Die beiden hatten unter Würgen und Drängen schließlich die Mall verlassen, die Einkäufe in den Wagen gebracht und sich anschließend von dem Navigationssystem auf Garretts Handy zu einem netten italienischen Restaurant lotsen lassen, in dem sie sich gefühlt einmal quer durch die Karte gefuttert hatten.
Der junge Mann lehnte sich irgendwann schnaufend an seinen Stuhl und schob den Teller, auf dem noch ein halbes Stück Käsepizza lag, von sich, die Wangen gerötet und verstohlen aufstoßend. Der Vampir griff sich ungerührt den Pizzarest vom Teller seines Freundes und schob ihn sich zwischen die Zähne.
»Du hast so großen Appetit. Das Schafsblut scheint deinen Hunger nicht zu stillen, hm?«
Henry schüttelte nur leicht den Kopf. Wenn er etwas nicht mochte, dann half es ihm auch nicht wirklich, da blockierte ihn sein Kopf. Und der Unsterbliche hatte das Blut von Schafen schon immer gehasst. Ihm wäre Wild deutlich lieber. Oder eine Kuh. Oder auch ein Mensch. Nicht die blökenden Wölkchen auf vier Beinen.
»Möchtest du heute Abend etwas von mir haben?«
»Ich komm’ zurecht«, nuschelte der Vampir und schob sich ein Stück beinahe ganz in den Mund.
»Henry!«
Er schluckte krampfhaft und klopfte sich auf die Brust. »Okay, okay. Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee. Sonst geht unsere gesamte Reisekasse für Fressalien drauf.«
»Gut. Du bist gefährlich, wenn du so hungrig bist. Nicht dass dir mal die Sicherung durchbrennt.«
Der Unsterbliche zwinkerte. »Fürchtest du dich vor mir?«
»Nicht um meinetwillen. Ich will aber auch nicht, dass du jemandem den Kopf abreißt.«
Nachdem die letzten Krümel der großen Familienpizza weg waren und der deswegen verdatterte Kellner die benutzten Teller abräumte, kaute Henry auf einem Zahnstocher herum, während Garrett sich einen Verdauungsschnaps bestellte, sie zahlten und schließlich das Lokal verließen.
»Und jetzt? Willst du nach Dunmoor zurück? Es ist schon dunkel«, der Vampir sah auf die Uhr, »schon gleich Zehn. Wir fahren eineinhalb Stunden.«
»Bist du müde? Ich irgendwie gar nicht.«
Henry grinste. »Lust auf ne Pint?«
»Noch mehr essen und trinken?«
»Ist doch nur ein Bier. Essen musst du nix. Und mir macht es nichts aus, Alkohol wirkt doch eh nicht richtig bei mir.«
»Na gut ... warum nicht«, der junge Mann hakte sich unter, »was sollen wir jetzt schon zuhause und im Bett? Außer ...«, Garrett kicherte und Henry fing zu grinsen an.
Sie kehrten in einen urigen Pub ein, der eine angrenzende Tanzfläche hatte und wie ein rustikaler kleiner Nachtclub gestaltet war. Junge Leute amüsierten sich zu aktueller Musik und am Tresen hockten die üblichen traurigen Gestalten, die abends nichts Besseres zu tun hatten, als allein bei einem Glas Bier ins Leere zu starren. Im Hintergrund des Ladens lief die Übertragung eines Fußballspieles und einige Herren hatten sich an den Tischen davor eingefunden.
»Okay?« Der Vampir sah sich aufmerksam in der schummrigen Kneipe um und Garrett nickte. Ihm waren Pubs voller testosteronstrotzender Männer immer etwas suspekt. Er hatte als Homosexueller einfach schon zu oft negative Dinge zu hören bekommen von Leuten, die nicht einmal seinen Namen kannten. Und besonders von Personen, die ihre Freizeit mit so etwas ‚Männlichem’ wie dem Abhängen in einer Bar verbrachten.
Doch mit Henry an seiner Seite machte ihm all das keine Angst. Garrett wusste, wenn es hart auf hart käme, würde der Vampir jedem, der ihnen dumm kam, die Nase ins Hirn rammen.
Sie setzten sich in eine Nische an der Bar und der Wirt, ein dicker und gutmütig aussehender Bär mit einem rostroten Schnauzer, brachte ihnen umgehend zwei Gläser mit irischem Schwarzbier.
»Als ich noch ein Junge war, hab ich immer davon geträumt, irgendwann, wenn ich alt bin, mit meinen Schulfreunden von früher im Pub in Gatwick zu sitzen und über das Wetter, Fußball oder Kricket zu reden. Doch ich habe keine Freunde aus der Jugend zuhause. Diesen Traum kann ich wohl vergessen.« Garrett nippte an dem Glas und beobachtete die Menschen, die so unterschiedlich waren, dass es nicht zusammenpassen wollte. Und doch funktionierte es.
