An einem Donnerstag Ende September stand die Gruppe von Jugendlichen inmitten von Rucksäcken, Schlafsäcken, zusammengerollten Decken und Reisetaschen auf dem Hof vor dem Lycée de Biarritz. In aller Herrgottsfrühe hatten sie antreten sollen, der Himmel im Osten zeigte gerade einmal eine Ahnung des neuen Morgens. Die meisten Teenager gähnten und waren noch viel zu müde, um sich zu unterhalten. Ebenso übernächtigte Eltern standen dabei und warteten darauf, ihren Nachwuchs in die Hände der Lehrkräfte abschieben zu können, um zu Hause in Ruhe frühstücken zu können, bevor sie selbst zur Arbeit mussten.
Lucien, der die Nacht ohnehin nicht hatte schlafen können, hockte teilnahmslos auf seiner Reisetasche und zupfte an den Schnürsenkeln seiner neuen Wanderschuhe.
Der Einzige, der wach aussah, war Mathieu. Der Schulsprecher lief mit einem Klemmbrett durch die verpennten Jugendlichen und hakte ihre Namen auf seiner Liste ab.
Pedantischer Freak, dachte der Rothaarige nur und konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, als Mathieu ihn passierte, abhakte und dann über Luciens Schlafsack stolperte.
»Stell’ das Ding an die Seite, Mann!«, fauchte der Blonde und strich sich den Pony aus dem Gesicht.
»Außer dir ist keiner drüber gefallen. Wie wäre es mit Augen aufmachen?«
»Wieso du überhaupt hier bist, ist mir ein Rätsel.«
»Na dann rate mal schön weiter.« Lucien senkte den Kopf wieder auf seine Schuhe und kniff die grauen Augen zusammen. Er hatte Kopfschmerzen bekommen und verstand noch immer nicht, warum seine Mutter ihn hier mitfahren ließ, wo sie sich doch solche Sorgen um seinen Zustand machte und wollte, dass er sich schonte. Dieser Stress und die Unlust, hier zu sein, halfen ihm aber nicht wirklich.
Er war froh, dass er einen neuen Satz Medikamente aus dem Krankenhaus bekommen hatte. Immerhin musste er alle zwei Wochen zu einer Routineuntersuchung.
Seit seinem Abklappen auf dem Klo war nichts in dieser Richtung mehr geschehen, doch natürlich wunderten sich seine Mitschüler darüber, dass er plötzlich nicht mehr an den Sportstunden teilnahm, obwohl er vor den Ferien noch zu denen gehört hatte, die am eifrigsten dabei waren.
Auf die Fragen danach hatte sich Lucien mit einem Rückenleiden herausgeredet, das ihn beeinträchtigen würde. Und natürlich die Migräne, die die meisten seiner Klassenkameraden schon das eine oder andere Mal live miterlebt hatten. Lucien konnte dann nämlich wirklich richtig ungemütlich werden.
Warum er wirklich keinen Sport mehr trieb, ging niemanden etwas an. Sie würden es noch früh genug mitbekommen.
»Guten Morgen«, dröhnte die tiefe Stimme von Monsieur Dufayel über den Platz und jeder, ob Schüler oder Elternteil, wandte den Kopf zu dem massigen Sportlehrer, der zwei Beutel in der Hand hielt und einen neckischen, nicht recht zu ihm passenden Hut auf dem Kopf trug. »Versammelt euch bitte alle hier.«
Die Jugendlichen taten wie gewünscht und blickten abwechselnd sich und den Lehrer an, der geduldig wartete.
»Also«, fuhr der Mann fort, als alle bereit standen, »da wir ohnehin noch auf die Busse warten, können wir die Zeit sinnvoll nutzen und losen erst einmal aus, wer mit wem in ein Zelt geht. Und ich sage es gleich: Ich will kein Theater hören! Die Ziehung ist bindend.«
Murren schwoll an, doch ein finsterer Blick des Lehrers genügte, um es ersterben zu lassen. Monsieur Dufayel strahlte Autorität aus jeder Pore aus und keiner wollte ihm in die Quere kommen, selbst Lucien blieb ruhig und nahm es gleichmütig hin.
