Hermine wusste, dass es Severus nicht gefallen hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, wo sie sich gerade befand. Immerhin war Heilig Abend und sie hatten ausgemacht, den Abend gemeinsam vor seinem Kamin zu verbringen, beide dasselbe Buch zu lesen, sich darüber auszutauschen, die Gesellschaft des Anderen zu genießen. Und das hatte Hermine auch vor, sie war sich bewusst, welche große Bedeutung es hatte, dass Severus Snape nach all den Monaten endlich zu einem beinahe romantischen Beisammensein bereit war.
Aber sie brauchte Rat.
Seit einem Dreivierteljahr war sie nun schon mit Severus in einer Beziehung, doch noch immer war eine störende Distanz zwischen ihnen. Er ließ nicht zu, dass Hermine auch nur versuchte, sie zu überbrücken. Gewiss, sie verbrachten inzwischen beinahe jeden Abend gemeinsam, sie gingen spazieren, tauschten ihre Gedanken aus, führten tolle Gespräche. Sie liebte es, dass er inzwischen nicht mehr so tat, als würde er ihre Intelligenz nicht sehen. Tatsächlich fiel sogar hin und wieder ein Lob. Oder zumindest konnte sie ein anerkennendes Lächeln erahnen.
Doch sie wollte mehr. Sie brauchte mehr. Früher hätte sie das nie gedacht, doch seit ihrer Erfahrungen mit Lucius Malfoy wusste Hermine, dass für sie Sex ein integraler Bestandteil ihres Lebens war. Genau deswegen war sie heute hier.
Tief holte sie Luft, dann klopfte sie an die große Tür. Seit jenem schicksalsträchtigen Tag vor genau einem Jahr, als während der Weihnachtsfeier genau hier Lord Voldemort sein endgültiges Ende gefunden hatte, hatte sie die Villa der Familie Malfoy nicht mehr betreten. Als ihr schließlich ein Hauself die Tür öffnete, machte sich Hermine innerlich bereit dafür, von tausend negativen Erinnerungen befallen zu werden.
Stattdessen wurde sie von einem merkwürdigen Gefühl des Zurückkehrens erfasst. Alles hier war so vertraut und statt sich an ihr Dasein als Sklavin zu erinnern, wurden ihre Sinne nur von einem beherrscht: Lucius Malfoy und was er für sie getan hatte. Was sie für ihn getan hatte.
Der Hauself, der offensichtlich neu in der Truppe war, führte sie zur Bibliothek. Mit jedem Schritt verstärkte sich das Gefühl in Hermine, dass sie hier sein sollte. Dass sie hierher gehörte. Dass hier der richtige Mann auf sie wartete. Dankend nickte sie dem Hauselfen zu, dann öffnete sie vorsichtig die riesigen Türen.
Dort, auf dem Sofa, als wäre nie Zeit vergangen, saß Lucius Malfoy und schaute überrascht von seiner Lektüre auf: „Hermine.“
Sie lächelte schwach: „Lucius.“
Er legte das Buch beiseite und erhob sich: „Ich hätte nicht mit dir gerechnet. Nicht heute. Nicht hier.“
Verkrampft trat sie auf ihn zu, unschlüssig, ob sie ihm zur Begrüßung die Hand geben sollte oder ihn umarmen oder irgendetwas anderes. Doch er nahm ihr die Entscheidung ab. Mit einer kraftvollen Bewegung zog er sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar: „Was tust du hier, Hermine?“
Seine Stimme hatte noch immer diese tiefe, dunkle Farbe, mit der er sie damals schon verführt hatte, doch sie hörte auch deutlich die Verzweiflung heraus. Obwohl sie sich seit seinem Besuch in Hogwarts nicht mehr gesehen hatten, hatte Lucius Malfoy sie offensichtlich immer noch nicht vergessen. Zitternd löste sie sich aus seiner Umarmung. Seine Gefühle würden diese Sache nicht leichter machen.
„Ich brauche dich“, erklärte sie vorsichtig, nur um sich sofort zu korrigieren: „Deinen Rat.“
Seine Augen brannten sich förmlich in ihre, doch sie hielt stand. Sie war diesem Mann dankbar für alles, was er getan hatte, doch ihr Herz gehörte Severus. Das wusste er, auch wenn er versuchen würde, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie musste standhaft bleiben. Sie durfte ihm keinen Anlass zur Hoffnung geben, das wäre unfair und würde ihn nur verletzen. Auch ein Mann, der bald fünfzig wurde, konnte noch verletzt werden.
