Auf der Straße unter ihnen fuhr ein Krankenwagen vorbei. Er hatte sowohl das Blaulicht als auch die Sirene angeschalten und raste über den Asphalt. Benjamin hielt sich die Ohren zu bei dem unangenehmen Geräusch. Ein Blick zu Paul zeigte ihm, dass es diesem wohl nichts auszumachen schien. Reglos stand er da, den Blick auf etwas in seinen Händen gerichtet.
"Hier", Paul streckte einen Arm nach hinten.
Irritiert stand Benjamin auf, und nahm ihm das abgegriffene Bild aus der Hand. Er schaltete die Taschenlampen-Funktion seines Handys an und leuchtete das Bild an. Es zeigte einen scheinbar mittelgroßen weiß-grauen Hund, der direkt in die Kamera sah und es schien so, als lächelte er Benjamin an. Die roten Zahlen in der unteren Ecke verrieten ihm, dass diese Aufnhme bereits vor über zwei Jahren entstanden war.
"Wer ist das?", wollte Benjamin wissen.
"Lio. Mein Hund. War mein Hund. Bis irgendein Idiot Giftköder ausgelegt und Lio einen erwischt hat."
"Oh. D-Das tut mir leid."
Paul zuckte mit den Schultern.
Als nichts mehr von ihm kam, fragte Ben weiter.
"Warum zeigst du mir ein Bild deines Hundes? Was hat das hiermit zu tun?"
"Er ist Grund zwei."
"Du willst dich umbringen, weil jemand deinen Hund vergiftet hat?" Ben musste laut loslachen. Das war so absurd. Er dachte an die vielen Kaninchen und Katzen, die seine Familie besaß und für die er schon ein Grab geschaufelt hatte. Sie waren zwar nicht vergiftet worden, sondern an Altersschwäche gestorben, aber deswegen war er noch nie auf die Idee gekommen sich etwas anzutun.
Paul schüttelte heftig den Kopf.
"Du musst aufhören immer nur das offensichtlichste zu sehen und zu glauben. Nutze dein Hirn, wenn du schon mit einem ausgestattet wurdest." In jeder anderen Situation hätte Benjamin auf diese Worte eine patzige Antwort gegeben.
Nicht so heute.
Er hielt den Mund, starrte auf das Bild in seinen Fingern und überlegte angestrengt, was Paul meinen könnte. Als er auf keine plausible Erklärung kam, gab er sich geschlagen.
"Lio war ein Hund. Ein Tier. Und für viele weitaus weniger wert als ein Mensch. Aber was gibt uns das Recht, so zu urteilen? Wer oder was erlaubt es uns, Tiere und Pflanzen wie Abfall zu behandeln?"
Er machte eine kleine Pause und sah Ben fragend an. Dieser zuckte nur mit den Schultern. Natürlich gab niemand ihnen dazu das Recht. Aber es war zur Normalität geworden, dass Blätter von Bäumen und Sträuchern aberissen wurden und man Insekten eher tötete, anstatt zu versuchen ihnen den Weg in die Freiheit zu zeigen.
Paul nickte. Es war kein überhebliches Nicken, das zeigen sollte, dass er mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Viel mehr meinte Benjamin darin Verständnis zu erkennen.
"Der Mensch hat keinen Respekt mehr vor anderen Lebewesen. Weder vor Tieren, noch vor Pflanzen. Und dank der neuartigen Technik, wird er es früher oder später auch noch schaffen seine eigene Spezies vollends auszurotten. Milliarden Jahre von Evolution wären einfach weg", er schnippte mit den Fingern.
"Aber das ist den allermeisten von uns nicht bewusst. Und wer das weiß, dem ist es egal. Wir versuchen uns einzureden, dass wir schlau genug sind um dieses 'Worst-Case'-Szenario zu verhindern. Dass wir es nicht so weit kommen lassen. Aber es wird dazu kommen." Paul sah Benjamin mit düsterem Blick an. Es wurde still um die beiden. Lediglich der Wind pfeifte. Für einen kurzen Moment verstummte sogar der Straßenlärm unter ihnen.
Benjamin nahm einen Bissen seines Schokoriegels.
"Ich will mich nicht schuldig fühlen müssen, weil irgendwo auf dieser Welt ein weiteres Tier auf die rote Liste gesetzt wird und nur kurze Zeit später komplett ausstirbt. Und ich will nicht zu den Leuten gehören, die ihre eigene Art ausrotten. Ich will nicht so werden, wie all die anderen, verstehst du?"
Benjamin nickte leicht.
"Würdest du denn helfen, eine Spezies zu erhalten? Egalb ob Tier, Pflanze oder Mensch?"
Paul zögerte, ehe er antwortete: "Nein."
Benjamin sah ihn an und wollte gerade etwas sagen, als er von Paul unterbrochen wurde.
"Noch acht, Benjamin."
"Nenne mich doch Ben."
"Okay ... Benjamin."
Und Paul machte einen weiteren Schritt nach vorne.