Mein Wecker klingelt. Müde schlage ich die Augen auf. Noch immer wirkt ein warmes Gefühl irgendwo tief in mir nach. Die vollkommene Dunkelheit, die mich jetzt umgibt, wirkt jedoch wie eine perfekte Verbildlichung meiner Situation. Einen Moment lang hat das Gefühl des warmen Lichtes noch nachgewirkt, doch jetzt holt mich die dunkle Realität wieder ein.
Seufzend raffe ich mich auf. Es hat keinen Zweck, sich weiter solchen Gedanken hinzugeben. Das Leben geht weiter. Ich freue mich auf Mia.
Als ich das Haus verlasse, um sie abzuholen, fällt sie mir auf. Die Fremde. Gestern Abend hatte ich sie schon einmal aus dem Augenwinkel heraus gesehen. Wie gestern schaut sie direkt in meine Richtung. Ich setze eine ablehnende Miene auf, stecke die Hände in die Taschen und gehe ein wenig schneller. Als ich an ihr vorüber gehe, meine ich ein leises Lachen zu hören. Diese Frau ist mir einfach unheimlich.
Mit klopfendem Herzen komme ich vor Mias Wohnung an. Vorsichtshalber öffne ich die Tür - und werde von Dunkelheit begrüßt. Genervt verziehe ich das Gesicht. War ja klar. Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen und überlege mir auf dem weg nach oben, wie ich Mia am besten ärgern könnte. Nur das Licht anzumachen, ist nicht grausam genug; Wasser im Gesicht zu abgedroschen... Zu dumm, dass sie definitiv die Kreativere von uns beiden ist. Der Einfachheit halber entschließe ich mich, beides zu kombinieren. Mit einem nassen, kalten Waschlappen bewaffnet betrete ich ihr Zimmer und schalte das Licht an. Das reicht natürlich noch lange nicht, um Mia zu wecken. Ich stelle mich neben ihr Bett und lasse den Lappen auf ihr Gesicht fallen.
Das platschende Geräusch wird sofort von einem lauten Schrei übertönt. „Iiiieeeeh! Bist du bescheuert, was ist das?!“, schreit sie auf. „Ein Lappen, wie du“, entgegne ich stumpf. „Boah, Saya, der war selbst für deine Verhältnisse schlecht...“, mault sie jetzt und pflückt mit spitzen Fingern den nassen Lappen von ihrem Gesicht. „Ich bin auch nicht in der Stimmung, dir gute Witze zu erzählen. Los, zieh dich an, mach dich fertig, dann schaffen wir es noch zur zweiten Stunde.“ „Und wenn nicht, ist es doch auch egal... Lass uns einfach hierbleiben...“
Ich muss zugeben, dass ihr Angebot verlockend klingt. Die Haare um ihr Gesicht herum sind etwas nass von dem Wasser, der Rest ist noch vom Schlaf verwuschelt. Sie sieht genau so aus wie wenn wir miteinander geschlafen haben. Ausnahmsweise scheint sie meine Gedanken zu erraten und streicht sich in einer gekonnten Geste die Haare aus dem Gesicht. Dann setzt sie sich auf und wirft die Decke zur Seite. Sie hat wie immer bis auf die Unterhose nackt geschlafen. „Komm her...“, flüstert sie verführerisch und streckt mir die Arme entgegen. Wie hypnotisiert klettere ich auf ihr Bett und näher zu ihr, während ich mich innerlich ärgere, dass ich soviel anhabe... Und dann denke ich gar nichts mehr, denn ihre warmen, weichen Lippen legen sich sanft auf meine. Ihr Atem ist noch schlecht vom Schlaf, aber das macht mir nichts. Ohne eine Sekunde zu verschwenden fahren ihre geübten Finger unter mein T-shirt, woraufhin ich meinen Mund öffne und mit meinen Händen ihre Seiten entlang fahre. Meine Hände umfassen sanft ihre Hüften und in einem letzten Versuch sage ich: „Mia, wir müssen los...“ Doch mein Widerstand zerschmilzt, als sie mich erneut küsst und flüstert: „Das willst du doch selber gar nicht...“
Tiefenentspannt und auf eine angenehme Art und Weise erschöpft liegen wir einige Zeit später auf ihrem Bett. Mein Kopf liegt an ihrer Schulter, ihr Arm auf meiner Hüfte. Ich will mich gerade zu ihr umdrehen und etwas sagen, da merke ich, dass sie wieder eingeschlafen ist. Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken. Obwohl ich es ihr gerne gleichgetan hätte und mich gerade so wohl fühle, das ich bestimmt in wenigen Minuten wegdämmern könnte, stehe ich auf und sammele meine Klamotten vom Boden auf. Im Bad mache ich mich frisch und mache dann Frühstück für Mia.
Das ist keine große Arbeit, da sie eh immer nur zwei Toasts und eine Schüssel Müsli isst. Außerdem ist in ihrer Küche auch nicht viel anderes Essbares zu finden. Ich nehme mir selbst einen der Äpfel, die ich mir zwischendurch hier lasse. Sie käme nie auf die Idee Obst zu kaufen... Belustigt schüttele ich bei diesem Gedanken den Kopf. Vorsichtig manövriere ich mich mit den Sachen die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, dann schüttele ich sie sanft wach.
„Ach, Saya... Ich hab gerade so schön geträumt...“, motzt sie schläfrig und rollt sich nochmal ein. „Ich hab dir Frühstück gemacht. Wenn du nicht gleich aufwachst wird dein Toast kalt.“ Sie schaut mich aus braunen Augen vorwurfsvoll an. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du brauchst das nicht zu machen...“ „Das ist nun wirklich keine Arbeit. Iss endlich. Und dann zieh dich an. Wenn du dich beeilst, schaffen wir es noch zur fünften Stunde.“ Sie beißt endlich in den Toast und murmelt dann mit vollem Mund irgendwas unverständliches. Ich schaue sie nur mahnend an. Nachdem sie geschluckt hat, antwortet sie, nicht ohne einen extrem genervten Blick in meine Richtung: „'Dann schaffen wir es noch zur fünften'? Das können wir uns auch gleich sparen... In der letzten Woche läuft eh nix mehr und es gäb sowieso nur wieder eine Rede von der Martin, wo wir die anderen Stunden waren... Lass uns lieber etwas lustiges machen...“
Ich lasse sie aufessen, während ich über ihre Worte nachdenke. Irgendwie hat sie ja schon recht. Was heißt irgendwie, sie hat auf ganzer Linie recht. Und ich habe genauso wenig Lust wie sie auf einen weitere Standpauke von Frau Martin. Da das Wetter immer schön ist, ist es sowieso verwunderlich, warum so viele das ganze Theater mit der Schule mitmachen. Ich meine, wer lässt sich schon bei so warmem Wetter, bei dem es manchmal ganz schön schwer ist, sich zu konzentrieren, freiwillig zwei Drittel des Tages in einem abgeschlossenen Raum einsperren? Je länger ich darüber nachdenke, desto fester wird mein Entschluss heute etwas Schönes mit Mia zu unternehmen.
„Ich sehe, du denkst. Lust, mich daran teilhaben zu lassen?“, grinst sie mich an, nachdem sie aufgegessen hat. Ich lächele zurück. „Ich denke, du weißt längst, wie ich mich entschieden habe.“ „Nein. Du weißt doch, die verschlungenen Wege deiner Gedanken sind mir ein ewiges Rätsel...“ Wir lachen über ihre alberne Ausdrucksweise. „Wir machen heute was Schönes. Du hast vollkommen recht, es ist eh zu spät jetzt noch wieder in die Schule zu gehen.“ Breit grinsend fällt sie mir um den Hals. „Das ist doch mal was. Und hast du dir schon was überlegt?“ „Du wirst es nicht glauben, aber ja. Wir können zum See gehen“, schlage ich vor und ihr Lächeln wird noch etwas breiter. „Super!“
„Dann geh dich anziehen“, sage ich und gebe ihr einen Klaps auf den Hintern als sie aufsteht. Mit einem anzüglichen Grinsen dreht sie sich um und warnt: „Pass auf, sonst ziehe ich mich heute gar nicht mehr an, wenn du verstehst, was ich meine...“ Ich lache und muss zugeben, dass auch diese Möglichkeit nicht schlecht wäre. Aber ich hab mich entschieden. „Ist ja gut. Los jetzt, wir haben schon viel zu viel Zeit vertrödelt.“ „Wir haben alle Zeit der Welt...“, murmelt sie noch etwas schmollend, während sie ins Bad geht. Nachdenklich sehe ich ihr nach. Ihre Worte sind wahrer, als sie sie meint. Oder vielleicht ist sie sich dessen ja sogar bewusst? Ja, wir haben alle Zeit der Welt, wenn wir sie uns nur nehmen.
