Mit einem Stöhnen streckte Hermine sich – Mitternacht war gerade vorbei und sie hatte endlich das letzte der vielen Bücher katalogisiert. Ihr Körper meldete sich deutlich, dass er dringend Schlaf brauchte, doch sie zögerte. Hier in der Bibliothek war Draco Malfoy nicht erschienen, aber wer wusste, ob er ihr nicht vielleicht vor ihrem Kabuff auflauerte. Sie verfluchte sich für ihre Angst, doch abstellen konnte sie diese dennoch nicht. Seit Monaten lebte sie nun schon mit der Gewissheit, dass ihr Malfoy irgendwann etwas antun würde – und spätestens seit sie ihre Jungfräulichkeit und damit den fragilen Schutz von Lucius Malfoy an Snape verloren hatte, gab es keine Barriere mehr.
Der September näherte sich dem Ende und wie es typisch für die Insel war, zeigte sich das Wetter von seiner schlechtesten Seite. Es kam einem Wunder gleich, dass sie nicht erfroren war. Hermine war sich sicher, dass es Draco Malfoy gewesen war, der sich diesen fiesen Plan ausgedacht hatte – es war eine so subtile Art von Gewalt und Bedrohung, wie sie sie von ihm gewohnt war. Nichts wirklich tun, sondern die Situation für sich selbst wirken lassen, darin war er wahrlich ein Meister.
Seufzend erhob sie sich. Es brachte nichts, noch länger in der Bibliothek zu verweilen, ihr Körper brauchte Schlaf. Vielleicht war Malfoy des Wartens bereits müde geworden und sie konnte ungestört zu ihrem Bett gelangen. Zögerlich öffnete sie die schwere Tür.
„Das wurde aber auch Zeit!“, begrüßte sie die kalte Stimme ihres Alptraums. Er hatte tatsächlich all die Stunden vor der Tür gewartet, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Allein diese Tatsache ließ Hermine eine Gänsehaut über den Rücken laufen – die Möglichkeit, ihr endlich all das antun zu können, was er zuvor nur angedeutet hatte, schien Draco Malfoy unwahrscheinlich wichtig zu sein. Wenn er nicht etwas wirklich Grausames für sie ausgeheckt hatte, wäre es diesen Aufwand sicherlich nicht wert gewesen. Wie angewurzelt stand Hermine im Eingang.
„Komm, Liebes“, flüsterte er zärtlich, während er seine Hand fest um ihren Arm schloss, „die Nacht ist schon weit voran geschritten und wir wollen uns doch so viel wie möglich gemeinsam amüsieren.“
Mit diesen Worten zog er sie aus der Bibliothek den Gang entlang. Es dauerte einige Sekunden, ehe Hermine aus ihrer Erstarrung erwachte, doch dann kämpfte sie mit aller Kraft gegen den jungen Mann an. Draco hatte für ihre Bemühungen nur ein leichtes Lächeln übrig.
„Aber, aber, mein Herz. Wer wird sich denn zieren?“, kommentierte er süßlich, ehe er mit eiskalter Stimme anfügte: „Je mehr du kämpfst, umso unangenehmer wird das hier für dich. Es sollte dir nur Recht sein, dass nicht nur mein Vater und Snape auf dich stehen, sondern ein weiterer Todesser bereit ist, dich zu akzeptieren. Du bettelst doch geradezu darum, dich mit den hohen Herrschaften gut zu stellen – und das einzige, was du anzubieten hast, ist dein Körper.“
Entsetzt über das, was Draco mit seinen Worten andeutete, trat sie nach ihm, doch er wich gekonnt aus. Schweigend zerrte er sie weiter durch die nur schwach erleuchteten Gänge und ignorierte all ihre Versuche, sich loszureißen. Ihr seit Monaten unterernährter Körper und die noch nicht vollständig auskurierte Krankheit verhinderten, dass Hermine auch nur annähernd genug Kraft für ernsthaften Widerstand hatte. Erschöpft folgte sie ihm schließlich ohne weitere Fluchtversuche.