„Lass mich raten“, sagte Lucius schließlich und, als wäre jegliches Verlangen vergessen, ein spöttischen Grinsen erschien auf seinen Lippen: „Es geht um Severus?“
Hermine nickte bloß. Aus alter Gewohnheit setzte sie sich auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand, während Lucius wieder auf dem Sofa Platz nahm. Langsam und bedacht, um nicht zu viel über das Innenleben von Snape preiszugeben, fing sie an: „Wir sind ein Paar. Das weiß inzwischen die ganze Welt, also wirst du es sicher auch wissen. Ich bin glücklich über die Zeit, die wir miteinander verbringen. Er ist tatsächlich gewillt, sich mir zu öffnen. Zu versuchen, glücklich zu werden. Das bedeutet mir viel. Während dieser ganzen … Sache hier, da hatte ich immer den Eindruck, als hätte er alle Hoffnung aufgegeben, jemals glücklich zu werden. Als würde er denken, dass er das nicht mal darf. Und jetzt versucht er es. Mir zuliebe. Ich weiß, wie schwer es ihm fällt.“
„Aber?“, hakte Lucius nach, der ganz offensichtlich schon wusste, woher der Wind wehte.
Errötend erklärte Hermine: „Er lässt mich nicht an sich heran. Ich meine … körperlich.“
Lucius atmete lange aus, schloss die Augen, den Kopf in den Nacken gelegt. Hermine fragte sich schon, ob sie besser doch nicht ausgerechnet mit ihm darüber reden sollte, aber sie hatte sonst niemanden für dieses Thema. Zu ihrer Erleichterung richtete Lucius sich schließlich wieder auf und blickte sie ernst an: „Verstehst du, warum er dich nicht ran lässt?“
Sie wiegte den Kopf: „Ich denke schon. Ich glaube, er will Rücksicht auf mich nehmen. Was ich ihm hoch anrechne. Was geschehen ist, lässt sich nicht weg reden und ich werde es auch nie vergessen, aber …“
„Hermine“, unterbrach Lucius sie sofort: „Hermine, langsam. Hast du je mit ihm darüber gesprochen, was geschehen ist?“
Sie schluckte: „Ja. Nein. Nicht … nicht wirklich. Nicht, nachdem alles vorbei war. Ich habe ihn einmal zur Rede gestellt und da … er hat es mir erklärt und ich hab verstanden, dass er auch nicht aus freien Stücken gehandelt hat. Wäre es anders gewesen, hätte ich ihm nie verzeihen können. Aber jetzt kann ich es. Er ist ein Opfer, wie ich. Er muss mich nicht beschützen.“
Lucius schüttelte den Kopf, offensichtlich unzufrieden mit ihrer Antwort: „Ich fürchte, du verstehst ihn nicht. Nicht ganz. Ich will gar nicht … bitte verstehe das jetzt nicht falsch, aber ich vermute, er ist nicht zurückhaltend, weil er dich schützen will, sondern weil er sich selbst schützen will.“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Severus wollte sich selbst schützen? Wovor? Mühsam rief sie sich das Gespräch in Erinnerung, das sie damals im strömenden Regen im Garten geführt hatten. Sie hatte Mitleid empfunden für ihn, weil er zu einer grausamen Tat gezwungen war, um das Bild, dass Voldemort von ihm hatte, aufrecht zu erhalten. Weil Draco an der Tür gelauscht hatte, war er brutaler gewesen als nötig. Er hatte nicht wissen können, dass Draco ihn nie an den Dunklen Lord verraten würde. Hermine hatte damals Mitleid mit ihm gehabt und das war auch heute noch so. Aber wovor wollte Severus sich schützen?
„Hermine“, riss Lucius sie aus ihren Gedanken. Überrascht stellte sie fest, dass er vom Sofa aufgestanden und vor sie getreten war: „Hermine. Du musst mit ihm darüber reden. Unbedingt.“
„Ich verstehe nicht …“, flüsterte sie hilflos.
„Wir Männer haben unsere eigenen Dämonen zu bekämpfen“, erklärte Lucius kryptisch: „Da verstehe ich Severus besser, als du dir vorstellen kannst.“
Langsam stand Hermine vom Stuhl auf. Sie begriff noch immer nicht, worauf Lucius hinaus wollte. Der jedoch schien keinerlei Interesse mehr daran zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Stattdessen legte er erneut einen Arm um sie, während er mit der anderen ihre Wange streichelte: „Niemand ist wie du, Hermine. Ich vermisse dich jeden Tag. Und besonders in der Nacht.“
Sein Daumen wanderte zu ihren Lippen und strich sinnliche Kreise darüber: „Ich erinnere mich, wie du dich anfühlst. Wie willig und offen du bist. Wie du mir vertraust.“
Hermines Atem beschleunigte sich. Seine Worte weckten eine unbändige Begierde in ihr. Sie sehnte sich nach der Berührung eines Mannes. Lucius hatte es von Anfang an verstanden, sie aus der Realität zu entführen. Sie war sich sicher, er würde es wieder schaffen.
