Joran rückte das Paket unter seinem Arm zurecht, bevor er energisch den Türklopfer des Hauses in der Calle San Lorenzo betätigte. Es dauerte eine Weile, bis er das Knarren hörte und der Türflügel sich einen hellen Lichtspalt weit öffnete, um dann rasch aufgerissen zu werden. Der afrikanische Hausdiener, eine Laterne in der Hand, verbeugte sich und ließ ihn eintreten. Während der Diener die Pforte wieder schloss, schritt Joran die Stufen zum Eingang hinauf und öffnete die massive Eichentür. Er betrat ein Vestibül und dann einen Korridor, von dem mehrere Kammern abgingen. Vor der Tür der letzten Kammer zur Linken blieb er stehen und wartete, bis der Diener herangekommen war, um ihn beim Hausherrn anzumelden.
Joran sah die einladend geöffnete Tür und schluckte schwer. Selbst die wenige Flüssigkeit schien ihm im Hals stecken zu bleiben. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Die Schwelle zu überqueren bedeutete, einen Schritt in eine wahrhaft höllische Welt zu tun, die er aus tiefstem Herzen verabscheute. Beinahe noch stärker quälte ihn jedoch das Wissen, dass er jederzeit umkehren und davonlaufen konnte. Der Mann würde nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Doch im gleichen Moment wusste Joran, dass er diesen Akt der Feigheit nicht begehen konnte. Das Paket, das er mitgebracht hatte, musste seine Empfängerinnen erreichen. Gleichgültig, welchen Preis man ihm dafür abverlangen würde. Entschlossen betrat er die Kammer.
»Willkommen, willkommen«, tönte es leutselig vom Fenster her. In einem mit rotem Samt bezogenen Sessel saß ein Mann, den Joran nur unter dem Namen ‚Bischof´ kannte. Der Bischof war ein stattlicher Mann um die vierzig mit durchdringendem Blick, dessen Haare noch von den nächtlichen Vergnügungen zerrauft waren. Quer über seinem Schoß lag ein Gehstock aus dickem Holz, der die Form eines Bischofsstabes besaß.
»Für wen ist das Paket, mein Lieber?«, fragte der Bischof. »Für die alte Hure mit den Brüsten wie Euter oder die junge, hübsche mit dem Apfelhintern?«
»Für meine Mutter. Und meine Schwester.«
»Oh, ich vergaß. Du kannst es ja nicht leiden, wenn man deine lieben Verwandten als Huren bezeichnet. Dabei ist die Bezeichnung durchaus schmeichelhaft. Was ist im Paket?«
»Frische Kleider. Seife. Medizin. Drei Matapan für Essen.«
»Drei Matapan? Was für ein großzügiger Sohn du doch bist. Gib her das Paket.«
»Erst, wenn Ihr mir schwört, dass es bei den Frauen ankommt.«
»Ich bestimme, wann du mir dein Paket zu geben hast«, sagte der Bischof mit einem höhnischen Grinsen.
Joran versteifte sich innerlich. Der Bischof brauchte nie lange, um ihn seine Überlegenheit spüren zu lassen. Er war ein Mann, der seine Macht genoss und an jeder Ecke Streit suchte. Seit drei Jahren führte er dieses geheime Haus, in dem jede Art Perversion geboten und verkauft wurde, die ein Mann sich nur wünschen konnte.
»Los, auf die Knie mit dir «, sagte der Bischof und deutete mit seinem Stock auf den Boden. »Wenn ich den Plunder weitergeben soll, benimm dich, wie es sich für einen Sklaven geziemt.«
Joran beugte die Knie. Er wusste aus Erfahrung, wie wenig Sinn es hatte, sich zu weigern. Besser, er brachte es so schnell wie möglich hinter sich. Mit demütig gesenktem Kopf bot er dem Bischof sein Päckchen dar. Dabei streifte er unabsichtlich das Knie des Mannes. Der Bischof sprang auf, hob seinen Stab und schlug damit hart auf seinen Rücken. Der Schmerz war stechend, durchdringend und betäubend, und seine Wucht ließ Joran vornübersinken. Der zweite Schlag landete mitten auf seinem Hinterkopf, rasch gefolgt von einem dritten, der hart genug war, um Knochen zu brechen. Joran lag mittlerweile auf allen vieren, rang nach Atem und versuchte, sein Bewusstsein vor dem aufwallenden Zorn zu verschließen. Er durfte nicht bei jedem Besuch im Haus des Bischofs mit seinen Gefühlen kämpfen. Er musste sie verdrängen, wenn er überleben wollte. Und es war notwendig, dass er überlebte. Für seine Mutter. Für Leocadia, seine süße Schwester, die erst elf Jahre alt war.