»Es gibt Zwei-Mann-Zelte für die Mädchen und die Jungen. Die Jungen ziehen Ziffern, die Mädchen Buchstaben. Die, die übereinstimmen, sind logischerweise in einem Zelt. Getauscht wird nicht, ich schreibe die Losungen auf.«
Lucien konnte sehen, dass der Tutor des zehnten Jahrgangs nach dem gleichen Prinzip vorzugehen schien und seine Schüler ziehen ließ. Der Jugendliche musste grinsen, als Mathieus Schwester Celeste, die ihn an diesem Morgen zum Glück noch in Ruhe gelassen hatte, offenbar einen Buchstaben und damit eine Zeltpartnerin gezogen hatte, die ihr nicht zusagte und gerade einen mittelschweren Anfall zu bekommen schien.
Auch der Blonde bemerkte es und zuckte leicht mit den Schultern, als sein Blick auf den von Lucien traf. Stummes und seltenes Nervensägen-Einverständnis lag zwischen den beiden.
»Mach’ den ersten Zug, Mathieu«, brummte der Sportlehrer, der selbst mit einem Lächeln im Gesicht noch grimmig aussah, und der Schulsprecher griff in einen der beiden Stoffbeutel.
»Zwei«, sagte der Jugendliche und trug die Nummer auf einer anderen Liste auf seinem Klemmbrett ein.
Gut, dachte Lucien, also ist alles gut außer der Nummer Zwei. Er wollte zwar ungern die Wette gegen Etienne verlieren, der sich dumm lachen würde, aber andererseits ... fünf Tage in einem kleinen Zelt mit einem Pedanten wie Mathieu? Niemals!
Doch je kürzer die Schlange seiner Mitschüler vor ihm wurde, umso flauer wurde ihm, denn die verfluchte Ziffer wurde einfach nicht gezogen. Als er dran war, spürte er zu seiner Überraschung, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug und als er sein Zettelchen auseinander faltete, stieß er einen Fluch aus.
»Nein! Das akzeptiere ich nicht«, fauchte er. »Ich werde auf keinen Fall mit Grantaine in ein Zelt gehen!«
Monsieur Dufayel nahm ihm das Blatt Papier weg und lächelte milde, knurrte dann aber trocken: »Reg’ dich nicht zu sehr auf, Lucien, sonst könnten die Leute noch denken, du freust dich insgeheim darüber. Mathieu, die Zwei. Schreib’ es auf.«
Der Blonde, der nicht weniger verkniffen aussah, nickte nur und sagte nichts, während Lucien krebsrot anlief und froh war, dass die Morgenröte das versteckte. Ihre umstehenden Mitschüler lachten über die Worte des Lehrers und machten spöttische Geräusche. Sie wussten alle von dem dauernden Kampf zwischen den beiden Jungen und fanden es lustig.
Der Rothaarige schnaubte und machte auf den Hacken kehrt, um zu seinen Sachen zurückzukehren. Das alles hatte ihm seine Mutter eingebrockt. Erst blödes Camping irgendwo im Süden an den Ausläufern der Pyrenäen, dann Mathieu und einen doofen Spruch seines Lehrers. Als würde sich irgendjemand freuen, mit diesem Langweiler zusammenzusein.
Selbst Thomas, der offen dazu stand, dass er Jungen mochte, fand Mathieu nicht interessant genug, um ihm auch nur einen zweiten Blick zu schenken. Sagte das nicht alles?! Die Einzige, die ihn toll fand, war seine Assistentin aus der Schülervertretung und die war ein graues Mäuschen, die vor anderen Leuten nie den Mund auf bekam und wenn doch, vor Nervosität ihre Sachen fallen ließ.
