Severus wusste sofort, dass irgendetwas in Hermine vorging, als sie seine Wohnung betrat. Man konnte nicht jahrelang als Doppelagent arbeiten, ohne eine große Menschenkenntnis zu besitzen. Sie war spät dran, deutlich nach der vereinbarten Zeit, und ihr Gesicht war auf eine merkwürdige Art und Weise entschlossen, die ihm Angst machte.
Äußerlich ungerührt führte er sie zu dem Sessel, der dem Kamin am nächsten stand, und verschwand dann in der Küche, um den Kuchen und Teller zu holen. Er hatte tatsächlich Kuchen gebacken. Er hatte sich tatsächlich Mühe gegeben, dass dieser gemeinsame Weihnachtsabend romantisch werden konnte.
Finster starrte er auf die Kanne mit Tee, die seit einer halben Stunde bereit stand. Er gab sich Mühe. Er investierte Zeit und Gedanken in Hermine auf eine Art, wie er es schon sehr lange nicht mehr getan hatte. Sie wollte mit ihm zusammen sein und mit ihm eine Zukunft aufbauen, warum auch immer. Und irgendetwas in ihm wollte das auch. Er kam sich lächerlich vor mit dem Kuchen und dem Tee und der Nervosität davor, was der Abend bringen würde. Eigentlich kam er sich immer lächerlich vor, wenn er sich auf eine von Hermines romantischen Ideen einließ.
Am liebsten wäre er direkt wieder zu ihr ins Wohnzimmer gegangen und hätte ihr gesagt, dass sie verschwinden soll. Das würde alles einfacher machen.
Doch er wusste, dass er dazu nicht in der Lage war. Er brauchte sie in seinem Leben. Er wollte sie in seinem Leben. Ihr unerschütterlicher Glaube an ihn, daran, dass er ein guter Mensch sein konnte, gab ihm die Kraft, nicht seiner Müdigkeit nachzugeben und sich für immer schlafen zu legen. Sie wäre traurig, wenn er gehen würde, das wusste er. Genauso wie er wusste, dass er sie nie wieder traurig machen wollte.
Bei Merlin, er hatte sich in einen Jammerlappen verwandelt. Das romantische Gift, das Hermine versprühte, schien seine Gehirnwindungen zu kompromittieren. Er sollte aufhören zu denken und stattdessen Kuchen und Tee hinausschaffen.
„Ich wollte gerade einen Suchtrupp losschicken“, begrüßte Hermine ihn lächelnd, als er endlich wieder ins Wohnzimmer kam.
Er gab keine Antwort, lächelte nicht einmal. Da waren Spannungen zwischen ihnen, Spannungen, deren Grund er nicht kannte, und die genau deswegen beinahe unerträglich waren. So hatte er sich diesen Abend nicht vorgestellt. In seiner Fantasie hätten sie gemeinsam Kuchen gegessen, dann hätte er den Vorabdruck eines Zaubertränkeaufsatzes geholt, der ihm von einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Verfügung gestellt worden war, und sie hätten bis tief in die Nacht hinein darüber diskutiert. Das wäre ein perfekter Heilig Abend für ihn gewesen.
Zumindest sagte er sich das. Dass er in Wirklichkeit etwas ganz anderes wollte, ignorierte er.
Nachdem beide eine Tasse Tee getrunken hatten, stellte Hermine ihren Kuchen unangerührt zurück, setzte sich aufrecht hin, beide Hände sorgfältig auf ihren Oberschenkeln abgelegt, und sagte ernst: „Wir müssen reden.“
Sie wollte die Beziehung beenden. Sie hasste ihn. Natürlich tat sie das, er hatte sich nicht genug Mühe gegeben. Jemand wie er musste doppelt arbeiten, um sich die Zuneigung seiner Mitmenschen zu sichern. Das wusste er. Er hätte von Anfang an alleine bleiben sollen, wie er es über Jahrzehnte gewohnt war. Tief holte Severus Luft. Er zwang sich dazu, weiterhin unbeeindruckt zu schauen und die Gedanken, die ihn bei ihren Worten augenblicklich überfallen hatten, nicht auszusprechen. Stattdessen befahl er sich, rational zu bleiben: „Gerne. Sprich.“
Der böse Blick, den Hermine ihm zuwarf, zeigte ihm deutlich, dass seine kühle Reaktion falsch gewesen war. Innerlich rollte er die Augen. Was erwartete sie von ihm? Sie kannte ihn doch inzwischen und sollte wissen, dass er nur sehr selten Emotionen zeigte.