»Schön. Jetzt steh auf«, befahl der Bischof. »Geh in die vierte Kammer und bereite dich darauf vor, einen Gast zu bedienen. Ich habe einen Kunden mit besonderen Vorlieben, der darauf brennt, dich zu bekommen. Er war sehr erfreut, zu hören, dass es dir gefällt, wenn du hart und brutal geritten wirst.«
»Nein«, sagte Joran.
»Was war das?«, fragte der Bischof und lehnte seinen Stock an den Sessel. Er hielt den Kopf leicht geneigt und lächelte.
»Nein«, sagte Joran. »Es gefällt mir nicht und ich werde es nicht tun.«
Der Bischof kam näher. »Weißt du, was du brauchst?«, sagte er, noch immer lächelnd. »Du brauchst einen kleinen Ritt zum Aufwärmen. Damit du schön geschmeidig bist, wenn unser Gast kommt. Zieh den Sack aus, den du Gewand nennst, beug dich über den Tisch und lass mich machen. Ich bin sicher, es wird dir gefallen.«
»Das wird es nicht«, sagte Joran. »Ganz bestimmt nicht.«
»Das ist aber schade«, sagte der Bischof. »Nun, dann muss ich unserem Gast eben deine liebreizende Schwester als Ersatz anbieten. Sie ist doch bestimmt noch unberührt, die Kleine, hm? Stell dir nur vor, welchen Schaden so ein großer, gut bestückter Hengst bei ihr anrichten könnte…«
»Fahrt zur Hölle und bratet dort in Ewigkeit!«
Der Bischof lachte laut und lange. »Nur zu, mach weiter mit deinen Beleidigungen. Du scheinst zu glauben, du hättest einen Trumpf im Ärmel. Spiel ihn aus; ich brenne vor Neugier.«
Joran ballte die Faust und entkrampfte sie wieder. »Ich übernehme den Kunden.«
»Na bitte«, sagte der Bischof und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es hat ein bisschen gedauert, aber nun haben wir diesen kleinen Missklang aus der Welt geschafft. Und jetzt solltest du dich sputen. Dein Kunde wird bald eintreffen.«
»Was will er?«
»Du wirst ihn nackt und unterwürfig empfangen und dich bereitwillig fesseln lassen, wenn der Herr es wünscht. Und sieh zu, dass dein Gemächt nicht wieder aussieht wie eine verschrumpelte Mohrrübe. Dein letzter Kunde war nicht zufrieden mit deiner bescheidenen Reaktion auf seine Bemühungen. Wenn das noch einmal vorkommt, wird mich nichts daran hindern, die Jungfernschaft deiner Schwester an den Meistbietenden zu verkaufen. Verstanden?«
Joran biss die Zähne zusammen und blieb stumm, doch sein Gesicht, seine Augen, sein ganzer Körper zog sich zu einer einzigen Maske des Hasses zusammen. Ohne den Bischof noch einmal anzusehen, wandte er sich um und ging den Flur entlang. In der zugewiesenen Kammer legte er seine Kleider ab und setzte sich auf den Rand des Bettes. Die Rosshaarmatratze war bequem und sie roch frisch gelüftet. Doch beim Anblick der um die Bettpfosten geschlungenen Fesseln schnürte es ihm den Hals zu. Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich zu sammeln. Er lockerte Nacken und Schultern und hoffte, dass er stark genug war, dem entgegenzutreten, was kommen sollte. Es würde noch schlimmer werden als bei seinen vergangenen Aufenthalten im Haus des Bischofs. Die vierte Kammer war berüchtigt. Jeder Gegenstand darin war darauf ausgelegt, einen Mann zu demütigen und zu quälen. Wobei die Auswahl an Peitschen und Stöcken auf dem Tisch kaum noch Schrecken für ihn barg. Schläge konnte er aushalten. Er hatte gelernt, mit dem Schmerz umzugehen, ihn tief in seinem Inneren einzuschließen, bis er nur mehr ein ferner Schatten am Rand seines Bewusstseins war. Es waren gierige Hände auf seiner nackten Haut, die eine Hölle des Wahnsinns erschufen. Er hasste es, sich nicht wehren zu dürfen, egal wie abstoßend die Handlungen waren, die von ihm verlangt wurden. Joran saß reglos da, hielt die Augen geschlossen und betete darum, nicht zu hören, wie die Tür aufging. Er wollte nicht angefasst werden, wollte kein fremdes Gemächt in seinem Körper spüren. Doch er konnte nirgendwohin gehen, nirgendwohin fliehen. Das war er Leocadia schuldig. Er starrte auf den Boden, während in seinem Kopf die Bilder aller Schmerzen und Strafen, Demütigungen und Erniedrigungen aufleuchteten, die er erlitten hatte, um seiner Schwester dieses Schicksal zu ersparen.
