Seine warme Hand gab ihr Kraft, dennoch konnte sie den Sturzbach der Tränen nicht aufhalten. Sie hatte Harrys Grab aufsuchen wollen, sobald sie eine Gelegenheit erhalten hatte, doch mit diesem deutlichen Zeichen seines Todes kehrte auch ihre Trauer zurück. Selbst Bill, der wortlos neben ihr Stand und versuchte, ihr tröstend den Rücken zu streicheln, konnte ihr nicht helfen. Seit sie denken konnte, hatte Ginnys Welt sich um Harry Potter gedreht, sogar bevor sie ihn kennengelernt hatte. Und jetzt war er weg, für immer.
Während ihrer Gefangenschaft bei Snape hatte sie versucht, jeden Gedanken an Harry auszublenden. Nur nachts, wenn sie wieder einmal nicht hatte schlafen können, übermannte sie die Trauer. Jetzt, wo die Schreckensherrschaft von Voldemort endgültig und für immer vorbei war, gab es nichts mehr, was sie davon abhielt, an Harry zu denken.
Sein Grab direkt bei dem seiner Eltern war leer. Voldemort hatte seinen toten Körper verbrannt und die Asche in alle Winde zerstreut, damit auch wirklich nichts von seinem einstigen größten Feind übrig bleiben würde. Mit tränenverschleiertem Blick starrte Ginny auf den Grabstein mit seinem Namen. Sein Grab mochte leer sein, doch sie schwor sich, die Erinnerung an ihn für immer aufrecht zu erhalten.
„Lass uns gehen“, flüsterte sie schließlich zu Bill. Kurz schaute ihr Bruder sie an, dann nickte er, legte seinen Arm fest um sie, und apparierte mit ihr zum Fuchsbau.
Dort, am Rande der großen Rasenfläche, lag ihre Familie begraben. Alle waren tot. Alle, außer ihr und Bill. Sie nahmen die kleinen Pflanzen, die sie in der Küche bereitgestellt hatten, und wanderten hinüber zu den noch ungeschmückten Gräbern. Es war das erste, was sie von Snape hatte wissen wollen: Wer von ihrer Familie lebte noch? Wo waren ihre Eltern, ihre Brüder?
In Gedanken versunken starrte Ginny auf die schwarze Erde der Gräber. Severus Snape. Wer hätte jemals gedacht, dass er der Held war, als der er sich am Ende bewiesen hatte? Als er sie in seiner Wohnung zurückgelassen hatte, war Ginny drei Tag alleine geblieben.
So lange ließ er sie selten alleine. Ginny wusste, schon alleine aufgrund seiner Worte wusste sie, dass sein Fernbleiben dieses Mal anders war. Die Art, wie er sich verabschiedet hatte. Schon, als sie gemeinsam die Familie Malfoy besucht hatten, war ihr aufgefallen, dass irgendetwas im Gange war. Und nun ließ er sie alleine zurück. Abgeschnitten von der Außenwelt. Sie wusste nicht, was vor sich ging, ahnte nur, dass es mit Hermine und Voldemort zu tun haben würde.
Und dann, als sie es beinahe nicht mehr ausgehalten hatte, kam er zurück. Mit dem Knall des Apparierens tauchte er direkt vor ihr im Wohnzimmer auf, das Gesicht grau vor Müdigkeit. Aus matten Augen schaute er sie an: „Miss Weasley, Sie sind fortan eine freie Frau. Sie dürfen gehen.“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an: „Frei?“
Die Schärfe kehrte augenblicklich zurück in Snapes Stimme: „Muss ich es Ihnen buchstabieren? Sie sind nicht länger meine Sklavin. Es ist vorbei. Sie können gehen.“
Die Realität seiner Worte sickerte nur langsam in ihr Gehirn: „Heißt das … heißt das, er ist … tot?“
Mit einem Augenrollen ließ Snape sich in seinen Sessel vor dem Kamin sinken: „Natürlich heißt es das. Würde ich Sie sonst gehen lassen? Ist Ihnen der letzte Rest Ihres Verstandes abhandengekommen in der Zeit, die ich weg war?“
Ginnys Knie gaben nach. Unbeholfen fiel sie zurück auf das Sofa. Voldemort war tot. Tot. Der Schrecken hatte ein Ende. Ein halbes Jahr hatte es gedauert, doch nun war es wirklich und endgültig vorbei.
Sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu sammeln. Was sollte sie nun tun? Wohin sollte sie gehen? Wer lebte überhaupt noch? Ihr Herz fing plötzlich schmerzhaft in ihrer Brust an zu schlagen: „Wo … wo ist meine Familie?“
Snape schwieg. Mit geschlossenen Augen, den Kopf zurückgelehnt, hing er mehr in seinem Sessel, als dass er saß. Er wirkte uralt in diesem Moment. Uralt und müde. Doch Ginny ließ nicht locker: „Wo sind meine Eltern? Und meine Brüder?“
„Tot“, erwiderte er kurz angebunden, ohne sie auch nur anzusehen: „Bis auf Ihren ältesten, William. Scheint, als hätte sein Werwolf-Blut ihm geholfen, die Folter seiner Besitzer zu überstehen.“
Krampfhaft schluckte Ginny. Sie durfte nicht weinen. Sie würde später trauern. Zuerst musste sie noch mehr wissen: „Und Sie? Wenn er tot ist und alle Sklaven befreit werden, wieso laufen Sie dann noch frei rum? Sie waren immerhin seine rechte Hand.“
Endlich öffnete Snape wieder seine Augen. Sie waren pechschwarz und unergründlich, wie sie es aus ihren Jahren als seine Schülerin kannte. Seine Stimme klang dunkel, aber entbehrte jeglicher Gefühle: „Ich habe den Todesfluch gegen unseren Lord gesprochen. Wenn die Zeit kommt, wird ein Gericht entscheiden, ob mich das von meinen Verbrechen reinwäscht, oder ob ich, wie alle anderen Todesser auch, nach Azkaban gehöre.“
Wieder war Ginny sprachlos. Er hatte Voldemort getötet? Ausgerechnet Severus Snape? Was war er, der Königsmörder? Erst Dumbledore, nun Voldemort? Auf wessen Seite stand er eigentlich?
„Ich sehe Ihnen Ihre tausend Fragen förmlich an“, unterbrach Snape ihre wirren Gedanken: „Ich sage es Ihnen daher gleich: Ich bin nicht in der Stimmung für eine Geschichtsstunde. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie Ihre Freundin Miss Granger. Sie befindet sich noch bei Lucius Malfoy. Benutzen Sie den Kamin in meinem Arbeitszimmer, er ist direkt mit einem Kamin in der Villa verbunden.“
Hermine war noch bei den Malfoys? Warum? Sie war doch gewiss genauso frei wie sie selbst. Oder blieb sie aus freien Stücken bei jener Familie, die sie als Sklavin gehalten hatte? Unsicher erhob Ginny sich vom Sofa. Es war offensichtlich, dass Snape nicht mehr zu der Sache sagen würde. Begriff er nicht, wie unfassbar und bizarr die ganze Situation für sie war? Resigniert zuckte sie mit den Schultern. Selbst wenn er es begriff, es war ihm vermutlich vollkommen egal.
Ein Lächeln huschte über Ginnys Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie über das Kaminnetzwerk plötzlich bei den Malfoys im Haus gestanden hatte. Hermine war ihr freudenstrahlend um den Hals gefallen und sogar der alte Malfoy hatte ein kurzes Lächeln für sie übrig. Und wie Snape es gesagt hatte, erzählte Hermine ihr nur zu gerne, was in er Zwischenzeit passiert war.
„Hey, du Träumerin“, riss Bill sie aus ihrer Erinnerung: „Soll ich die Pflanzen etwa alleine eingraben?“
„Nein, nein“, beeilte sie sich zu versichern, „ich bin ja schon da.“
Schweigend, noch immer gleichermaßen von Trauer überschattet, bepflanzten sie gemeinsam die vielen Beete. Auch hier waren einige leer, da mehrere Todesser es ihrem Anführer gleichgetan und die Körper zu Asche verwandelt hatten, doch der Gedanke zählte. Obwohl erneut Tränen über ihre Wangen flossen, gab es Ginny doch eine gewisse Befriedigung, dass die Gräber sich in ein wunderschönes, blühendes Meer verwandelten. Ein Wärmezauber würde dafür sorgen, dass die Blumen bis zum Frühling überlebten.
Noch wusste sie nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Bill würde das Haus übernehmen und mit Fleur zusammen leben, sobald sie aus Frankreich zurückgekehrt war. Auch sie hatte die Gefangenschaft überlebt, auch sie hatte es sofort zu ihrer Familie gezogen. Bis Fleur zurückkehrte, würde Ginny bei Bill im Fuchsbau bleiben. Danach …
„Meinst du, ich sollte nach Hogwarts zurück?“, fragte sie Bill, während sie gemeinsam zum Haus zurückgingen.
„Unbedingt“, nickte ihr Bruder: „Es mag ein wenig komisch wirken, wenn ich das sage, nach dem Krieg und allem, aber ich glaube, es ist wichtig, dass du die Schule richtig beendest. Viel von dem, was ich heute wirklich nützlich finde, habe ich erst im siebten Jahr gelernt. Da geht es um mehr als den Abschluss selbst.“
Der Gedanke, ohne ihre Brüder, ohne Harry und vermutlich auch ohne die meisten ihrer Klassenkameraden nach Hogwarts zurückzukehren, wirkte merkwürdig fremd auf Ginny. Doch sie verstand ihren Bruder. Sie wollte mehr lernen, sie wollte so viel Magie wie möglich beherrschen, damit sie auch in Zukunft für alles gewappnet war, was das Schicksal in ihren Weg stellen würde.
Mit glänzenden Augen schaute Ginny zum Dach des Fuchsbaus hinauf. Der Schnee hatte das Haus mit einer dicken Schicht Puderzucker überzogen, alles wirkte still und friedlich. Die Natur ließ sich von den Wirrungen des letzten halben Jahres nicht aus dem Takt bringen. Alles ging seinen gewohnten Gang. Schnee zum Jahreswechsel, wie es sich gehörte.
Zuversichtlich lächelte Ginny zum Himmel hinauf. Die Trauer war schmerzhaft und würde es noch lange bleiben. Doch sie, die Zaubererwelt von England, hatten den Terror überlebt. Die Zukunft würde besser werden. Sie würde weiterleben, glücklich werden und die Welt verändern. Das war sie all jenen, die im Kampf gegen Voldemort gestorben waren, schuldig.