Wutschnaubend ließ der Jugendliche sich auf die Tasche fallen und zog sein Handy heraus. Ihm war egal, dass es noch nicht einmal Sieben war, er schrieb Etienne eine SMS, dass er die blöde Wette gewonnen hatte. Immerhin etwas. Er, Lucien, hatte schließlich vorausgesagt, dass das geschehen würde. Vermutlich war das gezinkt gewesen, um sicherzugehen, dass Mathieu ein Auge auf den Störenfried haben würde.
Als die Busse kamen, sammelten sich die Schüler nach ihrem Jahrgang und die letzten Eltern verabschiedeten sich für das Wochenende.
»Glaub’ ja nicht, dass ich auch im Bus neben dir sitze!«, fauchte Lucien dem Schulsprecher zu, als sie ihre Taschen verstauten und einstiegen.
Mathieu, der wieder irgendetwas abhakte, zog nur eine Augenbraue hoch. »Es steht dir völlig frei, dich zu setzen, wohin du willst. Wir sind nicht mehr in der Grundschule, wo so eine Auslosung An-den-Händen-halten und so bedeutete.«
Lucien schnaubte. »Das hättest du wohl gern, was?«
»Oh ja, natürlich. Davon träume ich jede Nacht«, entgegnete der Blonde mit so viel Hohn in der Stimme, dass der Andere einen Augenblick lang fast beeindruckt von ihm war.
»Glaub’ ich dir, Penner«, schnappte Lucien jedoch und schob sich zwischen zwei Mädchen hindurch, die ihm vorhielten, sich vorzudrängeln, aber das kümmerte ihn nicht.
Er ging nach hinten durch und warf sich auf einen der Fensterplätze der letzten Bank. Der Bus war für die zwanzig Schüler seines Jahrgangs viel zu groß, also würde er seine Ruhe haben. Müde und froh, endlich bequem zu sitzen, warf er den Rucksack neben sich und nahm eine Schmerztablette. Die durfte er frühestens eine Stunde nach der ersten Mahlzeit des Tages nehmen und da seine Mutter ihn zwar nicht begleitet, aber ein Frühstück gemacht hatte, war die Zeit nun gekommen.
Lärmend und aufgeregt, endlich fortzukommen, purzelten nach und nach seine Mitschüler hinein, doch wie Lucien es vorhergesagt hatte, kam keiner auf die letzte Bank zu ihm.
Er war zwar kein Außenseiter in seinem Jahrgang, aber die Leute wussten, dass er keinen großen Wert auf Gesellschaft legte, ausgenommen man hieß Etienne. Sie hatten es schon lange aufgegeben, den Rothaarigen in ihre Gruppenaktivitäten oder Unterhaltungen mit einbeziehen zu wollen. Lucien galt als Einzelgänger, der wortkarg war und den man selten mal lachen sah. Der häufig sein Desinteresse an schulischen Veranstaltungen verkündete, aber trotzdem immer mit anpackte, wenn es nötig war und der das Arschloch heraushängen ließ, aber durchaus nett sein konnte.
Viele der Mädchen in seinem Jahrgang fanden ihn entweder beängstigend oder insgeheim scharf, aber er hatte sich nie näher mit einer befasst. Die Einzige, die nicht eingeschüchtert von ihm war, war Josephine. Die beiden kannten sich bereits aus dem Kindergarten und das rotblonde Mädchen war eine der wenigen, die wussten, wie sie sein rotziges Verhalten zu nehmen hatten. Sie nahm jedoch nicht an dem Ausflug teil, denn sie hangelte sich normalerweise so von Trimester zu Trimester, immer im Kampf mit sich und ihren Noten. Die Lehrer hatten ihr nicht erlaubt, mitzufahren.
Was Lucien doof fand. Er war eigentlich auch nicht gut genug, um teilzunehmen, sondern durfte nur, weil er eine Bombe in seinem Kopf hatte und die Lehrerschaft offenbar versuchte, es ihm recht zu machen. Josephine hing zwar meistens mit ihrer besten Freundin ab, die ebenfalls nicht mitfuhr, aber hätte sich garantiert während der Fahrt einmal zu ihm gesetzt, um über Musik zu quatschen oder ein paar derbe Witze auszutauschen.