„Ich erinnere mich, wie ich dich gefesselt habe. Genau hier, auf diesem Schreibtisch. Du hast mich darum gebeten, dich zu fesseln“, raunte er ihr zu, sein dunkler Tonfall war getränkt von Lust, sein Atem ging schwer, als müsse er mühsam ein Stöhnen unterdrücken: „Du hast dich mir hingegeben wie nie eine Frau zuvor.“
„Lucius“, wisperte Hermine: „Was tust du hier?“
„Wenn ich wollte, könnte ich dich jetzt einfach über den Schreibtisch beugen und mir nehmen, wonach sich mein Körper sehnt.“
Als hätte jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über sie gegossen, riss Hermine die Augen auf: „Was?“
Der ältere Mann ließ sie los, trat zwei deutliche Schritte zurück, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben: „Als Mann werde ich dir körperlich immer überlegen sein. Wenn ich will, kann ich mir immer nehmen, worauf ich Lust habe. Verstehst du das, Hermine?“
Sie konnte noch immer nur starren: „Was willst du sagen?“
Sein Gesichtsausdruck wurde eindringlich: „Severus hat sich einmal genommen, was er wollte, gegen deinen Willen. Dass er dich nicht anfassen will, hat sicher nicht nur mit Rücksichtnahme auf dich zu tun. So, wie ich mir nehmen könnte, was ich will, wenn ich dich nur hilflos genug mache, so kann er es auch. Er ist dir ebenso körperlich überlegen wie ich. Denkst du, das weiß er nicht? Meinst du, ihm gefällt das?“
„Willst du damit sagen, er hat Angst davor … mich aus Versehen wieder zu vergewaltigen?“, hakte Hermine nach. Sie konnte nicht glauben, was Lucius da gerade von sich gab. Jeder erwachsene Mann sollte problemlos in der Lage sein, seine eigene Libido zu kontrollieren. Alles andere war lächerlich. Und gerade Lucius hatte doch auch gezeigt, dass das problemlos möglich war. Mehr als einmal hatte er sie bedrängt, hatte kurz davor gestanden, gegen ihren Willen mit ihr zu schlafen – und jedes Mal hatte ein deutliches Nein von ihr ihn dazu gebracht, von ihr abzulassen. Warum unterstellte er Severus, dass er das nicht konnte?
„Rede einfach mit ihm“, wiederholte Lucius: „Severus kann sehr verschlossen und stur sein, aber wenn es dir nicht gelingt, über das Problem mit ihm zu reden, wirst du nicht weiterkommen. Das ist dir bewusst, sonst wärst du ja nicht hier.“
Verärgert verschränkte Hermine die Arme vor der Brust: „Und das eben? Was sollte das?“
Kurz flog ein Grinsen über seine Lippen: „Ich wollte dir nur demonstrieren, wie schnell eine Situation kippen kann. Um meinen Punkt deutlich zu machen.“
Mit einem schrägen Lächeln trat er auf sie zu: „Und natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass du einlenkst und dich mir hingibst.“
Darauf schnaubte Hermine bloß. Lucius wusste genau, dass sie zu der treuen Sorte Mensch gehörte. Trotzdem gaben ihr seine Worte zu denken. Sie hatte das Gefühl, dass sie irgendwo ganz tief in ihrem Innersten begriff, was er sagen wollte. Sie konnte es nur noch nicht recht in Worte fassen, als wäre es noch zu schwammig, um es genau zu verstehen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass er ihr sagen könnte, wie sie Severus ein für alle Mal erklären konnte, dass er keine Rücksicht auf sie nehmen musste. Doch jetzt begriff sie langsam, dass offensichtlich noch viel mehr in dem Herzen von Severus vor sich ging.
Wie immer.
Der Mann war einfach viel zu komplex und viel zu leicht dabei, sich selbst zu hassen. Aber sie würde das nicht länger zulassen. Er war schon dabei, sich auf ein glückliches Leben einzulassen. Heute Abend würde sie ihn dazu bringen, dass er ihr endlich reinen Wein einschenkte. Sie würde Lucius Rat befolgen und ihn zum Sprechen bringen. Sie musste einfach.
Hermine liebte Severus Snape mit jeder Faser ihres Seins. Und sie wollte, dass er das spürte, akzeptierte und glaubte.