Während Mia sich fertig gemacht hat, war ich Zuhause, um mich kurz frisch zu machen und schon mal meine Schwimmsachen drunter zu ziehen. Jetzt stehen wir vor meiner Haustür, wo sie schon auf mich gewartet hat. „Wie lange brauchst du denn?!“, lacht sie, als ich aus der Tür trete. Im Gegensatz zu mir hat sie natürlich wieder nichts dabei. „Mia, was ist mit einem Handtuch? Irgendwann erkältest du dich noch...“ Sie verzieht das Gesicht. „Dafür hab ich doch dich, Mami. Du denkst ja schließlich immer an alles“, grinst sie mich dann frech an. Ich verdrehe die Augen und rücke meinen Rucksack zurecht, in dem sich natürlich zwei Handtücher für uns beide befinden.
„Du hast echt Nerven“, murmele ich, als ich genervt an ihr vorbei gehe. „Wie Drahtseile“, lächelt sie breit, doch ich merke, das es nicht ganz echt ist. Dahinter liegt eine Bitterkeit, die ich schon öfter an ihr bemerkt habe. Doch ich habe nie gefragt. 'Wenn sie mir davon erzählen will, wird sie es schon tun', denke ich und schaue wieder nach vorn. Wir treten aus den Tunneln heraus in den ewig hellen Tag Amnias. Wie immer ist die Luft warm und vom Duft der Blumen und Felder erfüllt.
Hand in Hand gehen wir bis zum Rand des Waldes, in dem unser 'See' liegt. Dort bleibt Mia plötzlich stehen und dreht sich mit einem frechen Grinsen zu mir um. „Wer als erster im Wasser ist!“, ruft sie dann, lässt mich los und rennt davon. Noch vollkommen überrumpelt, versuche ich, ihr zu folgen, doch ich bin bei Weitem nicht so fit wie sie. Als ich sie außer Atem einhole, schwimmt sie bereits im Wasser. Ihre Klamotten liegen verstreut am Ufer. „Du bist echt langsam“, grinst sie. „Es reicht, um vom Bahnhof bis zur Klasse mit dir mitzuhalten“, gebe ich atemlos zurück. Mia schaut mich zweifelnd an. „Die Strecke ist total kurz und außerdem halte ich mich immer zurück“, erklärt sie. Ich strecke ihr die Zunge raus und setze mich ans Ufer. Sie kommt näher an den Rand geschwommen und erst jetzt fällt mir auf, dass sie (mal wieder) nackt ist.
Ich werfe ihr einen genervten Blick zu. „Ist das dein Ernst?“ „Was denn?“, fragt sie gespielt unschuldig und spielt mit einer nassen Strähne ihres dunklen Haars. „Kein Handtuch, okay. Aber auch keine Schwimmsachen?“ Sie wirft mir einen verständnislosen Blick zu. „Hier kommt eh niemand hin. Und so ist es schöner. Weißt du, so ist es wie Baden... Mann, ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr gebadet...“, schwärmt sie vor sich hin. „Du hast ja auch keine Badewanne“, entgegne ich trocken, immer noch ein bisschen sauer darüber, dass sie einfach so öffentlich nackt zeigt. „Genau deswegen ja“, seufzt sie theatralisch.
„Kommst du jetzt rein oder nicht?“ „Scheinbar muss dir deine 'Mami' auch noch das Badezeug hinterher tragen.“ „Schön, dann komm rein, wir können um die Wette schwimmen“, schlägt sie grinsend vor. Perplex schaue ich sie an. „Hast du mir nicht zugehört?“ „Ich will dir nicht zuhören“, entgegnet sie schlicht. Drohend richtet sie sich im Wasser auf. „Wenn du jetzt nicht rein kommst, werden deine Sachen nass.“ „Mia, ich hab dir schon gesagt-“ Meine weiteren Worte gehen unter in einem Schwall Wasser, der mich voll ins Gesicht trifft. „Das hättest du nicht tun sollen“, murmele ich so tief und bedrohlich wie ich kann. Schnell ziehe ich wenigstens meine Schuhe aus und stürze mich dann auf sie.
Eine wilde Wasserschlacht, die ich verliere, später, liegen wir im Wasser und lassen uns treiben. Mein Oberteil, meine Hose und meine Socken liegen zum Trocknen im Licht, das sanft auf uns herunter scheint. Müde schließe ich die Augen und konzentriere mich auf das rot meiner Augenlieder, das jetzt mein Blickfeld ausfüllt. Die Leere des Wassers unter mir gibt mir ein angenehmes Gefühl. Als könnte ich einfach loslassen und entspannen. Und als würden all meine Sorgen einfach in die Tiefe hinweg gezogen. „Wenn man sich so treiben lässt, ist es als ob das Wasser die ganzen Sorgen wegschwemmt, hm?“, unterbricht da Mias Stimme die Stille. Ich lache auf. „Zwei Doofe, ein Gedanke, hm?“ Auch Mia lacht.