So machte er es sich bequem für eine lange Fahrt, während der er mit sich allein war und versuchen konnte, den Schlaf der Nacht nachzuholen.
Und tatsächlich war er eingeschlafen, noch bevor der Bus vom Gelände gefahren war und bemerkte nicht, dass Mathieu sich ihm gegenüber auf den anderen Fensterplatz der letzten Bank gesetzt hatte und irgendwelche Unterlagen sortierte, bevor er sich in ein dickes Buch vertiefte.
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Es war bereits Nachmittag, als Lucien wieder erwachte und sich mit einem verkaterten Knurren zu strecken versuchte. Der beengte Platz zwischen seinem und dem Vordersitz ließ jedoch nicht viel zu und so blieb er verspannt sitzen. Er rieb sich über das verschlafene Gesicht und nahm kleine Schlucke aus seiner Wasserflasche. Die Tabletten hatten gut angeschlagen und er war beinahe völlig schmerzfrei.
Es war still im Bus, die meisten schienen sich ebenfalls ein Nickerchen zu gönnen. Lucien zog die Augenbraue hoch, als er sehen konnte, wer sich zu ihm auf die letzte Bank gesellt hatte.
Offenbar hatte Mathieu doch das Verlangen danach gehabt, neben ihm zu sitzen, wenn auch mit drei Sitzen Platz dazwischen. Der Rothaarige grinste spöttisch, denn auch der Schulsprecher war eingepennt und lag mit dem Kopf auf seiner zusammengerollten Jacke. Wie harmlos er aussah, wenn er schlief. Wie wenig er nervte!
Mit einem leisen Seufzen, um den Blonden ja nicht aufzuwecken, wandte sich Lucien wieder ab und blickte aus dem Fenster.
Sie hatten die Küste bereits vor Stunden hinter sich gelassen und waren ins Inland gefahren, nach Südosten, wie der Busfahrer erklärt hatte, nahe an die spanische Grenze in die Ausläufer der Pyrenäen.
Lucien fragte sich, ob es an ihrem Ziel eher kalt oder warm sein würde, denn er wusste, dass Gebirge durchaus verhindern konnten, dass Wärme über sie hinweg ging. Und noch hatten sie keinen Winter, der Herbst hatte gerade erst begonnen und die Temperaturen in Spanien konnten noch immer hoch sein.
Er rutschte wieder in seinen Sitz. Südfrankreich war auch nicht gerade für Kälte bekannt, aber ungemütlich konnte es trotzdem werden. Er verzog das Gesicht, als das typische Geräusch von Regentropfen, die der Wind gegen eine Scheibe schleuderte, zu hören war.
Na toll. Wenn es vielleicht auch nicht kalt war im Zeltlager, so würde es vermutlich regnen und sie alle nach den fünf Tagen erst einmal eine Woche krank sein.
Trübsinnig blickte Lucien in den grauen Himmel und die dadurch wenig einladend wirkende Landschaft voller Wälder und Hügel, zwischen die sich die Ortschaften an der Straße schmiegten.
Würde die Sonne scheinen, hätte ihm das vermutlich gefallen. Doch die Regentropfen an der Scheibe des Busses, die sich langsam nach unten arbeiteten, sich mit anderen vermischten und irgendwann verschwunden waren, um durch neue ersetzt zu werden, machten ihn traurig.
Er gestattete sich nicht oft schwermütige Gedanken wegen seines Schicksals, weil er keine Heulsuse sein wollte, doch hin und wieder kam er nicht drum herum. Die Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens ließ sich manchmal einfach nicht unterdrücken und dann wurde ihm alles zu viel. Dann wollte er weinen, nicht aus Trauer, sondern aus Zorn, und wollte herumgehen und Dinge zerstören, um zu zeigen, wie er sich fühlte. Wie kaputt er innen drin war und wie wenig man tun konnte, damit es ihm besser ging.
Seufzend schloss er wieder die Augen.