Obwohl sie offensichtlich unzufrieden mit ihm war, sprach sie doch weiter: „Es steht ein Elefant im Raum und du ignorierst ihn. Das tut uns nicht gut. Weder dir, noch mir und schon gar nicht uns. Wir müssen darüber reden.“
Panik erfasste sein Gehirn. Er wusste genau, worauf sie anspielte. Verdammt, warum musste sie das Thema immer wieder anschneiden? Konnte sie es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Es funktionierte doch auch so. Musste sie das Monster in ihm unbedingt wecken? Kühl erwiderte er: „Es steht kein Elefant in meiner Wohnung, Hermine. Sprich klar und spar dir deine Metaphern.“
Ihre Unterlippe begann zu zittern, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein emotionaler Ausbruch bevorstand, das hatte Severus in den letzten Monaten gelernt. Er wappnete sich dafür. Stoische Ruhe war das Beste, um ihrem Sturm an Gefühlen zu begegnen.
„Severus Snape“, sagte sie langsam und leise, aber offensichtlich aufgewühlt: „Mach dich nicht über mich lustig. Wage es nicht, diese Angelegenheit herablassend zu betrachten. Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, dass es weh tut. Und weißt du, warum es weh tut? Weil du mich nicht an dich heran lässt. Immer reden wir nur. Reden und reden. Aber ich will mehr. Wir führen eine Beziehung, verdammt nochmal! Warum willst du nicht mit mir schlafen?“
Gequält fuhr Severus sich mit einer Hand durchs Haar: „Du weißt genau, warum.“
Mit einer Wut, die er nicht hatte kommen sehen, fuhr Hermine ihn an: „Nein! Nein, weiß ich nicht. Du sagst, du willst Rücksicht nehmen, aber zum Teufel damit! Ich habe keine Ahnung, was passieren wird, wenn wir es versuchen, aber ich will! Verstehst du? Ich will! Und du weißt das. Du sagst, du willst mich schützen, aber ich wette, darum geht es dir nicht. Hier geht es offensichtlich um dich, also steh wenigstens dazu. Wenn du nicht mit mir ins Bett willst, sag das! Sei ehrlich! Aber hör auf, dich als heldenhaften Ritter aufzuspielen, wenn es dir gar nicht um mich geht!“
Das Monster in Severus brüllte auf und für einen Momente, für nur einen winzigen Moment verlor er die Kontrolle über sich. Ehe er sich versah, hatte er Hermine gepackt, zu sich auf das Sofa gezogen und sie unter dem Gewicht seines Körpers vergraben. Hitzig zischte er ihr zu: „Denkst du, ich will dich nicht? Du hast keine Vorstellung davon, wie es in mir aussieht! Und du tust besser daran, mich nicht zu provozieren!“
Für einen Augenblick dachte Severus, er sähe Panik in ihren Augen, doch kaum hatte er zu sprechen angefangen, kehrte die Wut zurück: „Wie soll ich es wissen, wenn du nicht mit mir redest? Sag mir, was los ist! Ich will wissen, wie es in dir aussieht!“
Wütend und verzweifelt und auf irrationale Weise erregt, beugte Severus sich hinab und küsste Hermine. Es war kein sanfter Kuss wie sonst. Er war brutal und hungrig, mit mehr Zähnen und Zunge, und er verlor sich darin. Sein Körper erinnerte sich instinktiv daran, dass er sie schon einmal gehabt hatte, dass er schon einmal ihre zarte Haut, ihren kleinen Körper unter sich gespürt hatte.
Abrupt ließ er von ihr ab und setzte sich auf. Hass stieg in ihm auf. Er hatte es schon wieder getan. Einfach so, mit Leichtigkeit, hatte er es schon wieder getan. Ein Seitenblick auf Hermine zeigte ihm, was er angerichtet hatte. Sie starrte ihn aus großen, verstörten Augen an, vollkommen verschüchtert, die Arme um ihren zierlichen Körper geschlungen.
„Geh“, flüsterte er: „Ich kann nicht … geh einfach.“
Für endlose Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen, rührte Hermine sich nicht vom Fleck. Sie starrte ihn einfach nur an aus diesen riesigen, panischen Augen, und bewegte sich keinen Zentimeter. Und er hatte keine Kraft, sie anzusehen, sie zu beruhigen, irgendetwas zu tun. Er hasste sich und empfand nur noch abgrundtiefe, übelkeiterregende Abscheu.
