Nach der Untersuchung wurde sie ins Schwesternzimmer gerufen, das ganz am Ende der Station stationiert war. Bereits auf dem Weg dorthin bekam sie ein ungutes Gefühl, eine Vorahnung, dass jetzt Ärger drohte und dass ihre Werkzeuge gefunden wurden. Tatsächlich lagen die Schere und ihre Rasierer auf dem Schreibtisch neben dem Monitor, allerdings sahen die Schwestern nicht verärgert aus. In aller Ruhe erklärten sie Lucy, diese Mittel waren wegen dem zu hohen Verletzungsrisiko verboten und würden eingezogen bis sie entlassen wäre. Damit war sie durchaus zufrieden, sie wusste, dass noch andere Dinge in ihren Sachen lauerten und das beruhigte sie. Brav hörte sie den ihr bereits zugetragenen Regelbekanntmachungen zu und verließ dann eilig das Dienstzimmer. Sie blickte auf den leeren Gang, keiner der anderen war zu sehen, nur aus dem Gruppenraum und der Küche ertönten ihre Stimmen, leise Stimmen. Doch sie fand, dass sie sich bereits einen Pluspunkt verdient hatte, indem sie sich aus ihrem Zimmer wagte und bis jetzt brav den Anweisungen folgte, sie wusste, dass es nicht ewig dauern würde, da sie, sobald ihr Tief wieder näherrückte, sich wieder zurück ziehen und die Stille genießen würde. Sie lächelte bei dem Gedanken daran während sie sich langsam ihrem Zimmer näherte. „Mittagessen!“, hallte es dann durch die Räume und Lucy machte seufzend kehrt und ging sich einen Pferdeschwanz bindend in die Küche um sich nach dem Plan neben Derek und Zoe zu setzen.
Nach dem Essen verschwanden sie alle auf ihre Zimmer und widmeten sich sich selbst, da sie von dreizehn bis vierzehn Uhr zwanzig in ihren Zimmern bleiben mussten. Leise seufzend setzte sich Lucy auf ihr Bett und kramte ihren Zeichenblock und ihre Stifte hervor bevor sie versuchte einzufangen was momentan in ihr vorging. Doch das erste Bild was wie frisches Wasser aus ihren Stiften sprudelte waren die verschieden farbigen Augen von Alec, die sie sehr interessierten, auch der Junge an sich machte sie neugierig. Er schien nicht gern zu reden oder zu lachen, war eher kalt und abweisend und musste mit den Menschen hier nicht klarkommen, obwohl er bereits seit Januar letzten Jahres hier war, stolze anderthalb Jahre in einer Psychiatrie.
Er allein weckte aber nicht ihre Neugierde, auch die anderen Patienten, von Derek bis zu Stephanie faszinierten sie in einer Art und Weise, die sie nur von ihren Bildern kannte, wenn sie verlassene, verdorrte Landschaften zeichnete oder Menschen die sich in den Armen hielten. Wie musste es sein, wenn man eine richtige Schulangst hatte? Fühlte man sich so wie Lucy momentan? Wovor genau hatte man dort Angst und wie konnte man dies ändern? Wie war es mit einer schweren Sozialphobie zu leben? Sie selbst kannte es nur in Grenzen, sie bekam Platzangst und musterte jeden Menschen genau, seine Bewegungen, seine Reaktionen, seine Blicke, und sie versuchte immer auszuweichen, wenn es verhindert wurde wurde sie panisch. Fühlte sich so eine richtige Sozialphobie an oder war es sogar noch schlimmer? Wie musste es sein, wenn sich die innere Aggression nach draußen wendet und das Verlangen nach dem eigenen Blut dem des fremden weicht? Zeigt man sadistische Züge? Schadete man dabei nur Gebäuden und sich selbst oder auch anderen Lebensformen und wie stark?