Die jungen Leute, die sich auf der Tanzfläche amüsierten, hielten sich ansonsten an den Stehtischen am Rand auf, während die depressiv wirkenden Feierabendtrinker an der Bar für sich waren. Zwei komplett verschiedene Welten.
»Dann gehen wir zusammen in den Pub, wenn du alt und grau bist.«
»Damit die Leute dich für meinen Sohn halten? Den ich genaugenommen gar nicht haben kann, weil ich nie etwas mit einer Frau hatte?« Der junge Mann lächelte leicht und leckte sich den Bierschaum von der Lippe.
»Steckt die depressive Aura der Vögel da drüben an, Schatz?«, schmunzelte Henry und strich über Garretts Rücken.
Dieser kicherte. »Nein. Das sind nur Dinge, über die ich hin und wieder nachdenke. Alles, was normale Leute so machen. Vielleicht ist es die neue Zeit, aber die alten Männer, die ich heute bei Ol‘ Flannigan‘s hocken sehe, die kannten sich seit der Schule. Ich werde nie so dort sitzen. Denn ich hatte in der Schule keine Freunde.«
»Aber du hast inzwischen welche. Mach dir nicht so viele Sorgen. Und es wird nicht eines Tages so sein, dass du alt bist und die Menschen denken werden, dass du eine verquere Beziehung zu einem jungen Mann hast. Ich werde für alle anderen zusammen mit dir alt werden, denn ich kann die Leute sehen lassen, was ich will. Doch für dich bleibe ich der, der ich heute bin. So wie du für mich immer der Junge bleiben wirst, den ich damals kennengelernt habe.«
»Hoffentlich nicht mehr ganz so stur und naiv«, kicherte Garrett und lehnte sich einen Moment an Henry.
»Nein, das nicht.«
Sie leerten ihre Gläser und der Unsterbliche ließ sich anschließend etwas widerwillig von seinem Freund auf die Tanzfläche ziehen.
»Komm, ich bin so vollgefressen, ich muss mich ein bisschen bewegen, sonst bekomme ich nachher Alpträume. Und ich glaube, dass ich, wenn wir zuhause sind, zu müde sein werde, um das ... anderweitig zu tun. Also muss es jetzt sein.«
Henry grinste. »Aber ich bin es nicht. Ich bekomm’ dich schon wieder munter.«
Garrett griff nach seinen Händen. »Bitte. Ich weiß, dass du gern tanzt.«
»Gesellschaftstänze, Schatz. Keinen Discofox.«
»Aber du kannst es. Beweg’ dich, das finde ich sexy.«
»Gibt es etwas, das du nicht sexy findest an mir?«
Der junge Mann lachte los. »Zehennägel schneiden.«
Henry feixte und ließ sich von seinem Freund in eine schwindelerregende Zappelei verwickeln, die rasch dazu führte, dass Garrett wieder rote Wangen bekam und sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten.
Irgendwann, nachdem sich die Tanzfläche wieder etwas gefüllt hatte, schien er genug zu haben und lehnte sich schnaufend an den Unsterblichen.
»Ich geh’ mal aufs Klo. Dann könnten wir entweder noch ein Glas trinken oder nach Hause fahren, wie du willst ...«
Henry nickte ihm zu und kehrte an ihren Platz in der Nische zurück, während der junge Mann sich zu den Toiletten durchboxte.
»Ich hätte nicht gedacht, ausgerechnet dich hier wiederzusehen, Dionysos«, erklang eine urtümlich vertraute und doch ungewohnte Stimme hinter Henry, der gerade den Wirt um zwei Gläser Cola gebeten hatte, damit Garrett sich erfrischen konnte, wenn er wieder kam.
Der Sprecher hatte einen schweren, trägen irischen Akzent, wie ihn die Menschen im Süden des Landes, in Cork oder Killarney, hatten.
Es lief dem Angesprochenen eiskalt den Rücken hinunter, als er den Namen hörte, den er seit vier Jahren nicht mehr benutzt hatte. Er hatte gehofft, um nicht zu sagen gebetet, niemanden aus seiner Vergangenheit wiederzutreffen, solange er mit Garrett hier im Urlaub war. Das letzte Mal, dass er einen ‚alten Freund’ getroffen hatte, hätte es sie beide beinahe das Leben gekostet und er, Henry, wusste nicht, ob er ein weiteres Wiedersehen mit einem Freund von früher überleben würde.
Mit steifem Rücken und gespannten Nerven wandte er sich um. Die leichte Stimmung, die ihn während des Tanzens mit Garrett noch erfüllt hatte, war verflogen. Nun war er wieder der, der er immer gewesen war - der Vampir, immer auf der Hut, bereit sich zu verteidigen, misstrauisch und verschlossen.
Henry musterte den dunkelblonden Mann, der ihn angesprochen hatte, argwöhnisch. Dessen herrisches Gesicht mit den vollen, hochmütig wirkenden Lippen und kühlen Augen reizte etwas in seinem Gehirn, bis es schließlich ‚Klick’ machte und er sein übliches raubtierhaftes Schmunzeln auflegte.