„Severus“, wisperte Hermine schließlich: „Oh Gott, Severus. Es tut mir leid. Ich wusste nicht … es tut mir leid.“
Ein ungläubiges Lachen stieg in ihm empor: „Dir tut es leid?“
Zögernd, noch immer ganz offensichtlich von Angst beherrscht, beugte Hermine sich zu ihm vor und legte ihm eine Hand auf die Wange: „Du hast Angst, richtig?“
Er konnte es genauso gut aussprechen. Er hatte sie sowieso ganz offensichtlich so verstört, dass sie nicht bei ihm bleiben wollte. Da konnte er genauso gut sagen, was er bisher sogar vor sich selbst geleugnet hat: „Ich bin kein guter Mann, Hermine. Als ich …“, er schluckte, aber er zwang sich, es endlich beim Namen zu nennen: „Als ich dich vergewaltigt hab, hatte ich nur im Sinn, den Dunklen Lord zu täuschen. Ich wollte die Bilder in meiner Erinnerung erschaffen, die er erwarten würde. Aber ich habe es genossen, verstehst du? Du hast dich so gut angefühlt, als wärst du dafür geschaffen, in meinen Armen zu liegen. Ich habe mich vollkommen vergessen. Ich habe dir die schlimmste Form der Gewalt angetan und anstatt es einfach zu tun, weil ich es tun musste, habe ich mich in dem Gefühl verloren. Du kannst mir nicht trauen. Du kannst nicht wissen, ob ich das nicht wieder tun werde. Wie gerade eben.“
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie hatte ihre Hand zurückgezogen und war wieder so weit wie möglich von ihm weggekrochen. Sie hatte Angst, das spürte er, auch ohne sie anzusehen. Er verstand das. Er war verzweifelt und er hasste sich und er wünschte, sie könnte es vergessen, für immer vergessen, um bei ihm zu sein und ihn zu lieben, aber er verstand, dass das nicht möglich war.
Wieder verging eine Ewigkeit, in der beide schwiegen. Severus musste sich zwingen, sie nicht einfach aus der Wohnung zu werfen. Es wäre einfacher, hier und jetzt einen Schlussstrich zu ziehen. Aber solange sie noch da war, solange sie das Ende noch nicht verkündet hatte, würde er schweigen. Es stand ihm nicht zu, diese Situation zu kontrollieren und die Entscheidung zu treffen. Das war ihr Recht.
„Ich verstehe“, durchbrach Hermine schließlich die ohrenbetäubende Stille: „Mir ist nie in den Sinn gekommen … ich habe nie so darüber nachgedacht.“
Er nickte bloß. Natürlich. Natürlich war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er die Vergewaltigung genossen hatte. Sie hätte ihn gar nicht lieben können mit dem Wissen.
„Ich habe Angst, Severus“, fuhr sie fort: „Ich habe Angst vor dir. Als das damals geschehen ist … ich hatte solche Angst. Und ich habe mich so hilflos gefühlt. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich nichts hätte tun können, um es zu verhindern. Ich war dir ausgeliefert, absolut. Ich trug keine Schuld. Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber das Wissen hat mir geholfen. Als Lucius mich auf dieselbe Weise angefasst hat … ich bin in absolute Panik verfallen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie ich mich gefühlt habe. So hilflos. Es war, als ob meine ganze Welt nur noch aus dem Bewusstsein bestand, dass ich jedem Mann unterlegen war. Dass jeder Mann sich nehmen konnte, was er von mir wollte. Das ist … es hat mich paralysiert. Lucius hat das gemerkt und mich in Ruhe gelassen. Und genau das hat dazu geführt, dass ich ihm vertrauen konnte. Er hätte sich alles mit Gewalt nehmen können, aber er hat es nicht getan. Ich habe mich darauf eingelassen. Und es hat mir geholfen. Irgendwann hatte ich keine Angst mehr, als er mich berührt hat. Ich wusste einfach, ich wusste, er würde mir nichts tun.“
Sie verstummte. Unerträgliche Eifersucht stieg in Severus hoch. Lucius. Verfluchter Lucius. Hermine hatte mit ihm geschlafen, nicht nur einmal, und ganz offensichtlich hatte sie es genossen. Was tat sie hier, bei ihm, an Heilig Abend, wenn da doch so offensichtlich ein anderer Mann war? Warum ging sie nicht zu ihm?