Erst, als sie an dem elterlichen Schlafzimmer vorbeikamen, erwachte Hermines Kampfgeist wieder. Wenn sie genug Lärm verursachte, vielleicht würde Lucius Malfoy dann wach werden. Vielleicht würde er sie retten …
„Lass mich endlich los“, schrie sie ihn an, während sie erneut verzweifelt nach ihm trat und versuchte, seinen Arm zu zerkratzen. Zu ihrer Überraschung reagierte Draco diesmal auf ihre Tritte und Schläge. Unsanft packte er sie an beiden Armen und schob sie gegen die Wand.
„Schreist du in der Hoffnung, mein Vater wird dich retten?“, fragte er gefährlich leise, „Denkst du nicht, es ist für deine Ziele besser, so viele Todesser wie möglich um den Finger zu wickeln? Warum versuchst du es nicht bei mir auch?“
„Was geht in deinem kranken Hirn vor?“, spie Hermine angewidert, „Was für Pläne soll ich haben?“
„Wie lange willst du mich noch zum Narren halten? Wir hatten das schon oft genug und du solltest inzwischen wissen, dass ich weiß, dass du in die Gefolgschaft des Dunklen Lords wechseln willst!“
„Irgendwann im letzten Jahr scheinst du den Verstand verloren zu haben! Wie kannst du deine eigene Worte nur selbst glauben?“
„Welchen Grund solltest du sonst haben, dich bei Vater einzuschleimen?“
Ungläubig ob solch verdrehter Gedanken schüttelte Hermine nur den Kopf. Ihr verstohlener Blick auf die Tür nebenan bestätigte Draco in seinem Verdacht: Sie versuchte tatsächlich, seinen Vater auf sich aufmerksam zu machen.
„Du solltest klüger sein, Granger“, flüsterte er ihr leise ins Ohr, während er mit einer Hand ihren Mund bedeckte, „jeder Todesser mehr, für den du die Beine breit machst, kann dir beim Dunklen Lord helfen. Also, warum versuchst du nicht, mich mit deinen Verführungskünsten zu überzeugen? Bei meinem Vater scheinen sie ja Wunder gewirkt zu haben.“
Ehe Hermine darauf reagieren konnte, nahm Draco die Hand von ihr und drängte stattdessen seine Lippen auf ihren Mund. Der Kuss war hart und voller Hass, doch jeder Versuch von ihr, ihn zu unterbrechen, wurde von einer starken Hand verhindert. Dann ließ er von ihr ab, um stattdessen ihren Hals an eben jener Stelle zu küssen, an der Tage zuvor sein Vater ein dunkles Mal hinterlassen hatte. Wieder legte sich seine Hand über ihren Mund, um jeden Schrei im Ansatz zu ersticken. Nur ein leises Wimmern drang hindurch, als sie spürte, wie Draco begann, seine Hose aufzuknöpfen.
„Was geht denn hier vor sich?“, unterbrach sie plötzlich die dunkle Stimme des Hausherrn. Erleichtert seufzte Hermine auf, als sie Lucius Malfoy in der offenen Tür stehen sah, doch zu ihrer Verwirrung schien Draco nicht genervt, sondern zeigte vielmehr ein triumphierendes Grinsen.
„Ich dachte, ich amüsiere mich auch mal mit deinem Schlammblut, Vater!“, sagte er provozierend. Dieser schaute ihn nur kurz an, musterte schnell Hermine von oben bis unten, und erwiderte dann ungerührt: „Ja, schön. Aber bitte nicht vor meiner Tür, ich will hier schlafen. Dein Zimmer ist nur ein paar Meter weiter, bis dahin solltest du es schon noch schaffen.“
Mit diesen Worten verschwand Lucius Malfoy wieder in seinem Schlafzimmer. Vollkommen entsetzt schaute Hermine ihm nach – das hatte sie sich anders vorgestellt. Wo war der Lucius Malfoy hin, den sie vor ihrem Besuch bei Snape meinte entdeckt zu haben? Der so etwas wie Sorge und Rücksicht gezeigt hatte? Beinahe wirkte es so, als habe er jegliches Interesse an ihr verloren.