Joran spürte die Anwesenheit des Bischofs schon, bevor er ihn hörte. Er stand in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, ein schräges Grinsen im Gesicht. Hinter ihm stand der Kunde, eine schwarze Karnevalsmaske vor dem Gesicht. Der Bischof führte ihn in die Kammer, verbeugte sich und zog sich zurück. Joran beobachtete, wie der Maskierte seinen Umhang ablegte. Darunter war er vollkommen nackt. Er trat näher und rieb Joran mit der Handfläche über die Brust, während er ihn beobachtete.
»Mir scheint, der Bischof hat die Wahrheit gesprochen. Du brauchst den Schmerz, um in Fahrt zu kommen. Das gefällt mir.«
Joran blinzelte, in dem Versuch, die Schweißtropfen abzuwehren, die ihm in die Augen zu laufen drohten. Seine Stimme klang heiser vor unterdrückter Anspannung und Zorn. »Was wollt Ihr?«
»Blas mir einen.«
Joran sank vor dem Mann auf die Knie, schloss die Augen und verdrängte jeden Gedanken aus seinem Bewusstsein. Feuchte Hände hielten seinen Hinterkopf und drückten ihn nieder, bis er würgend um Atem rang. Der Mann ohrfeigte ihn. Der Schlag kam schnell und hart und Joran hatte Mühe sein Gleichgewicht zu halten. »Du bist tatsächlich ein eiskalter Bastard«, sagte der Mann und griff nach einer dünnen Weidenrute. »Beuge dich über den Tisch und spreize die Beine. Wollen wir doch einmal sehen, ob es nicht gelingt, dir eine Reaktion zu entlocken.«
Joran gehorchte widerwillig. Der Mann schlug ihn mit der Weidenrute auf Rücken, Hintern und Beine, sodass die Haut augenblicklich anschwoll. Rote Striemen erschienen auf seinem Rücken und seine Muskeln zuckten unter den Schlägen. Doch Joran gab keinen Laut von sich. Er war wie erstarrt und wünschte, der Maskierte würde ihn umbringen, noch bevor die Nacht vorüber war.
In der Stunde zwischen Nacht und Dämmerung ließ der Maskierte Joran endlich gehen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf trat er in den wallenden Nebel hinaus. Sein ganzer Körper schmerzte und pochte. Doch damit wurde er fertig. Mit Schmerz konnte er leben. Was ihm zusetzte, waren die Erinnerungen an die Nacht, an Hände, die wie Insekten über nackte Haut krochen. An fiebrige Erregung vermischt mit Ekel vor dem Verrat seines Körpers. Selbst jetzt glaubte er, heißen Atem in seinem Nacken zu spüren und starke kräftige Beine, die sich um seine schlangen. In seinem Kopf hörte er Stöhnen und irres Gelächter, sein Rücken und Hals feucht vom Schweiß und Speichel eines anderen Mannes. Scham und Ekel drehten ihm die Eingeweide herum. Er taumelte zur Kanalmauer, sank auf die Knie und übergab sich ins Wasser.
Schritte erklangen. Ein gelblicher Flecken tauchte aus dem Nebel auf. Eine Lampe wurde neben ihm auf den Boden gestellt. Kräftige Hände ergriffen seinen Oberarm. »Kommt, Herr. Ich bringe Euch nach Hause.«
Joran kam taumelnd auf die Füße und ließ sich von dem Alten zu einer nahegelegenen Wassertreppe führen. Dort lag ein robustes Boot vertäut und Joran fragte sich einen kurzen Moment lang, wie der Alte es wieder einmal geschafft hatte, genau im richtigen Moment zur Stelle zu sein. Joran hatte ihm nie erzählt, wohin er ging oder was er im Haus des Bischofs tat. Trotzdem wusste der alte Bescheid. Joran konnte es an seinem Gesicht sehen. Es war ein Gefühl, das ihn glauben ließ, ein Stück von ihm sei schon tot. Und er sah keine Möglichkeit, es jemals zurückzubekommen.