In der Stille, die auf unsere Freude folgt, holt mich jedoch die Realität ein. Für eine kurze Zeit hatte ich einfach alles vergessen können, doch jetzt werden mir die Konsequenzen bewusst. Mein Vater wird ausrasten, wenn ich nach Hause komme. Die Schule hat ihn garantiert über mein Verhalten informiert... Angst macht sich in mir breit. Genau diese Angst hatte mich bisher immer davon abgehalten zu tun, was ich heute getan habe. Ich verfluche mein Gewissen, dass es mich erst jetzt erinnert und nicht wie sonst vorher gewarnt hat und frage mich im selben Augenblick, warum es heute anders verlaufen ist als sonst...
„Wenn du weiter so viel nachdenkst, lassen die Steine in deinem Magen dich untergehen...“, murmelt Mia neben mir. Ich muss lächeln. Auch wenn sie oft falsch liegt bei dem, was ich denke, weiß sie immer, wann ich mir Sorgen mache und Angst bekomme. „Dann sollte ich wohl besser das Wasser verlassen“, schlage ich vor und schwimme zum Rand. Ich lege mich auf meinem Handtuch ins Licht, um ein bisschen zu trocknen. Mia schaut mir zwar besorgt hinterher, bleibt aber noch ein bisschen im Wasser. Ich schaue hinauf in den grünen Himmel und stelle mir vor, er wäre wieder blau. Blau wie Jiras Augen. Selbst heute noch muss ich immer wieder an das seltsame Mädchen von damals denken.
Auf einmal höre ich Plätschern und sehe wie Mia auf mich zu kommt. Sie steigt aus dem Wasser, schüttelt sich wie ein Hund und grinst mich dann an. „Was grinst du so?“, frage ich verwundert und schaue ihr zu, wie sie sich mit den Händen über den Körper fährt, um ein bisschen trockener zu werden. Ich werfe ihr das zweite Handtuch zu, scheinbar hat sie schon wieder vergessen, dass ich es ihr mitgebracht hatte. „Danke“, sagt sie kurz, zieht sich an und baut sich dann vor mir auf. „Du ziehst ab heute zu mir“, verkündet Mia dann mit einem breiten Lächeln. Bevor ich etwas antworten kann, fährt sie fort und schaut mich an, als ob ich sie nicht alle hätte. „Ich lass dich doch nicht wieder zu dem zurück. Nicht nachdem, wozu ich dich heute verleitet habe. Du kommst mit zu mir.“
Ich kann kaum fassen, was sie da gerade gesagt hat. Dankbar lächele ich sie an, auch wenn ich mir unsicher bin. Aber sie hat schon recht. Ich kann heute unmöglich nach Hause gehen. Und glücklicherweise weiß mein Vater auch nicht, wo Mia wohnt. Das heißt ich wäre sicher. Sie hält mir die Hand hin und ich ergreife sie. „Dann müssen wir aber noch was zum Essen einkaufen“, sage ich neckend und sie streckt mir die Zunge raus. „Du faules Fresskind. Keine Fitness, aber Essen“, neckt sie zurück. „Du vergisst: Ich bin dein faules Fresskind“, entgegne ich und küsse sie zärtlich. Sie lächelt in den Kuss hinein und ich merke, dass sie versteht, wie dankbar ich ihr bin.
Auf einmal löst Mia sich von mir und fährt herum. Am Rand des Teiches steht die Fremde und schaut lächelnd zu uns herüber. „Tut mir leid, ich wollte nicht stören“, sagt sie. Ihre Stimme ist sanft und ruhig. „Kein Problem“, antwortet Mia, doch ich spüre ihre Anspannung. Wir packen schnell die Sachen zusammen und machen uns dann auf den Weg zurück. „Diese Frau macht mir Angst“, sagt sie noch einmal. Wie beim letzten Mal liegt in ihrer Stimme diese Feindseligkeit. Doch jetzt kann ich ihr nicht mehr zustimmen. Seit ich ihre Stimme gehört habe, ist die unerklärliche Angst, die ich vor ihr hatte, verschwunden.
Abends liegen wir zusammen im dunklen Zimmer in Mias Bett. Es ist ruhig und still und ich spüre sie neben mir. Ihre Hand liegt selbst im Schlaf noch in meiner. Ich bin froh, dass ich sie habe. Ich bin froh, dass sie da ist. Ich bin glücklich.
Ja, in diesem Moment bin ich glücklich. Und zum ersten Mal seit langem schlafe ich friedlich und beruhigt ein.
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Nächstes Kapitel:
6: Rückblick III - Wir zehn