…Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser…
[die Bibel- Genesis 1,1-29 (Die Erschaffung der Welt)]
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-Lauf!-
-Wohin, Dylan?! Wohin?! Gibt es denn einen Ort, an dem ich sicher bin? Gibt es einen Ort? Dylan…
Über den silbrigen Dächern der Stadt graut der Morgen…erinnerst du dich an das Licht? Weißt du noch, wie es sich anfühlt? Spürst du die Hitze?
Ich vermisse dich! Ich vermisse dich, Dylan! Du bist doch alles, was ich besitze. Und dieses Schweigen ist unerträglich.
Ich will nicht sterben, Dylan! Ich will nicht sterben!
Ich liebe dich, mein Bruder…-
Er schrieb die Worte mit nachtblauer Tinte. Sie verschwammen zu einer Einheit. Seine Hand zitterte.
Heiße Tränen traten ihm in die Augen, als er sich deren Bedeutung bewusst wurde; er riss die Hand weg, warf sich auf das Bett des Bruders und vergrub das Gesicht in den Kissen.
Was, wenn er sich täuschte. Wenn Dylan ihn verriet, so wie er es schon allzu oft getan hatte. Er liebte ihn, darüber war er sich im Klaren. Er liebte ihn, obwohl er ihm schon so viel Schmerz bereitet hatte. Obwohl Dylan ihn angelogen hatte. Angelogen, als er fragte, ob alles in Ordnung sei. Angelogen, als er ihn fragte, ob er glücklich sei. Lügner! Und er selbst war ein verdammter Masochist!
Und er fragte sich, ob das, was der Bruder für ihn empfand auch nur eine Lüge war. Ein Vortäuschen falscher Tatsachen.
Die Hände zu Fäusten geballt, gruben sich die Fingernägel immer tiefer ins Fleisch, bis er etwas Warmes, Feuchtes an den Handinnenflächen spüren konnte. Und er betrachtete das Blut, das den Kissenbezug des Bruders befleckte, mit einer Mischung aus Überraschung und Ekel, getränkt mit Abscheu.
Und er stieß einen heiseren Schrei aus, der von den Wänden widerzuhallen schien, als wäre ihm soeben bewusst geworden, dass es keinen Ort gab. Nicht für ihn. Nicht sicher genug.
Es gab keinen Ort, an den er sich flüchten konnte. Nicht in dieser Welt.
Er schluchzte auf. Die Tränen verklebten ihm die Augen und sein Gesicht begann zu glühen.
Und in diesem Moment war da nur noch Hass. Hass auf den Bruder, der ihn allein gelassen hatte, obwohl er versprochen hatte, ihn für immer zu beschützen. Damals- als sie sich noch ein Bett teilten und auch alle Geheimnisse.
Er fühlte sich verraten. Verraten vom eigenen Bruder. Und diese Gewissheit, deren er sich so sicher war, schmerzte ihn. Und plötzlich wurde er sich eines schrecklichen Geheimnisses bewusst.
„Du hast deine Seele verkauft, Dylan…schon vor so vielen Jahren…und meine mit ihr.“ Seine Worte, nicht mehr als ein Flüstern. Ein Windhauch- nicht mehr.
Kaum hatte er die Worte gesprochen, so erbebte die Menschheit und alles, was sie geschaffen hatte, mit ihr. Und Tag wurde Nacht und Nacht wurde Tag…
Er stürzte zum Fenster und betrachtete mit vor Schrecken geweiteten Augen, wie die Welt aus den Fugen geriet und jede Ordnung, und Vertrauen und all die Hoffnung…wie Gebäude, Menschen und alles Getier, in sich zusammenfiel.
Das Fensterglas zerbarst und schnitt ihm tief in die helle Haut.
Die Sonne stand wie ein glühend roter Feuerball am Horizont. Ihre Strahlen, die Vorboten des anbrechenden Tages, tauchten das Schauspiel in das Blut des Himmels. Das Tosen um ihn zerschnitt ihm beinahe das Gehör. Er presste sich die Hände auf die Ohren- das zerberstende Metall, das splitternde Glas…die Schreie hallten in seinem Kopf wider.
Und seine Welt zerfiel, bis sie wieder den Anfängen glich...und er fiel in tiefe Schwärze.