Der Alte stieg ins Boot und Joran reichte ihm erst die Lampe, und dann die langen Ruder aus Buchenholz, bevor er selbst hineinkletterte.
»Braucht Ihr etwas? Habt Ihr Durst? Ich habe eine Decke mitgebracht. Es ist frisch auf dem Wasser.«
»Gib mir Wein, wenn du hast«, sagte Joran. Er bekam einen verstöpselten Tonkrug und setzte sich damit auf die Bank hinter dem Mast. Während der Alte ein Ruder ins Wasser tauchte, um das Boot von der Kanalmauer wegzustoßen, zog er den Stöpsel aus der Öffnung und trank gierig. Der Wein war süß und stark und Joran hoffte, dass die Menge reichen würde, um ihm ein paar Stunden traumlosen Schlaf zu schenken.
»Herr?«, fragte der Alte zaghaft. »Wollt Ihr nicht darüber sprechen? Gibt es einen Grund, warum ich nicht erfahren darf, was Eure Augen so leblos gemacht hat?«
Joran hob den Blick. Der Alte stand aufrecht im Heck des Bootes, leicht nach vorne gebeugt, sodass er mit seinem Körpergewicht gegen die in Riemengabeln aus Wurzelholz liegenden Ruder drücken konnte, und beobachtete ihn. Joran schwieg. Er wollte nicht, dass der Alte wusste, was ihm angetan wurde. Er wollte nicht, dass irgendjemand es wusste. Er hatte den Alten gern, aber in diesem Moment konnte er es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen, weil er Angst hatte, dass er direkt durch ihn und all seine Verzweiflung und Scham hindurchsehen und die Wahrheit erkennen würde.
»Lasst nicht zu, dass dieser Ort Euch tötet, Herr«, sagte der Alte. »Lasst nicht zu, dass er Euch denken lässt, Ihr wäret härter, als Ihr seid.«
Joran wandte den Blick ab und kämpfte gegen den Drang, seinem Schmerz freien Lauf zu lassen, dankbar, dass es einen Menschen gab, der sich um ihn sorgte, der sein Bedürfnis zu schweigen vielleicht nicht verstehen, aber trotzdem respektieren würde.
Joran nahm einen tiefen Schluck. »Du solltest nicht mehr hierherkommen. Es ist nicht gut, wenn du das tust.«
Der Alte schüttelte missfällig den Kopf, sagte jedoch nichts, sondern konzentrierte sich aufs Rudern.
Die Sicht war noch immer sehr schlecht. Frühnebel verhüllte die Gassen und Wasserwege. Als farbloser, dicker Dunst wallte er von allen Seiten heran und verbarg Brücken, Kais und Fassaden. Die Laterne am Mast vermochte das undurchdringliche Grau nicht zu erhellen, und auch die vereinzelt erkennbaren Fackellichter an den Häusern waren nichts als verwaschene gelbliche Flecken in der Dämmerung.
Bei der Einfahrt in die Lagune wurde es besser. Ein verblassender Mond erhellte das ölige Wasser. Der Alte zog das Segel auf und das Boot gewann an Fahrt. Bald schälte sich der äußere Zipfel von Castello vor ihnen aus der Dämmerung, ein formloser Schatten, der ihnen zeigte, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Joran stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel, legte die Fingerspitzen unter dem Kinn zu einem Dach zusammen und sah den Alten unverwandt an. In dessen Haus auf dem Lido wartete eine weitere Aufgabe auf ihn, von der er noch nicht wusste, wie er sie angehen sollte. Wenn er die richtigen Entscheidungen traf, hatte er gute Aussichten seine Freiheit zurückzugewinnen. Entschied er sich falsch, konnte er sich besser gleich vom nächsten Kirchturm stürzen. Er sah auf die Lagune hinaus und dachte nach. Er brauchte etwas, um seine Feinde aus der Deckung zu locken. »Ein Köder voller Widerhaken«, murmelte er. Und mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte.