Hinweis: Inspiriert von "All That I Have" von Dúné. Es lohnt sich das Lied dazu einmal zu hören. http://www.youtube.com/watch?v=eEf6HORudQU
Sascha erwachte Schweiß gebadet in seinem kleinen Zimmer, obwohl es nicht einmal sehr warm war. Es musste mitten in der Nacht sein, denn es war stockfinster vor seinem Fenster und das einzige Licht kam von dem Lämpchen an seinem Computerbildschirm. Seufzend blieb er mit offenen Augen liegen, leicht zitternd. Wieder dieser Traum. Es kam nicht mehr sehr oft vor, dass er ihn träumte, doch manchmal tauchte er wieder und wieder auf, bevor er monatelang verschwand. Jedes Mal war es das Gleiche.
Er stand im Wohnzimmer seines Elternhauses, konnte fast den muffigen Geruch riechen, genauso wie den kalten Zigarettenrauch der in der Luft hing. Es hatte Jahre gedauert bis seine Mutter, seinem Vater verboten hatte hier zu rauchen. Seine Mutter, seine Großmutter, seine große Schwester und er standen im Kreis und es wurde aufgeregt diskutiert. Die Worte konnte er nicht verstehen, er war wieder fünf und wusste nicht genau worum es ging. Nur das es um ihn ging, das verstand er sehr wohl. Die Spannung zwischen den beiden älteren Frauen war greifbar und dann kam er, der Satz der sein Leben geprägt hatte. Sascha sah seine Großmutter den Mund öffnen, einen mitleidigen Blick auf ihn, das Wort aber an seine Mutter gerichtet. "Ach Iris... nun lass den Kleinen doch mal. Er ist doch nun einmal da." Die Worte tropften wie Pech durch sein Gehirn. Sechs Worte die alles erklärten was er jemals gefühlt hatte. Er war nicht gewollt gewesen. Das Letzte was er dann noch mitbekam, war seine Schwester die sich wütend einmischte, ihn verteidigte. Doch von ihrem Gebrüll wachte er meistens auf.
Nachdem Sascha es geschafft hatte sich aufzusetzen, griff er nach der Fernbedienung für seine Anlage und drückte einfach auf Play. Die Musik gab ihm Halt und sprach ihm wie so oft aus der Seele. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er trotz des Traumes fast 10 Stunden durchgeschlafen hatte. Es war zum verrückt werden, entweder schlief er zu viel oder zu wenig. Nicht das es für sein tägliches Leben wichtig gewesen wäre, morgens taufrisch aus dem Bett zu springen. Doch er bemühte sich um einen Tagesrhythmus. Mit einer fahrigen Geste zog er sich das feuchte Shirt aus, nahm seine Zigaretten und öffnete das Fenster. Seine Mitbewohner mochten es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wurde, doch er hatte jetzt einfach keine Lust bis unten vor die Tür zu gehen. Die kalte Nachtluft brachte den Geruch von Schnee, auch wenn noch keiner zu sehen war. Es war Winter und die schlimmste Zeit des Jahres hatte begonnen: Weihnachten.
Später am Tag wurde ihm etwas bewusst. Dieses Jahr war besonders schlimm. Nicht nur dass er die besinnliche Stimmung kaum ertragen konnte, es war auch das erste Jahr, das er ohne seinen besten Freund verbringen musste. Nicolas war vor 10 Monaten weggezogen und hatte ihn in der Kleinstadt allein gelassen. Natürlich hatten sie weiterhin Kontakt gehalten, doch es lagen so viele Kilometer zwischen ihnen, dass sie sich bisher nicht wieder gesehen hatten. Nico war ein Mensch, der einen immer mitreißen konnte, egal was geschah. Mit beiden Beinen auf dem Boden, mit einer ganz eigenen Welt die so bunt und farbenprächtig war, dass es Sascha aus seiner eigenen grauen Suppe herausreißen konnte, wenn er sich in sie hinein wagte. Er hatte auf alles eine Antwort gehabt und ihn vervollständigt. Sascha schüttelte den Kopf während er sich den Weg durch die Fußgängerzone bahnte. In seinem eigenen Gehirn klang es wie eine Liebeserklärung, doch es war keine oder naja vielleicht doch, aber nicht im normalen Sinn. Es war eine Liebeserklärung an den besten Freund den er je hatte.
Die Weihnachtsmusik sprang ihn von allen Seiten an, der Geruch nach gebrannten Mandeln setzte sich hartnäckig in seinen braunen schulterlangen Haaren fest. Den Mantel fest um sich gewickelt, eilte er so schnell es ging weiter. Er hatte schon einmal einen Termin bei seinem Therapeuten verpasst und musste dafür zahlen. Im wörtlichen Sinne als Geldstrafe, genauso wie mit einem Stapel an Hausaufgaben. Er sah sich auf dem Weg nicht um, er wollte weder die fröhlichen Gesichter sehen, noch die hektischen, die so wenige Tage vor Weihnachten noch Geschenke suchten.
Eine Stunde später war er bereits wieder aus dem Gebäude heraus und mit dem Nerven ziemlich am Ende. Die Sitzungen zerrten immer wieder an ihm und dass er allein damit war, machte es nur schlimmer. Der Gedanke wieder durch die volle Innenstadt zu müssen machte ihn wahnsinnig. So entschied er sich einen Umweg zu nehmen. Es würde ihn wahrscheinlich eine halbe Stunde kosten, doch das nahm er in Kauf. So schlug Sascha die entgegengesetzte Richtung ein, zum Flussufer. Hier musste er einige Zeit am Wasser entlang gehen bis er zu einer Brücke kam, aber er hatte seine Ruhe. Vor allem heute wo es angefangen hatte zu schneien und es bereits dunkel wurde, waren hier nur wenige Spaziergänger mit ihrem Hund oder Kinderwagen unterwegs. Manchmal fanden hier am breiten Uferweg Feste statt, doch nicht zu dieser Jahreszeit. Früher war er oft mit Nicolas diesen Weg gegangen, hatte auf der Bank gesessen oder direkt am Ufer wo es möglich war. Selbst an einem so düsteren Tag konnte er dafür sorgen, dass die Sonne schien, wenn auch nur in Saschas Inneren. Erschöpft ließ er sich auf eine der Bänke fallen, dass es furchtbar kalt und nass an seinem Hintern wurde, war ihm egal. Mit kalten Fingern zündete sich eine Zigarette an und sah er in den Himmel.
Erst als ihm bewusst wurde, wie viele Zigarettenstummel bereits vor seinen Füßen lagen, wurde ihm klar wie lange er schon beinahe regungslos auf der Bank gesessen hatte. Aber nicht die Kälte oder der Schnee, der nun bereits so viel war das er liegen blieb, hatten seine Aufmerksamkeit geweckt. Unter einer Laterne ein Stück weiter standen drei Männer und sahen zu ihm rüber. Wie lange wusste er nicht, doch er bekam eine Gänsehaut. Den Grund wusste er selbst nicht genau, sie standen schließlich einfach nur da. Aber die Körperhaltung, die dunkle Kleidung und die Art wie sie miteinander lachten und immer wieder zu ihm sahen machte ihm Angst.
Es stellt sich schnell heraus, dass seine Sorgen nicht unbegründet waren. Noch bevor er richtig reagieren konnte, waren sie bei ihm. Er wollte sich einreden, dass er nur so langsam reagiert, weil er steifgefroren war. Die Wahrheit war eine andere, er hatte zu viel Angst oder vielleicht war es ihm sogar egal. Es wurden Worte an ihn gerichtet, die er ignorierte. Es ging um Geld und Beleidigungen, um Zigaretten und großspurige Sprüche mit denen sie sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Saschas Passivität lies sie scheinbar noch wütender werden, bis er den ersten Schlag spürte. Es war etwas mehr als eine Ohrfeige, nichts weltbewegendes, doch nur der Anfang. Sie schubsten ihn von der Bank, traten einfach auf ihn ein und er ließ es mit sich machen. Ein Tritt in die Magengrube und eine ausgedrückte Zigarette in seinem Nacken, waren das Finale bevor sie mit seinem Geld verschwanden. Sie würden nicht viel Freude mit dem Wenigen haben, das sich in seinem Portemonnaie befand. Sascha blieb einen Moment liegen, bevor er sich stöhnen und leicht blutend auf die Beine kämpfte. Niemand schien die Szene beobachtet zu haben und auch seine Schreie schien niemand gehört zu haben. Vielleicht wollte sie auch niemand hören. Tränen wollte er sich nicht zugestehen, doch er fühlte sich, als wäre er in Stücke zerrissen.
Mit Schmerzen in so ziemlich jedem Teil seines Körpers und durchgefrorenen Füßen, hatte er den Weg bis zu seiner Wohnung hinter sich gebracht. Nur noch 100 Meter trennten ihn von einem warmen und sicheren Ort. Jedenfalls für seinen Körper, denn er war sich bewusst, dass dies der absolute Tiefpunkt war. Er hatte sich wehrlos verprügeln lassen, hatte nicht versucht wegzulaufen. Warum auch? Er wusste ja nicht einmal genau, warum er auf der Welt war und was der Sinn seines Leben war. Seine Welt war grau und niemand war mehr da, der seine dunklen Gedanken verbannen konnte und Antworten für ihn hatte. Endlich vor der Tür angekommen, stellte er fest, dass die Mistkerle ihm immerhin seinen Schlüssel gelassen hatten.
Als er den Blick hob und gerade an die Tür herantreten wollte, sah er dass er nicht allein war. Auf den vier Stufen, die durch eine kleine Überdachung schneefrei waren, saß er. Seine blonden Haare kürzer geschnitten als er es in Erinnerung hatte, die Haut etwas mehr gebräunt als früher. Doch die wachen grünen Augen waren die Gleichen. Für Sascha war es wie ein Traum. Der andere Mann stand auf, große Besorgnis stand in seinem Blick. Ohne Worte besah er sich die Wunden die offen zu erkennen waren und schüttelte den Kopf. "Dich kann man nicht allein lassen oder?" Nicolas Stimme war sanft und beruhigend. "Ich habe mich nicht gewehrt", entgegnete Sascha ebenso leise. "Ich brauche dich, damit ich das vergessen kann." Die Frage woher er so plötzlich kam, war egal. Er war da. Nico nickte langsam. "Ich bin dein bester Freund." Sascha lächelte schief, mit seiner aufgesprungenen Lippe und dem langsam verfärbten Auge sah es mehr als merkwürdig aus. "Ich weiß, du bist alles was ich habe und brauche."