Oder hatte sie sich diese sanfte Seite an ihm nur eingebildet? Wut stieg in ihr auf. Er hatte mit ihr gespielt, genauso wie Draco mit ihrer Angst gespielt hatte. Fast wäre es ihm gelungen, sie für sich zu gewinnen, sie zu einem willigen Opfer zu machen – aber sein Verhalten jetzt öffnete ihr die Augen: Lucius Malfoy war trotz allem ein Todesser, der kein Mitgefühl für sie hatte.
Draco währenddessen schaute ebenfalls entsetzt drein. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er damit gerechnet, dass sein Vater wütend würde, dass Granger sich ihm an den Hals schmeißen würde, und er alleine auf sein Zimmer geschickt wurde. Als er nun jedoch ihren Blick sah, der voller Zorn und Hass auf die Zimmertür seines Vaters schaute, wurde ihm bewusst, dass er offensichtlich irgendetwas nicht verstanden hatte. Seufzend schloss er seine Hose wieder und schlenderte so unberührt wie möglich den Gang entlang zu seinem Zimmer.
„Du kannst gehen, Granger, ich hab genug für eine Nacht“, rief er ihr im Gehen zu, ohne sich jedoch noch einmal umzudrehen.
Vollkommen verwirrt blieb Hermine alleine zurück. Keiner der beiden Männer hatte sich so verhalten, wie sie es erwartet hätte. Und sie war sich nicht sicher, welche Reaktion ihr mehr Angst bereitete. Erschlagen schleppte sie sich schließlich zu ihrem Kabuff zurück und sank auf ihre Matratze.
oOoOoOo
Gerädert und vollkommen übermüdet stand Hermine in der Küche und schrubbte das Geschirr vom Frühstück. Die Hauselfen hatten die Küche bereits verlassen und waren mit Staub wischen und anderen häuslichen Tätigkeiten beschäftigt, so dass sie für einen Moment in Ruhe für sich alleine sein konnte. Die letzte Nacht steckte ihr noch in den Knochen. Wenn man ihr vor einem Jahr gesagt hätte, dass sie eines Tages nachts nicht schlafen konnte, weil sie panische Angst vor Draco Malfoy hatte, sie hätte nur gelacht. Der aggressive, aber gleichzeitig feige Malfoy zu Schulzeiten hatte sie beleidigt und gedemütigt, aber nie hatte er ihr Angst gemacht. Seit sie jedoch hier lebte – und insbesondere seit der letzten Nacht – war er es, der ihr Alpträume bereitete.
Ein leises Hüsteln hinter sich ließ Hermine sich umdrehen. Die Hausherrin stand mit einem milden Lächeln in der Tür.
„Wie ich sehe, hat Snape dich gesund gepflegt“, erzählte sie im Plauderton, „ist vermutlich kein Wunder, so viel Spaß, wie er mit dir hatte. Hast du ihn für seine Dienste anständig bezahlt?“
Immer noch lächelnd schritt Narzissa Malfoy auf Hermine zu, einen Arm hinterm Rücken versteckt, in der andere schlenkerte sie eine Schere. Unwillkürlich wich Hermine zurück. Mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht erinnerte die blonde Frau sie nur zu sehr an ihre verrückte Schwester. Irgendetwas stimmte hier nicht – die Freundlichkeit bereitete ihr Angst.
„Du musst doch vor mir nicht zurückweichen“, kommentierte die Frau, „ich möchte mir nur deine Wunden und Narben ansehen.“
„Welche Wunden? Ich bin nicht verletzt!“, fauchte Hermine ihr entgegen. Ein heiteres Lachen ertönte, doch sie sah, dass die Augen von Narzissa Malfoy eiskalt blieben. Vollkommen unvorbereitet sah Hermine, wie der hinterm Rücken versteckte Arm vorschoss, ihre Hand packte und mit der anderen ihr Ärmel hochgeschoben wurde.