»Lawrence Donnchadh. Ich dachte, dich hätte längst jemand um die Ecke gebracht.«
»Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte von dir nicht das Gleiche gedacht. Was treibt dich nach Irland? Sehnsucht nach der Heimat?« Die hellen Eisaugen des Vampirs nahmen nur zu deutlich wahr, dass Henry zwei Gläser neben sich stehen hatte und zählte Eins und Eins zusammen.
»Oh, hast du dir einen Gefährten geschaffen? Oder ein kleines Spielzeug?«
Der Angesprochene biss unmerklich die Zähne aufeinander. Genau das hatte er vermeiden wollen. Er wollte nicht, dass Garrett mit anderen Blutsaugern in Kontakt kam. Und besonders nicht mit einem wie Donnchadh, den Henry als einen miesen Schweinehund in Erinnerung hatte.
»Nein«, knurrte er dunkel und fluchte innerlich, als Garrett an der Bar auftauchte und zu den beiden herüber kam. Der junge Mann sah ein wenig verwundert zwischen ihnen hin und her und wandte sich schließlich an Henry.
»Ein Freund von dir?«
Bevor der Vampir antworten konnte, ergriff der Fremde das Wort und Garretts Hand, um sie zu schütteln. Während der Mann lächelte, offenbarte er seine Fänge, was bei dem jungen Mann eine leichte Gänsehaut verursachte.
»Darf ich mich vorstellen? Ich bin Donnchadh, Lawrence Donnchadh, aus Killarney. Aber jeder nennt mich Don.«
»S-sehr erfreut«, presste Garrett heraus. Wie schon damals machte es ihm eine Heidenangst, einem Vampir zu begegnen. Henry und seine Freunde waren die Einzigen, vor denen er sich niemals gefürchtet hatte. Doch bei jedem anderen setzte der instinktive Fluchtreflex fast augenblicklich ein, sobald er die Fangzähne zu Gesicht bekam.
Henry, der die Unruhe seines Partners spürte, legte seine Hand auf die Garretts, die noch immer von Don umklammert war und unterbrach so das Begrüßungsritual. Der Unsterbliche musste sich zusammenreißen, um nicht feindselig zu knurren. Er hasste es, wenn jemand anders, besonders ein anderer Mann, seinen Freund anfasste und diesem damit ein ungutes Gefühl gab.
Don erkannte diese Handlung genau als das, was sie im Grunde auch war - eine Demonstration, dass Garrett zu Henry gehörte und dieser es nicht duldete, dass jemand seinen Gefährten berührte. Der Territorialismus der Vampire bezog sich nicht nur auf Futtergebiete, sondern auch auf Lebens-, Blut- und Sexualpartner.
»Setz’ dich und trink’ etwas. Wir brechen gleich auf«, sprach Henry leise und der junge Mann nickte nur, froh, nicht mehr direkt neben dem dunkelblonden Vampir aus Killarney stehen zu müssen, dessen Augen so blau und kalt wirkten, dass es ihn frösteln ließ.
»Ein Mensch? Das überrascht mich aber, Dionysos. Ich erinnere mich an früher, wo du mit Freuden Jagd auf sie gemacht hast. Weißt du noch?«
»Ich habe die Zeit in Dublin nicht vergessen, Don.«
Donnchadh schob sich auf einen der Barhocker und bestellte sich einen Drink, während Garrett noch immer zwischen den beiden hin und her blickte.
Wieder eine Geschichte aus der Vergangenheit Dionysos’. Obgleich es den jungen Mann faszinierte, auch die bösen und blutrünstigen Dinge über seinen Freund zu erfahren, hatte er wenig Lust, dabei auf alte Weggefährten zu treffen. Besonders nicht, wenn sich vielleicht noch herausstellte, dass Henry früher einmal mit denen im Bett gewesen war oder dergleichen. Solche Dinge quälten Garrett, obwohl er wusste, dass kein Grund zur Sorge bestand. Er wollte einfach nichts davon wissen.
»Du stehst also immernoch auf Männer«, kicherte Don und zwinkerte Henry zu, der nur an der Cola nippte und die Augen verdrehte.
»Offensichtlich.«
»Und der Kleine da weiß Bescheid, was du bist? Wir sind?«
Garrett verzog das Gesicht über die Bemerkung. Er war neunundzwanzig Jahre alt. Mit welchem Recht nahmen sich Blutsauger, egal wie alt sie sein mochten, heraus, einen erwachsenen Menschen so zu bezeichnen?
»Ich weiß genug«, knurrte er deswegen und schaute böse.
»Oh, ist das so? Hat er dir auch erzählt, dass er mich damals beschissen hat? Dass er mich verrecken lassen wollte, um seine eigene Haut zu retten? Dass er davongelaufen ist wie ein ehrloser Feigling? Nein? Oh ... dann weißt du wohl doch nicht alles.«