele hatte sie gesehen und gespielt, die in einer verlassenen Psychiatrie spielten. Verrückte Menschen mit Kettensägen und Messern, Zombies, Kannibalen, dies waren ihre ersten Gedanken und sie hoffte inständig, nichts dergleichen vorzufinden. Claudia schloss auf und drängte das panische Mädchen hinein, auf die ihr durch ihre Gedanken wie ein Straflager oder ähnliches vorkommende Station.