„Ich meinte diese Narbe!“, erklärte die Hausherrin lächelnd, während sie mit der Spitze der Schere auf die vor wenigen Monaten eingeritzten Buchstaben „Schlammblut“ zeigte. Entsetzt zog Hermine die Luft ein. Noch zu gut erinnerte sie sich, wie sie ihm Wohnzimmer der Malfoys auf dem Boden gelegen hatte, wie Bellatrix Lestrange mit abstoßender Freude Buchstabe um Buchstabe in ihren Unterarm geschnitten hatte, so tief, dass eine hässliche Narbe zurück geblieben war. Der Schmerz hatte den des Crucio-Fluches nicht übertroffen, aber er war ihr viel lebhafter in Erinnerung geblieben. Mit aufgerissenen Augen starrte Hermine nun die Frau vor sich an, deren Gesicht inzwischen kein Lächeln mehr zeigte.
Ohne Vorwarnung fühlte Hermine sich wieder zu Boden gedrückt. Mit ihrem ganzen Gesicht hielt Narzissa Malfoy sie unten, während sie die Schere aufklappte und hämisch lachte: „Es sieht beinahe so aus, als hättest du das Andenken meiner Schwester vergessen. Komm, lass es mich auffrischen.“
Mit diesen Worten stach sie die Schere tief in den Arm. Hermine spürte, wie die Narbe aufbrach und stärker als je zuvor anfing zu bluten. Verzweifelt schrie sie und trat um sich, doch die Frau auf ihr ließ sich nicht beirren. Mit demselben irren, freudig erregten Ausdruck, den auch damals das Gesicht ihrer Schwester verunstaltet hatte, ritzte sie jeden Strich nach, bis schließlich das Wort „Schlammblut“ nicht mehr weiß, sondern rot und nass auf Hermines Arm prangte.
Schwer atmend stand Narzissa auf, blickte zufrieden auf Hermine hinab, während sie sorgfältig einen Reinigungszauber über ihre von Blut besudelte Kleidung sprach. Dann, ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, verschwand die Hausherrin aus der Küche. Schluchzend richtete Hermine sich auf, versuchte verzweifelt, den Schmerz mental zurückzudrängen, doch das dumpfe Pochen im Inneren und das scharfe Brennen auf dem Arm ließen sich nicht besiegen.
Mit letzter Kraft griff sie nach einem sauberen Handtuch, das sie auf die offene Wunde presste, während sie ein zweites Handtuch um den Arm wickelte, um so einen möglichst stabilen Druckverband zu improvisieren. Damals, als Bellatrix ihr zum ersten Mal den Arm aufgeschlitzt hatte, war sie kurz danach in der Lage gewesen, die Wunde magisch zu schließen. Es war trotzdem eine Narbe zurück geblieben, weil zu viele Stunden zwischen der Behandlung vergangen waren, aber immerhin war es schnell überstanden gewesen. Das hier, so war sich Hermine bewusst, würde ewig zum Heilen brauchen. Und wenn es sich entzündete, würde sie ihren Arm verlieren oder sterben.
Weinend sank sie an der Küchenwand runter. Gestern Morgen noch hatte sie sich zu Lucius Malfoy zurück gewünscht, hatte ihren Aufenthalt bei Snape verflucht. Doch wenn sie jetzt daran zurück dachte, hätte sie sich selbst schlagen können wir ihre Dummheit, den Zorn von Snape zu provozieren und ihren Besuch dort selbst zu verkürzen. Bei Snape hatte sie mit Ginny zusammen sein können. Bei Snape hatte sie anständiges Essen bekommen. Und ein heißes Bad. Hier war sie wieder vollkommen alleine, ohne jeden Rückhalt, nur auf die Gnade der drei Malfoys angewiesen.
Und alle drei hatten ihr seit gestern bewiesen, dass das Wort Gnade sicherlich nicht in ihrem Wortschatz vorkam.