„Vielleicht solltest du dann lieber zu ihm gehen“, spottete er.
Hermine gab einen wütenden Laut von sich: „Du verstehst aber auch gar nichts! Du bist so gefangen in deinem Selbstmitleid, dass du mir nicht zuhörst! Severus! In den ganzen letzten Monaten, die wir zusammen verbracht haben, hast du mir nie Anlass gegeben, Angst vor dir zu haben. Nie!“, sagte sie eindringlich: „Und ich hatte auch keine. Aber ich war mir auch bewusst, dass das ganz schnell anders werden kann, wenn wir Sex haben. Ich bin nicht naiv, weißt du? Ich träume noch oft genug von dem, was geschehen ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es sehr lange dauern wird, bis die Angst vergeht. Aber sie wird nicht vergehen, wenn wir es nicht wenigstens versuchen!“
Zornig drehte er sich zu ihr um: „Du willst es wirklich versuchen? Immer noch? Nachdem du gesehen hast, dass ich einfach so über dich herfallen kann? Nachdem ich dir gesagt habe, dass ich es geil fand, dich zu vergewaltigen? Ehrlich?“
Hermine erbleichte sichtlich, doch sie blieb stur: „Du bist so erfüllt von Selbsthass, Severus. Du willst ja nicht einmal versuchen, das hier zu retten.“
„Als ob es hier etwas zu retten gäbe!“
Es war, als wäre eine Sicherung bei Hermine durchgebrannt: „Du hast mich vergewaltigt! ICH bin das Opfer! Hör auf, nach Mitleid zu hecheln! Ich bin das Opfer! Wie kannst du das alles auf mich abwälzen? Übernimm gefälligst Verantwortung für dein Handeln und versuch, mir zu helfen! Die ganze Zeit versuche ich, rational an die Sache ranzugehen. Für uns beide zu denken, eine Lösung zu finden! Du hast den Fehler gemacht, aber ich versuche, es wieder hinzubekommen. Hör verflucht nochmal auf, dich auszuruhen. Hilf mir! Severus, bitte … hilf mir.“
Die letzten Worte gingen beinahe in einem Schluchzen unter. Ein Sturzbach an Tränen rollte über Hermines Wangen, als sie verzweifelt in sich zusammen sackte und das Gesicht in ihren Armen vergrub.
Severus schluckte. Das hatte er angerichtet. Sie hatte Recht, es war seine Schuld. Alles. Das hatte er schon immer gewusst. Doch was ihm wirklich sein Herz brach, war ihr verzweifeltes, leise gemurmeltes „Bitte hilf mir“. Wie konnte er ihr Hilfe verweigern? Wie konnte er ihr irgendetwas abschlagen?
Zögernd und vorsichtig, von größerer Panik ergriffen als er sich selbst eingestehen würde, rückte er an sie heran und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie hörte nicht auf zu weinen. Sie vergrub auch nicht ihr Gesicht an seiner Brust. Aber sie stieß ihn auch nicht weg. Langsam entließ er den Atem, von dem er erst jetzt realisierte, dass er ihn angehalten hatte. Langsam strich er mit einer Hand über ihren Rücken.
Er war so damit beschäftigt gewesen, sich selbst zu hassen und seine überbordenden Gefühle zu unterdrücken, dass er gar nicht realisiert hatte, wie sehr er Hermine verletzt hatte. Er hatte immer gemerkt, dass sie mit ihm schlafen wollte. Und weil sie keinen Hehl daraus gemacht hatte, hatte er gedacht, dass sie die Vergewaltigung verarbeitet hatte. Was ganz offensichtlich ein Trugschluss gewesen war. Wie hätte sie auch? Wie blind musste er gewesen sein, dass er das auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatte? Sie litt noch immer darunter. Und trotzdem wollte sie ihn.
Während der Tee langsam kalt wurde und das Feuer herunterbrannte, fasste Severus einen Entschluss. Er würde einen Weg finden, wie sie gemeinsam das Trauma überwinden konnten. Er liebte sie, tatsächlich und aufrichtig, so furchteinflößend es auch war, sich das einzugestehen. Wenn sie eine Zukunft haben wollten, mussten sie ihre Vergangenheit bewältigen. Er hatte es ausgeblendet, ignoriert, im Unterbewusstsein eingesperrt. Es war Zeit, dass er sich seinen Taten stellte und Hermine endlich einen Weg gab loszulassen.