Solche Fragen brannten ihr förmlich unter den Nägeln, sie war in dieser Hinsicht wissensdurstig, sie wollte es nutzen und für ihre Bilder verwenden, eventuell Freunde finden, die sie nicht hintergehen. Lucy stockte, legte den Block auf ihre Oberschenkel ab und starrte an die gegenüberliegende Wand. Freunde... Würde sie jemals welche haben, welche die zu ihr stehen und nicht nur zum Schein da sind? Leise seufzte sie und schüttelte den Kopf, sie musste an die anderen hier denken, versuchen an diese ran zu kommen und sich innerlich schützen. Vielleicht konnte sie ein paar Dinge der anderen abschauen und für sich selbst verwenden? Doch dafür musste sie sich den anderen erst einmal nähern können... Sie überlegte eine Weile, setzte ihre Gedanken in verdrehte und undurchschaubare Formen um und bemerkte dabei nicht wie schnell die Zeit verging, sie sah verwirrt zu einem fremden Mann mit Namensschild der ihre Tür öffnete und sie mit einem seltsam gespielten Lächeln empfing. „Kommst du, es gibt Vesper.“, lächelte der Mann, der seinem Namensschild zufolge Pfleger Hannes war. Lucy nickte etwas und legte ihre Sachen ehutsam auf das kleine Nachttischchen bevor sie dem Pfleger nach draußen folgte. Die anderen machten sich bereits auf zur Küche. Neben dem Stationseingang erspähte Lucy Spielsachen, Roller, Bälle, Tischtennisschläger. Zweifelsfrei würden sie nach dem Vesper raus gehen.
Gemeinsam saßen sie in ihrer kleinen Runde und sie lauschte den Gesprächen der anderen, sie und Alec waren die einzigen die schwiegen. Nur seine Augen nicht, sie festigten sich immer wieder an Lucy, durchbohrten sie, hinterließen eine unangenehme Nervosität. Zoe bemerkte diese und sah zwischen den beiden hin und her bevor sie Lucy mit dem Ellenbogen anstieß. „Keine Sorge, das macht er bei allen Neuen die ersten Tage. Ich weiß nicht wieso aber es scheint eine Art Hobby zu sein.“, grinste sie schief und streckte sich etwas. Lucy betrachtete das Mädchen etwas und spielte dann lustlos mit ihrem Löffel, indem sie mit diesem die weiße Tasse an tippte und bei den leisen Tönen schmunzeln musste. Ein paar der anderen verstummten und beobachteten ihre neue Mitpatientin, die ganz fasziniert von dem Klang schien, da er zwar in einem hohen Ton klang, allerdings leise und in die Länge gezogen. Seltsamerweise hatte dieser kleine Ton eine Art beruhigende Note, beruhigend für fast alle. Nur eine der Erzieherinnen, Frau Klomsek schien etwas dagegen zu haben, sie nahm ihr die Tasse weg und bat ihre Patienten aufzustehen und sich für den Park fertig zu machen. Still stand Lucy auf und ging in ihr Zimmer, um ihre Hausschuhe gegen schwarze Stiefelletten zu tauschen und ihren MP3 Player zu holen, den sie netterweise behalten durfte. Langsam machten sie sich so alle zum Stationseingang und verließen als halbes Volk das Gebäude und gingen in Richtung des hinter dem Therapiezentrum versteckten, eingezäunten Spielplatzes, dessen Eingang und Ausgang durch ein Gittertor versperrt war. Langsam wanderte Lucys Blick von einem Jugendlichen zum nächsten, da sie überlegte, mit wem sie sich zuerst befassen wollte um sie kennenzulernen, eine Idee für ein Bild zu bekommen, ein mal zur Abwechslung positives Bild zu hinterlassen. Zoe schloss sie dafür aus, da dieses aktive Kind scheinbar nicht mehr von ihrer Seite weichen würde, sodass sie später oder nebenbei noch genug Zeit hatte, dieses durchgedrehte Mädchen mit den geflochtenen Seitenzöpfen kennenzulernen.