Mikene ging in Gedanken noch einmal ihre bevorstehende Reise durch. Hatte sie an alles gedacht?
Ihre Ankündigung, dieses waghalsige Unternehmen zu starten, lag erst drei Wochen zurück.
Die Informationen jedoch hatte sie im Lauf der Jahre zusammengetragen.
Der schwarze Lord – oder dunkle Herrscher – hatte sich selbst den Namen Dark gegeben. All diese Bezeichnungen spielten sowohl auf die Farbe seiner Rüstung an, die er in seinen Kämpfen trug, als auch auf seine Erscheinung. Man erzählte sich jedenfalls, dass er selbst schwarz wie die Nacht sei – dunkle Haare, Augen und buschige Brauen. Weiter umgab ihn eine düstere Aura, die wohl von der Magie kam, die in ihm war und sein ganzes Anwesen gleich einem Nebel durchdrang.
Seinen echten Namen oder Identität kannte hingegen keiner. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und hatte einen Vorschlag gemacht, den die Menschen nicht ablehnen konnten. Was waren schon zwei der ihren aus einem zufälligen Dorf, wenn dadurch ein Großteil der Monster aufgehalten wurde? Dämonen, die jährlich ungleich mehr Opfer forderten?
Seine Residenz – eine Mischung zwischen Burg und Schloss – hatte er frech im Dämonenland selbst errichten lassen.
Dorthin zu kommen, war die erste Hürde. Denn das Land war weit entfernt und grundsätzlich nur über den Seeweg zu erreichen. Wenn man denn einen Kapitän fand, der erstens den Kurs dahin kannte und zweitens auch bereit war, dorthin zu segeln.
Gerüchteweise gab es jedoch noch einen anderen Weg.
„Du bist sicher, dass wir es nicht doch auf dem Seeweg versuchen sollen?“ Lange hatte Vaar mit ihr geschwiegen. Doch nun war seine Geduld offensichtlich vorbei.
Ihr Freund – natürlich ließ er sie nicht im Stich. Auch wenn er absolut nichts von ihrem Plan hielt. Wie auch Corvus, sein Bruder, der ebenfalls mit von der Partie war. Alle drei saßen zusammen in Vaars kleinem Haus, um noch einmal alles kurz durchzusprechen.
„Diese Möglichkeit steht uns immer noch offen, falls wir das Portal nicht finden. Ihr wisst doch selbst, wie schwierig und lang eine Schiffsreise sein würde.“
„Aber du weißt selbst, dass dein magisches Tor in ‚Andersons Kloster‘ nicht viel mehr als ein Gerücht ist?“, widersprach ihr Freund. „Genauso wie das Gerede, Duke Bowie sei nur noch gelegentlich dort?“
„Ob Duke noch da ist, weiß ich nicht. Aber immer wieder tauchen die Soldaten des dunklen Lords in der Nähe des Klosters auf und sammeln sich dort. Ohne dass vorher ein einziges Schiff gesichtet wurde. Du selbst hast das ja auch schon gehört, nicht wahr, Vaar?“
Der Mann nickte widerwillig. „Ich weiß. Aber möglicherweise zaubert Dark sein Heer einfach hin und her. Es muss dort kein Übergang zum Dämonenland geben.“
„Manche behaupten, eines gesehen zu haben, was aber nicht stimmen muss, das gebe ich zu. Die einzige Chance es herauszufinden ist, selbst diesen Ort aufzusuchen.“
„Was meinst du dazu, Corvus?“ Vaar wandte sich seinem Bruder zu, der bisher schweigend ihrer Diskussion gelauscht hatte.
Was aber durchaus nicht ungewöhnlich war. Corvus war im Allgemeinen sehr wortkarg. Seit einer seltsamen Erkrankung, die ihn viele Wochen ans Bett gefesselt hatte, hatte er eine sehr heisere Stimme und sprach nur wenig, da es ihn wohl auch anstrengte. Seine Stimmbänder oder sein Kehlkopf schienen dauerhaft Schaden genommen zu haben.
Deshalb überlegte er auch einige Minuten, ehe er antwortete. „Kloster – Soldaten Gefahr möglicherweise. Portal ungewiss. Trotzdem versuchen. Weil kürzer. Und dunkler Lord unser Ziel. Daher Soldaten zweitrangig.“
„Das hört sich doch gut an, oder? Dann machen wir es so.“, lächelte sie zufrieden.
„Es ist eh deine Mission, Mikene. Wir begleiten dich nur, damit du möglichst heil aus der ganzen Sache herauskommst. Und wenn du alles abblasen willst, sind wir die letzten, die dich daran hindern.“
„Das weiß ich. Und daher schätze ich eure Unterstützung umso mehr.“
„Die soweit führt, dass wir morgen in einer Nacht- und- Nebel- Aktion einfach heimlich verschwinden, obwohl du allen erzählt hat, dass du erst in zwei Monaten aufbrechen willst“, seufzte Vaar. „Ich hätte mich gerne persönlich von meinen Freunden und Bekannten verabschiedet und nicht nur mit einem Brief.“
„Du hast recht“, stimmte sie leise zu. „Und es tut mir leid. Aber du kannst dir denken, warum ich so handeln muss.“
Die Verletzung der Frau saß tief und gründete in dem Ereignis vor sechs Jahren. Denn hätten die Dorfbewohner sie damals nach der Verhaftung ihres Freundes nicht pausenlos überwacht und nachts eingesperrt, so wäre sie wohl schnurstracks in Richtung Dämonenland losmarschiert, um vom schwarzen Herrscher die Herausgabe Jads zu fordern. Sofern sie denn lebend dort angekommen wäre.
Natürlich verstand sie die Beweggründe für das Handeln. Und ganz rationell gesehen hatten die Leute sie nur schützen wollen.
Ihr Vertrauen war seit diesem Vorfall jedoch dahin. Und war alles noch so nachvollziehbar, ihr Herz fühlte sich verraten. Verraten und gebrochen.
Dieser Plan war nicht nur dem Mut der Verzweiflung zu verdanken, sondern war viel mehr ein Himmelfahrtskommando. Denn die Wahrscheinlichkeit, dies alles zu überleben, war recht gering.
Aber nicht völlig aussichtslos.
Dies sagte sie sich immer wieder. So verdrängte sie, dass diese Reise durchaus etwas mit einer ungewissen Todessehnsucht zu tun hatte. Heldenhaft zu sterben und ihren Liebsten dann vielleicht im Himmel – oder wo auch immer – wiederzusehen.
Und ihre Freunde riss sie mit ins Verderben.
Doch was sollte sie anderes tun?
Denn über eines hatten sie noch gar nicht gesprochen.
Angenommen, sie schafften es, aller Widrigkeiten zum Trotz. Und standen eines Tages vor dem Thron des dunklen Lords.
Was sollte sie diesem Manne sagen?
Sie hasste ihn. Wie sollte sie da mit ihm vernünftig verhandeln? Wie ruhig bleiben und die Gefühle unterdrücken, die in ihr waren?
Es war für Belletristica. Vielleicht konnte dieser Gedanke ja helfen.
Aber der Zweifel blieb. Zweifel, dass spätestens an dieser Stelle ihre Mission scheitern würde.